OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 27.11.2009 - 2 Bf 337/02.A - asyl.net: M16705
https://www.asyl.net/rsdb/M16705
Leitsatz:

Nach dem Maßstab des Art. 4 Abs. 4 QRL sprechen zum jetzigen Zeitpunkt stichhaltige Gründe dagegen, dass tschetschenischen Volkszugehörigen bei einer Rückkehr in ihre Heimat Verfolgung droht, sofern sie keiner besonderen Risikogruppe angehören. An stichhaltigen Gründen für eine Verfolgung fehlt es, wenn eine sog. "hinreichende Verfolgungssicherheit" i.S.d. Rechtsprechung des BVerwG besteht, weil mit dem Wiederaufleben einer ursprünglichen Verfolgung nicht zu rechnen ist und das erhöhte Risiko einer erstmaligen gleichartigen Verfolgung aus anderen Gründen nicht besteht.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Asylverfahren, Russische Föderation, Tschetschenien, interne Fluchtalternative, Gruppenverfolgung, Qualifikationsrichtlinie, Tschetschenen, Registrierung, medizinische Versorgung, Bundesbeauftragter für Asylangelegenheiten
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 8, AsylVfG § 3 Abs. 1, AsylVfG § 3 Abs. 4
Auszüge:

[...]

Die Beigeladenen haben im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 Abs. 1 und 4 AsylVfG), da sie in ihrem Heimatland heute nicht den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt sind.

Das Berufungsgericht geht davon aus, dass die Beigeladenen tschetschenische Volkszugehörige sind. Es hat jedoch nicht die Überzeugung gewinnen können, dass sie vor ihrer Ausreise individuell verfolgt worden sind oder dass eine solche Verfolgung unmittelbar bevor gestanden hat. [...]

Letztlich kann aber dahinstehen, ob die Beigeladenen, die jedenfalls keiner besonderen Risikogruppe angehören (dazu unten), individuell vorverfolgt ausgereist sind oder – wie sie der Sache nach geltend machen - in ihrer Heimat vor ihrer Ausreise im Frühjahr 2001 als tschetschenische Volkszugehörige einer Gruppenverfolgung ausgesetzt gewesen sind. Ebenso kommt es nicht darauf an, ob ihnen zum damaligen Zeitpunkt eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung gestanden hat, die nach der Qualifikationsrichtlinie eine Vorverfolgung nicht (mehr) ausschließt, weil Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie bestimmt, dass diese Beweiserleichterung Flüchtlingen unabhängig davon zugute kommen soll, ob ein von Verfolgung bedrohter Antragsteller zum Zeitpunkt seiner Ausreise in einem anderen Teil seiner Heimat hätte Schutz finden können (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v.19.1.2009, AuAS 2009, 115 ff.). Denn jedenfalls ist den Beigeladenen zum jetzigen Zeitpunkt eine sichere Rückkehr in ihre Heimatregion möglich. Da sie auf einen internen Schutz nicht angewiesen sind, kommt es auch nicht darauf an, ob ihnen im Hinblick auf den Gesundheitszustand der Beigeladenen zu 2) ein Aufenthalt in einem anderen Teil der Russischen Föderation deshalb nicht zumutbar ist, weil die für eine medizinische Behandlung dort erforderliche Registrierung zumindest 90 Tage in Anspruch nimmt. Der im Schriftsatz vom 20. November 2009 beantragten Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens zu dem Gesundheitszustand der Beigeladenen zu 2) bedarf es aus diesem Grund nicht.

