SG Köln

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Zitieren als:
SG Köln, Urteil vom 03.12.2009 - S 31 SB 163/08 - asyl.net: M16725
https://www.asyl.net/rsdb/M16725
Leitsatz:

Anspruch eines geduldeten Irakers auf Feststellung einer Behinderung nach dem SGB IX (Schwerbehindertenausweis). Nach einem Aufenthalt von drei Jahren im Bundesgebiet, dessen Beendigung auf absehbare Zeit nicht zu erwarten ist, besteht zur Überzeugung der Kammer kein sachlicher Grund, Ausländer von Eingliederungsleistungen des SGB IX auszuschließen (mit Verweis auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 1.9.1999 - B 9 SB 1/99 R).

Schlagwörter: SGB IX, Schwerbehindertenausweis, Duldung, rechtmäßiger Aufenthalt, gewöhnlicher Aufenthalt, Sozialstaatsprinzip
Normen: SGB IX § 69 Abs. 1 S. 1, SGB IX § 2 Abs. 2, SGB I § 30 Abs. 3 S. 2, GG Art. 20 Abs. 1, GG Art. 28 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

[...]

Zunächst gehört der Kläger zu dem nach dem SGB IX geschützten und berechtigten Personenkreis. Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest, wenn der behinderte Mensch insoweit einen Antrag stellt. Der Kläger ist ein behinderter Mensch im vorgenannten Sinne. Der Feststellung eines GdB bei dem Kläger steht insbesondere nicht die Vorschrift des § 2 Abs. 2 SGB IX entgegen, wonach Menschen im Sinne des Teils 2 schwerbehindert sind, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 73 rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben. Der Kläger hat seinen ständigen Aufenthalt rechtmäßig im Geltungsbereich des SGB IX. Zwar verfügt der Kläger nicht über eine Aufenthaltserlaubnis im Sinne des Aufenthaltsgesetzes. Für die Annahme eines rechtmäßigen Aufenthaltes gemäß § 2 Abs. 2 SGB IX ist es jedoch nach Auffassung der Kammer ausreichend, wenn die betreffende Person in der Bundesrepublik geduldet ist, sich bereits seit mindestens drei Jahren in der Bundesrepublik aufhält und auf absehbare Zeit nicht mit ihrer Abschiebung zu rechnen ist.

Ob ein rechtmäßiger Aufenthalt im Sinne des § 2 Abs. 2 SGB IX voraussetzt, dass dem Betroffenen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden ist, ist in der Rechtsprechung umstritten. So hat das Sozialgericht Stuttgart die hier von dem Beklagten vertretene Auffassung bestätigt, dass ein rechtmäßiger Aufenthalt im Sinne des § 2 Abs. 2 SGB IX bei einem Ausländer nur dann anzunehmen sei, wenn dieser über eine Aufenthaltserlaubnis verfügt (Urteil vom 20.05.2009, Aktenzeichen S 13 SB 7860/07). Das Bundessozialgericht hat demgegenüber zu der Rechtslage unter dem bis zum 31.12.2004 geltenden Ausländergesetz die Auffassung vertreten, dass das Schwerbehindertenrecht behinderte Ausländer auch dann schütze, wenn sie sich nur geduldet seit Jahren in Deutschland aufhalten, ein Ende dieses Aufenthaltes unabsehbar ist und die Ausländerbehörde gleichwohl keine Aufenthaltsbefugnis erteilt (Bundessozialgericht, Urteil vom 01.09.1999, Az.: B 9 SB 1/99 R). Das Bundessozialgericht hat in der genannten Entscheidung ausgeführt, dass auch ein in der Bundesrepublik lediglich geduldeter Ausländer seinen gewöhnlichen Aufenthalt, wie er in § 30 Abs. 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch 1. Buch - Allgemeiner Teil (SGB I) gesetzlich definiert ist, in der Bundesrepublik hat, wenn der Ausländer auf absehbare Zeit nicht mit seiner Abschiebung zu rechnen braucht. Die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts nimmt das Bundessozialgericht in der genannten Entscheidung auch dann an, wenn dem Ausländer keine Aufenthaltsgenehmigung erteilt wurde, er sich jedoch jahrelang geduldet in der Bundesrepublik aufgehalten hat, eine Abschiebung nicht abzusehen ist und bei ihm die rechtlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dem damals geltenden § 30 Abs. 3 Ausländergesetz vorlägen. Nach dieser Vorschrift konnte einem Ausländer, der unanfechtbar ausreisepflichtig war, eine Aufenthaltsbefugnis erteilt werden, wenn die Voraussetzungen des damaligen § 55 Abs. 2 Ausländergesetz für eine Duldung vorlagen, weil seiner freiwilligen Ausreise und seiner Abschiebung Hindernisse entgegenstünden, die er nicht zu vertreten hatte. Das Bundessozialgericht begründete seine Auffassung mit dem Gesetzeszweck des seinerzeit geltenden Schwerbehindertengesetzes, an dessen Stelle nunmehr das SGB IX getreten ist, körperlich oder geistig behinderte Menschen soweit wie möglich in die Gesellschaft einzugliedern. Aus dem Kreis der danach Berechtigten dürften - so das Bundessozialgericht seinerzeit - Ausländer weder generell noch bestimmte Gruppe von Ausländern für einen unvertretbar langen Zeitraum ausgeschlossen werden. Dieses widerspräche der Zielvorstellung sozialer Gerechtigkeit als einem leitenden Prinzip aller staatlichen Maßnahmen. Der dauerhafte Ausschluß auf unabsehbarer Zeit in Deutschland lebender ausländischer Behinderter von den Vergünstigungen des Schwerbehindertenrechts wäre vor diesem Hintergrund sachwidrig. In Anlehnung an diese Rechtsprechung des Bundessozialgerichts haben die Sozialgerichte auch nach Ablösung des Ausländergesetzes durch das Aufenthaltsgesetz vom 01.01.2005 überwiegend den Begriff des rechtmäßigen Aufenthaltes in § 2 Abs. 2 SGB IX nicht mit dem Vorhandensein eines Aufenthaltstitels im Sinne des Aufenthaltsgesetzes gleichgesetzt, sondern einen rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 2 Abs. 2 SGB IX bereits dann angenommen, wenn sich der Ausländer geduldet seit Jahren in Deutschland aufhält, ein Ende des Aufenthaltes unabsehbar ist und die Ausländerbehörde gleichwohl keinen Aufenthaltstitel erteilt (vgl. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 02.06.2009, Az.: L 11 SB 88/09 B PKH; Sozialgericht Bremen, Gerichtsbescheid vom 13.08.2009, Az.: S 19 SB 3/09; Sozialgericht Duisburg, Urteil vom 15.06.2007, Az.: S 30 SB 140/04).