Nach Auswertung der in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen (aa) ist das Berufungsgericht zu der Überzeugung gelangt, dass nach dem Maßstab des Art. 4 Abs. 4 QRL zum jetzigen Zeitpunkt stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass tschetschenischen Volkszugehörigen bei ihrer Rückkehr in ihre Heimat Verfolgung droht (bb), sofern sie - wie die Beigeladenen - keiner besonderen Risikogruppe angehören (cc). Dabei geht das Berufungsgericht mit dem Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass es an stichhaltigen Gründen für eine Verfolgung fehlt, wenn eine sog. "hinreichende Verfolgungssicherheit" besteht, weil mit dem Wiederaufleben der ursprünglichen Verfolgung nicht zu rechnen ist und das erhöhte Risiko einer (erstmaligen) gleichartigen Verfolgung aus anderen Gründen nicht besteht (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.1.2009, AuAS 2009, 115 ff.; BVerwG, Beschl. v. 7.2.2008, ZAR 2008, 192). Diese Überzeugung wird u.a. geteilt von dem Verwaltungsgerichtshof Kassel (Urt. v. 21.2.2008, NVwZ-RR 2008, 828 f. und Urt. v. 24.4.2008, 3 UE 410/06A., juris, AuAS 2008, 167 nur LS) und dem OVG Magdeburg (Urt. v. 31.7.2008, 2 L 23/06, juris), das sich dem VGH Kassel angeschlossen hat, sowie von dem OVG Berlin-Brandenburg (Urt. v. 3.3.2009, 3 B 16.08, juris) und dem VGH München (Urt. v. 12.1.2009, 11 B 06.30900, juris), die beide darüber hinaus eine inländische Fluchtalternative annehmen.

aa) Die Situation in Tschetschenien stellt sich nach den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln in letzter Zeit im Wesentlichen wie folgt dar:

Das Auswärtige Amt führte in seinem Lagebericht vom 18. August 2006 (S. 19) noch aus, dass die Sicherheit der Zivilbevölkerung in Tschetschenien nicht gewährleistet sei. Auch in seinem Lagebericht vom 17. März 2007, behielt das Auswärtige Amt diese Einschätzung noch bei (S. 22) und ging – ebenso wie in späteren Lageberichten (vgl. Lagebericht vom 30.7.2009) – für den Berichtszeitpunkt davon aus, dass in Tschetschenien die schwersten Menschenrechtsverletzungen in der Russischen Föderation stattfinden würden, zu denen in erster Linie das Verschwindenlassen von Menschen gehöre. Allerdings sprach der Lagebericht vom 17. März 2007 bereits auch von Zeichen der Normalisierung (S. 17) und führte aus, dass die Zahl von Gewaltakten von Seiten der Rebellen und von Seiten der russischen und tschetschenischen Sicherheitskräfte abgenommen hätte. In seiner Stellungnahme gegenüber dem VGH Kassel vom 6. August 2007 ist das Auswärtige Amt dann zu dem Ergebnis gekommen, dass sich die allgemeine Sicherheitslage in der tschetschenischen Republik im Wesentlichen normalisiert und die Zahl illegaler Verhaftungen und Entführungen von Personen stark abgenommen habe. Sogenannte "Säuberungen" seien schon seit mehreren Monaten nicht mehr durchgeführt worden. Tschetschenische Volkszugehörige, die nach Abschluss der Kampfhandlungen in die Tschetschenische Republik zurückgekehrt seien, lebten ein weitgehend "normales" Leben, das allerdings nicht am deutschen Standard gemessen werden könne, sofern sie nicht aktiv an Kampfhandlungen teilgenommen hätten. In seinem Lagebericht vom 22. November 2008 hat das Auswärtige Amt ausgeführt, dass eine dauerhafte Befriedung der Lage in Tschetschenien zwar bisher nicht eingetreten sei (S. 16), obwohl seit der Regierung und Präsidentschaft Kadyrows "erhebliche Zeichen der Normalität festzustellen" seien. Putin habe zwar bereits im Januar 2006 die antiterroristische Operation in Tschetschenien für beendet erklärt, gleichwohl gingen aber die Sicherheitskräfte auch im Jahr 2008 noch gegen die Rebellen vor. In allerletzter Zeit seien wieder vermehrt willkürliche Überfälle bewaffneter, nicht zuzuordnender Kämpfer, Festnahmen, Bombenanschläge und extralegale Tötungen zu verzeichnen. Die Zahl der Entführungen sei deutlich zurückgegangen. Im ersten Halbjahr 2008 seien 15 Fälle zu verzeichnen gewesen, wobei 12 Personen wieder freigelassen worden seien und eine Person sich im Gefängnis befinde (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 22.11.2008, S. 16). In seinem jüngsten Lagebericht vom 30. Juli 2009 geht das Auswärtige Amt nunmehr davon aus, dass sich die Sicherheits- und auch die Menschenrechtslage nach deutlichen Fortschritten in der Vergangenheit nunmehr im Jahr 2008 und in der ersten Hälfte des Jahres 2009 insgesamt wieder verschlechtert habe. Der Zulauf zu den Rebellengruppen und die Anschlagstätigkeit hätten sich verstärkt. Der Rückgang der Entführungszahlen habe sich nicht fortgesetzt, obwohl er weiter unter den Zahlen von 2004 bis 2006 liege. Memorial habe im Jahr 2008 42 Entführungsfälle registriert, von denen 20 freigelassen, 4 Personen tot aufgefunden, 5 in polizeilichem Gewahrsam und 13 noch vermisst seien (vgl. auch Memorial, "Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation, Oktober 2007 – April 2009" S. 4). Folter bleibe ein drängendes Problem. Dem Auswärtigen Amt sind keine Fälle bekannt, in denen russische Staatsangehörige bei ihrer Rückkehr allein deshalb staatlich verfolgt worden seien, weil sie zuvor im Ausland einen Asylantrag gestellt hätten (vgl. Lageberichte vom 22.11.2008 und vom 30.7.2009). Gesicherte Kenntnisse darüber, ob tschetschenische Volkszugehörige nach ihrer Rückführung besonderen Repressionen ausgesetzt seien, lägen nicht vor. Solange der Tschetschenien-Konflikt nicht endgültig gelöst sei, sei davon auszugehen, dass abgeschobene Tschetschenen besondere Aufmerksamkeit durch russische Behörden erführen. Dies gelte insbesondere für solche Personen, die sich in der Tschetschenienfrage engagiert hätten bzw. denen die russischen Behörden ein solches Engagement unterstellten oder die im Verdacht stünden, einen fundamentalistischen Islam zu propagieren. Der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen habe etwas abgenommen, wenngleich russische Menschenrechtsorganisationen nach wie vor von einem willkürlichen Vorgehen der Miliz gegen Kaukasier allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit berichteten. Russische Staatsangehörige, die kein nach Ende der Umtauschfrist (1. Juli 2004) ausgestelltes Personaldokument hätten, müssten eine Geldstrafe zahlen, erhielten ein vorläufiges Dokument und müssten einen neuen Inlandspass beantragen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 30.7.2009).

Nach amnesty international (an VGH Kassel vom 27.4.2007) konnte im Jahr 2007 von einer Normalisierung der Situation in Tschetschenien nach wie vor keine Rede sein: Es komme in geringem Umfang weiterhin zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen russischen und tschetschenischen Sicherheitskräften auf der einen und bewaffneten Oppositionsgruppen auf der anderen Seite. Amnesty international ist auch in seiner Auskunft an das VG Köln vom 14. Mai 2008 davon ausgegangen, dass die Rückkehrer einer besonderen Gefahrenlage ausgesetzt seien. Entweder werde unterstellt, dass sie sich in der Zwischenzeit bewaffneten separatistischen Gruppen angeschlossen hätten oder dass sie aus dem Ausland Vermögen mitgebracht hätten.

Auch nach Auskunft der Heinrich-Böll-Stiftung (an VGH Kassel vom 20.4.2007) droht Rückkehrern eine erhöhte Gefahr, da sie im Verdacht stünden, vor ihrer Ausreise bei den Rebellen gewesen zu sein. Sie würden oft Opfer von Erpressungen, von offiziellen tschetschenischen Stellen würden sie beschuldigt, bei den Rebellen gewesen zu sein, wobei ihnen angeboten werde, diese Beschuldigungen gegen auch wiederholte oder regelmäßige Geldzahlungen fallen zu lassen.