Die Kammer schließt sich dieser auch unter Geltung des Aufenthaltsgesetzes vorherrschenden Auffassung der Rechtsprechung an. Eine enge Auslegung des § 2 Abs. 2 SGB IX dahingehend, dass ein rechtmäßiger dauerhafter Aufenthalt bei einem Ausländer nur dann vorliege, wenn ihm von der zuständigen Ausländerbehörde eine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden sei, ist zur Überzeugung der Kammer nicht mit dem Zweck der Bestimmungen des SGB IX und dem Sozialstaatsprinzip der Artikel 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz vereinbar. Denn aus diesen folgt das Gebot, körperlich oder geistig behinderte Menschen soweit wie möglich in die Gesellschaft einzugliedern. Dieses Gebot gilt bei Ausländern zwar dann nicht, wenn diese sich erst seit kurzem oder nur für einen vorübergehenden Zeitraum in der Bundesrepublik aufhalten. Denn in diesem Fall ist mit einer nachhaltigen Teilnahme am Leben in der Gesellschaft in der Bundesrepublik auch bei Gewährung der Vorteile des Schwerbehindertenrechts nicht zu rechnen. Soweit sich ein Ausländer jedoch seit geraumer Zeit in der Bundesrepublik aufhält und eine Beendigung seines Aufenthaltes auch in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist, sind zur Überzeugung der Kammer keine sachlichen Gründe dafür ersichtlich, ihn von den Eingliederungsleistungen des SGB IX auszuschließen. Bei der Frage, ab wann von einem ein Integrationserfordernis auslösenden bisherigen Aufenthalt ausgegangen werden kann, ist nach Auffassung der Kammer von einem bisherigen Aufenthalt in der Bundesrepublik von drei Jahren auszugehen. So wird auch in den insoweit vergleichbaren Normen des § 2 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz und § 1 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 Opferentschädigungsgesetz ab diesem Zeitraum von einem verstärktem Integrationsbedürfnis des Ausländers ausgegangen. Vorliegend ist der Kläger bereits im Jahre 1997 in die Bundesrepublik eingereist und lebt demnach bereits seit mehr als drei Jahren in Deutschland. Auch ist eine Beendigung seines Aufenthaltes in der Bundesrepublik aus Gründen, die der Kläger nicht zu vertreten hat, auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. Zwar hat der Beklagte in seiner Funktion als Ausländerbehörde mit Ordnungsverfügung vom 26.10.2009 den Antrag des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abgelehnt. Der Kläger hat hiergegen am 20.11.2009 Klage zum Verwaltungsgericht Köln erhoben. Eine Abschiebung des Klägers ist jedoch gleichwohl nach Auskunft der Beklagten bis auf weiteres nicht zu erwarten. So ist zur Zeit eine Duldung für einen Zeitraum von weiteren 6 Monaten ausgesprochen worden. Im übrigen hat die Vertreterin des Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 03.12.2009 darauf hingewiesen, dass nach der gegenwärtigen Erlasslage allein Straftäter in das Heimatland des Klägers, den Irak, abgeschoben würden. Auf absehbare Zeit sei nicht mit einer Änderung dieser Erlasslage zu rechnen. Vor diesem Hintergrund ist es zur Überzeugung der Kammer nicht gerechtfertigt, den Kläger von der Integrationsleistung nach dem SGB IX auszuschließen. Auf seinen Antrag hatte der Beklagte deshalb gemäß § 69 Abs. 1 SGB IX den Grad seiner Behinderung festzustellen. [...]