Nach der Auskunft von Prof. Dr. L. (an den VGH Kassel vom 8.8.2007) ist die Gefährdung durch "russische" und "tschetschenische" Sicherheitskräfte im Jahr 2007 gegenüber 2006 und 2005 noch einmal messbar geringer geworden. Das Kadyrow-Regime zeichne sich hiernach durch Unberechenbarkeit aus, seine Vertreter seien von Allmachtsgefühlen und Mordlust, von Habgier und Hass gesteuert. Davon betroffen seien keineswegs nur die Rückkehrer aus den Nachbarregionen, sondern im Prinzip alle Einwohner der Republik. Gewöhnliche Tschetschenen, die etwa auf dem Höhepunkt des 2. Tschetschenienkrieges Tschetschenien verlassen hätten, um irgendwo ungefährdet leben zu können, seien bei einer Rückkehr keiner größeren Gefährdung ausgesetzt als andere Tschetschenen. Der Gutachter Prof. Dr. L. hält es für selbstverständlich, dass bekannte oder gar prominente Funktionäre oder Parteigänger Präsident Maschadows und der "Tschetschenischen Republik Ickeria" im Falle einer Rückkehr aus der Diaspora nach Russland und speziell nach Tschetschenien nicht nur routinemäßig behandelt, sondern einer sorgfältigen Überprüfung und Kontrolle auch des dann zuständigkeitshalber eingeschalteten Inlandsgeheimdienst FSB unterzogen würden. Tschetschenen, die im 2. Tschetschenien-Krieg auf Seiten der tschetschenischen Republik gekämpft hätten, würden bei einer Rückkehr mit strafrechtlicher Verfolgung als Terrorist zu rechnen haben (Prof. Dr. L. an den VGH Kassel vom 9.5.2007).

S., die Vorsitzende der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, ist im Jahr 2007 zu dem Ergebnis gekommen, dass Rückkehrer nach Tschetschenien besonders gefährdet seien, da man sie verdächtige, bei den Aufständischen gewesen zu sein, außerdem würden sie Opfer von Erpressungsversuchen. Denn man gehe davon aus, dass sie über Geld verfügten. Jeder, der nach Tschetschenien reise, begebe sich in Lebensgefahr, wobei rückkehrgefährdet insbesondere junge Männer seien, die man verdächtige, sich bewaffneten Banden angeschlossen zu haben. Wer altersbedingt noch keinen Pass habe oder wer seinen sowjetischen Pass verloren habe, könne auf keinen Fall nach Tschetschenien reisen; bei jedem Versuch, einen der Checkpoints zu passieren, werde er unweigerlich festgenommen. In der tschetschenischen Republik gebe es nicht einmal ein Mindestmaß an Sicherheit, Menschen würden auch weiterhin unter fabrizierten Vorwürfen angeklagt und verurteilt, Folter sei ein übliches Mittel, um Geständnisse und Beschuldigungen zu erzwingen (vgl. Memorial an VGH Kassel vom 17.5.2007 sowie Vortrag von Frau S. vom 25.11.2006 in "Zur Lage der Bewohner Tschechiens in der Russischen Föderation, August 2006 – Oktober 2007"). Diese Ausführungen sind jedoch durch den Bericht von Memorial vom Oktober 2007 ("Zur Lage der Bewohner Tschechiens in der Russischen Föderation, August 2006 – Oktober 2007" S. 4) relativiert worden. Dort heißt es, dass sich die Sicherheitslage für die Menschen verbessert habe. Entführungen und außergerichtliche Hinrichtungen hätten merklich abgenommen (S. 92). Für das Jahr 2007 sind von Memorial in den Monaten Januar bis einschließlich August 25 Fälle von Entführungen registriert worden, von denen 17 Personen freigekauft seien, 2 sich in Untersuchungshaft befänden, 5 spurlos verschwunden seien und einer getötet worden sei. Im Bericht von Memorial vom Juni 2009 über den Zeitraum vom Oktober 2007 bis zum April 2009 ("Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation, Oktober 2007 – April 2009") wird für das Jahr 2008 von einer (leichten) Erhöhung der Zahl der registrierten Entführungen und Fälle spurlos Verschwundener berichtet. 20 von ihnen seien freigelassen oder freigekauft und 4 tot aufgefunden worden. Ferner wird von 24 Morden an Zivilisten im Jahr 2008 berichtet gegenüber 16 solcher Fälle in 2007 (Memorial 2009 S. 4). Besorgniserregend bleibt nach Memorial, dass Strafprozesse mit fabrizierten Anschuldigungen geführt würden und dass zahlreiche Gefangene unter menschenrechtlich unzumutbaren Haftbedingungen zu leiden hätten (Memorial 2009 S. 5 ff.). In der Auskunft an den VGH München vom 6. Oktober 2008 gibt Frau S. erneut ihrer Überzeugung Ausdruck, dass zur Zeit niemand nach Tschetschenien zurückkehren könne.

Nach Auskunft des UNHCR gegenüber dem VGH Kassel vom 8. Oktober 2007 hat sich die Sicherheitslage in Tschetschenien graduell verbessert, unrechtmäßige Handlungen und Gewaltakte stellten jedoch weiterhin eine Bedrohung für die ortsansässige Bevölkerung dar. Als besonders rückkehrgefährdet sieht dabei der UNHCR insbesondere Flüchtlinge und Asylsuchende an, die als frühere Mitglieder illegaler bewaffneter Formationen und deren Angehörige gelten, Personen, die offizielle Positionen (auch in sehr niedrigen Positionen) im Regime Maschadows innegehabt hätten, Personen die offensichtlich von den Positionen der gegenwärtigen Regierung abweichende politische Ansichten hätten, sowie Personen, die möglicherweise für ihre vor der Flucht erfolgte, nichtmilitärische Unterstützung der Rebellentruppen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden könnten. Auch auf dem Tschetschenien-Länderseminar am 18. Oktober 2007 in Wien schilderte der Nordkaukasusbeauftragte des UNHCR Jo Hegenauer die Sicherheitssituation in Tschetschenien im Vergleich zu den Jahren 2003 bis 2006 als deutlich verbessert. So sind beispielsweise in den ersten acht Monaten des Jahres 2007 vom UNHCR 3 Entführungen in Tschetschenien registriert worden. In dieser Zeit wurden 42 attacks on LE (Law Enforcement) registriert. Diese Einschätzung hält der UNHCR in seiner neuesten Stellungnahme vom Mai 2009 (Asylmagazin 2009, 15 f.) aufrecht. Der UNHCR führt hierin weiter aus, dass Mitglieder illegaler Verbände und deren Verwandte sowie politische Gegner, Menschrechtsaktivisten und Personen, die in offizieller Position in der Administration des früheren Präsidenten Maschadows gewesen seien, einer Gefährdung unterlägen.

Im Übrigen hat die russische Regierung nach 10 Jahren im April 2009 das Ende der Anti-Terror-Operation in Tschetschenien erklärt (Manfred Quiring, Die Welt vom 27.3.2009 und Christian Esch, Berliner Zeitung vom 17.4.2009).

bb) Bei einer Rückkehr in ihr Heimatland wird den Beigeladenen zur Überzeugung des Berufungsgerichts heute keine Verfolgung in Bezug auf die Schutzgüter des § 60 Abs. 1 AufenthG durch russische oder tschetschenische Sicherheitskräfte und andere nichtstaatliche Akteure drohen. Nach dem Maßstab des Art. 4 Abs. 4 QRL sprechen deshalb zum gegenwärtigen Zeitpunkt stichhaltige Gründe gegen eine (erneute) Verfolgung der Beigeladenen. Soweit in den Auskünften von relevanten Übergriffen berichtet wird, betreffen diese nicht Personen(-gruppen), zu denen die Beigeladenen zu zählen sind, oder sind diese von so geringer Anzahl, dass sich daraus kein Risiko für die tschetschenische Bevölkerung als Ganzes ergibt.

Es ist zunächst davon auszugehen, dass die Beigeladenen im Zusammenhang mit einer Rückkehr nach Tschetschenien keiner Verfolgungsgefahr ausgesetzt sind. Dem Auswärtigen Amt sind Fälle, in denen tschetschenische Volkszugehörige bei und nach ihrer Rückführung besonderen Repressionen ausgesetzt worden sind, nicht bekannt. Wenn es gleichwohl davon ausgeht, dass abgeschobene Tschetschenen besondere Aufmerksamkeit durch russische Behörden erfahren, so steht diese Befürchtung im Zusammenhang mit solchen Personen, die sich in der Tschetschenienfrage besonders engagiert haben bzw. denen die russischen Behörden ein solches Engagement unterstellen oder die im Verdacht stehen, einen fundamentalistischen Islam zu propagieren. Zu diesen besonderen Risikogruppen gehören die Beigeladenen nicht (dazu unten cc). Zwar geht nach Auskunft von Memorial (an den VGH Kassel vom 17.5.2007) gerade von russischen und tschetschenischen Sicherheitskräften eine Gefährdung für Rückkehrer aus. Jedoch handelt es sich nach dieser Auskunft – wie auch aus den Beispielsfällen ersichtlich - überwiegend um das Erpressen von Geld, weil angenommen wird, dass Menschen, die sich Auslandsreisen leisten, über größere Summen verfügen müssten (vgl. Anhang der Auskunft S. 13, der der Auskunft von Memorial vom Oktober 2007 S. 16 ff. entspricht). Damit wird bereits nicht an Merkmale angeknüpft, die dem Flüchtlingsschutz unterliegen. Soweit Frau S. in ihrer neueren Auskunft (an den VGH München vom 6.10.2008) zum Ausdruck bringt, dass derzeit niemand nach Tschetschenien zurückkehren könne, werden Referenzfälle nicht genannt. Auch amnesty international und die Heinrich-Böll-Stiftung sehen für Rückkehrer bestehende Gefahren zum einen darin, dass bei ihnen größere Geldsummen vermutet werden. Soweit sie zum anderen darüber hinaus darauf hinweisen, dass Rückkehrer im Verdacht stünden, bei den Rebellen gewesen zu sein, und ihnen deshalb Gefahren drohten, unterliegt dies zwar dem Flüchtlingsschutz. Jedoch wird es für die Beigeladenen ohne weiteres möglich sein, ihren Aufenthalt in Deutschland zu belegen. Eine Familie mit 5 Kindern begründet insoweit weit weniger Verdachtsmomente als andere Rückkehrer, etwa alleinstehende jüngere Männer. Mit Prof. Dr. L. ist das Berufungsgericht deshalb davon überzeugt, dass die Beigeladenen als gewöhnliche Tschetschenen, die Tschetschenien im Gefolge des Bürgerkriegs verlassen haben, um irgendwo ungefährdet leben zu können, bei einer Rückkehr in ihre Heimat unter den Kriterien des Flüchtlingsschutzes keiner größeren Gefährdung ausgesetzt sind als andere Tschetschenen, die ihre Heimat nicht oder nicht langfristig verlassen haben.

Nach einer Rückkehr droht den Beigeladenen in ihrer Heimatregion Tschetschenien heute auch im Übrigen keine zielgerichtete Verfolgung aufgrund ihrer tschetschenischen Volkszugehörigkeit. Einerseits ist eine weitere gewisse Verbesserung der Situation in Tschetschenien dadurch eingetreten, dass nunmehr im April 2009 seitens der russischen Zentralregierung offiziell das Ende der Anti-Terror-Operation erklärt worden ist. Auch wenn hierdurch tatsächlich unrechtmäßige Übergriffe der föderalen (russischen) Sicherheitsorgane nicht schlagartig entfallen müssen, ist dadurch jedenfalls die rechtliche Grundlage für willkürliche Durchsuchungen und andere Einschränkungen der Bürgerrechte entzogen. Die damit einhergehende Öffnung des internationalen Luftverkehrs stellt ebenfalls eine weitere Verbesserung der Lage dar. Andererseits hat sich zwar die bis zum Jahr 2007 zu verzeichnende allgemeine Verbesserung der Sicherheitslage nach der jüngsten Auskunft des Auswärtigen Amtes (Lagebericht vom 30.7.2009) nicht fortgesetzt. Das Auswärtige Amt geht in diesem Lagebericht wieder von einem verstärkten Zulauf zu den Rebellengruppen und von einer erhöhten Anschlagstätigkeit aus. Eine zielgerichtete Bedrohung der tschetschenischen Zivilbevölkerung durch russische Sicherheitskräfte und Militärs und diesen zuzuordnenden Verbänden ist aber heute weiterhin nicht (mehr) feststellbar. Insbesondere fehlen Anhaltspunkte, dass unter dem Begriff Terrorismusbekämpfung erneut - eine allgemeine Strafverfolgung überschießenden - Maßnahmen mehr gegen tschetschenische Volkszugehörige gerichtet werden. Auch die Anschlagstätigkeit von und die bewaffneten Auseinandersetzungen mit Rebellengruppen haben sich in den letzten Jahren von Tschetschenien verstärkt nach Inguschetien und in andere Nordkaukasus-Republiken verlagert, so dass sich dort nicht nur die Sicherheitslage verschlechtert hat (vgl. hierzu Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 30.7.2009), sondern auch die gezielten Übergriffe zugenommen haben. Wohl aus diesem Grund heißt es in dem neuesten Lagebericht des Auswärtigen Amtes: "Kaukasier werden von den Behörden in der Russischen Föderation benachteiligt", während staatliche Repressionen zuvor (vgl. Lageberichte vom 22.11.2008 und vom 18.8.2008) nur auf Tschetschenen bezogen wurden. Eine erhebliche Anzahl von Übergriffen auf Tschetschenen wegen ihrer Volkszugehörigkeit in Tschetschenien, die dort heute dazu führen könnte, die Sicherheit vor einer Verfolgung zu verneinen, ist allerdings nicht nur nicht den Berichten des Auswärtigen Amtes, sondern auch keiner anderen Erkenntnisquelle zu entnehmen. Das Auswärtige Amt geht in seinem jüngsten Lagebericht ferner davon aus, dass der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehende Personen weiterhin etwas abgenommen hat. Kontrollen erfolgen hiernach zunehmend im Rahmen von Maßnahmen zum Vorgehen gegen illegale Migration und Schwarzarbeit; diese Ziele unterfallen nicht § 60 Abs. 1 AufenthG.

Zu einer anderen Beurteilung führt auch nicht der Umstand, dass die Beigeladenen nicht im Besitz von neuen Inlandspässen sind. Zwar ist die Ausstellung von Pässen für die Bewohner Tschetscheniens schwieriger als für andere Staatsangehörige der russischen Föderation, weil man den dortigen Behörden keine Vordrucke anvertraut, sondern die bei örtlichen Passstellen abgegebenen Anträge erst nach Stawropol schickt. Dies begründet aber keine Bedrohung tschetschenischer Volkszugehöriger wegen ihrer Volkszugehörigkeit. Im Übrigen besteht für Tschetschenen aber auch die Möglichkeit, sich die Pässe in Inguschetien oder Stawropol selbst zu besorgen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 30.7.2009, vgl. aber auch zur schlechteren Sicherheitslage dort).

cc) Die Beigeladenen werden bei einer Rückkehr in ihr Heimatland von russischen Behörden nicht in einen Zusammenhang mit Rebellen gebracht werden. Sie gehören keiner besonderen Risikogruppe an, für die in Frage stehen kann, dass stichhaltige Gründe i.S.d. Art. 4 Abs. 4 QRL gegen eine erneute Verfolgung sprechen. Nach ihrem eigenen Vortrag sind die Beigeladenen zu 1) und 2) vor ihrer Ausreise von den Sicherheitsbehörden nicht in einer individualisierbaren Weise mit tschetschenischen Rebellen oder der früheren Regierung Maschadow in Zusammenhang gebracht worden. Aufgrund ihres Alters ist auch nach einer Rückkehr nicht zu erwarten, dass dies nunmehr heute ohne – fehlende – individuelle Anhaltspunkte der Fall sein wird. Nichts Anderes gilt für ihre Kinder, die Beigeladenen zu 3) bis 6), die hierfür zu jung wären.

Auch wegen ihres familiären Umfelds zu dem jüngeren Bruder des Beigeladenen zu 1), G., für den die Beklagte durch Urteil des VG Minden aufgrund mündlicher Verhandlung vom 7. September 2007 (4 K 980/07.A) verpflichtet wurde, die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG festzustellen, droht den Beigeladenen nicht die Gefahr, von tschetschenischen Sicherheitskräften in den Zusammenhang mit Rebellen gebracht zu werden.

Nach dem Bruder des Beigeladenen zu 1) ist nicht gezielt gesucht worden. Aus der beigezogenen Verfahrensakte des VG Minden (4 K 980/07.A) ergibt sich, dass G. im Dezember 2001 während eines Besuchs bei seinen Eltern in S., als das Wohnviertel von russischen Soldaten umstellt war, seinen Pass vorweisen musste. Er geriet durch eine falsche Bescheinigung, die in dem Pass lag, in den unberechtigten Verdacht, im 1. Tschetschenien-Krieg gegen die Russen gekämpft zu haben. Aus diesem Grund wurde er festgenommen und schwer misshandelt. Nach 14 Tagen wurde er entlassen und dem Dorfältesten übergeben. Die Umstände seiner Festnahme und die Tatsache, dass er nach 2 Wochen entlassen und dem Dorfältesten übergeben wurde, sprechen dafür, dass G. Opfer einer im Jahr 2001 möglicherweise noch bestehenden Gruppenverfolgung tschetschenischer Volkszugehöriger geworden sein dürfte. Nach seinem eigenen Vorbringen hat er nicht als aktiver Rebell gekämpft. Er ist auch nicht als ehemaliger Rebell bekannt oder wird als solcher gesucht (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 16.3.2007, Bl. 395 d. A.).

Zwar sind nach dem neuesten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 30. Juli 2009 wie nach dem Bericht von Memorial vom Juni 2009 einige Fälle bekannt geworden, in denen Behörden Wohnhäuser der Familien von Personen angezündet haben, die sich den Rebellen angeschlossen haben. Die Beigeladenen müssen solche Repressalien, die dazu dienen sollen, aktive Rebellen durch Druck auf ihre Familien zum Aufgeben zu veranlassen, bei einer Rückkehr jedoch nicht befürchten. G. ist nicht als aktiver Rebell bekannt, außerdem hält er sich nachweislich hier in der Bundesrepublik auf.

Eine "Sippenhaft" wegen des Verwandtschaftsverhältnisses zu G. droht den Beigeladenen, die sich zu der Zeit seiner Festnahme bereits in Deutschland aufhielten, aus diesen Gründen ebenfalls nicht. Außerdem wird in den neueren Lageberichten des Auswärtigen Amtes im Gegensatz zu älteren Lageberichte (vgl. z.B. Lagebericht vom 18.6.2006, S. 16) nicht mehr erwähnt, dass die Gefahr einer Geiselnahme von Familienangehörigen von Rebellen besteht. Darüber hinaus hat es sich auch in der Vergangenheit um besonders hervorgehobene Personen gehandelt, deren Familienangehörige entführt wurden. So berichtet der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 18. Juni 2006, dass es sich überwiegend um Verwandte des früheren Präsidenten Maschadow gehandelt habe, die vermutlich von Angehörigen der Sicherheitstruppe von Ramasan Kadyrow entführt worden seien. [...]