VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 29.05.2009 - 33 X 123.07 - asyl.net: M16675
https://www.asyl.net/rsdb/M16675
Leitsatz:

Zum Widerruf der Flüchtlingsanerkennung wegen Verurteilung zu Strafhaft (§ 60 Abs. 8 AufenthG).

Schlagwörter: Widerrufsverfahren, schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Straftat, Drogendelikt, Freiheitsstrafe
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 8 S. 1
Auszüge:

[...]

Die Beklagte stützt den Widerrufsbescheid der Sache nach auf § 73 Abs. 1 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG. Nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG hat das Gericht in Streitigkeiten nach dem Asylverfahrensgesetz auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen. Ausgehend von dem danach maßgeblichen aktuellen Sach- und Erkenntnisstand sind die Widerrufsvoraussetzungen nicht gegeben. § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG bestimmt, dass die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen sind, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Mit Recht geht die Beklagte im Grundsatz davon aus, dass dies auch dann der Fall ist, wenn der Ausländer nach seiner Anerkennung den Tatbestand des § 60 Abs. 8 AufenthG verwirklicht hat. Nach dessen Satz 1 findet § 60 Abs. 1 AufenthG keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist; zugleich wird durch § 60 Abs. 8 S. 1 AufenthG auch ein auf Art. 16 a Abs. 1 GG gestützter Asylanspruch ausgeschlossen (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. November 2005 - 1 C 21.04 -, zit. nach juris),

Damit ermöglicht es § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG - in seinen beiden Tatbestandsvarianten - grundsätzlich, einen politisch Verfolgten in den Verfolgerstaat abzuschieben und in einem solchen Fall das Asylrecht auch in seinem Kernbereich zu entziehen. Da dies schwerwiegende und irreparable Folgen für Leib, Leben und Freiheit des Betroffenen nach sich ziehen kann und das Asylgrundrecht aus Artikel 16a Abs. 1 des Grundgesetzes nicht unter einem Gesetzesvorbehalt steht, kommt die Abschiebung von Asylberechtigten in den Verfolgerstaat nur als ultima ratio in Betracht, nämlich erst dann, wenn anderenfalls die Opfergrenze des Zufluchtsstaats überschritten werden würde. Insoweit stehen sich die Sicherheit des Staates als verfasster Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihre zu gewährleistende Sicherheit seiner Bevölkerung einerseits und das Asylrecht andererseits als prinzipiell gleichrangige Verfassungsgüter gegenüber. Wo in einem solchen Fall die Opfergrenze verläuft, ist nicht abstrakt, sondern in Würdigung der gesamten Umstände des Einzelfalles zu bestimmen. Daraus folgt, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG eng auszulegen sind (vgl. zu allem Vorstehenden grundlegend: BVerwG, Urt. v. 07. Oktober 1975, BVerwGE 49, 202, 208 ff. [zu der ähnlichen Regelung in § 14 Abs. 1 Satz 2 AuslG 1965]). Nur außergewöhnlich schwerwiegende Gefahren können es rechtfertigen, den im Abschiebungsverbot enthaltenen Menschenrechtsschutz hinter die Belange der Sicherheit des Staates und seiner Bürger zurückzustellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 05. Mai 1998, EZAR 033 Nr. 11, S. 7 [zu § 51 Abs. 3 1. Alt. AuslG 1990]).

Die nach § 60 Abs. 8 Satz 1 2. Alt. AufenthG erforderliche rechtskräftige Verurteilung zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe genügt daher für sich genommen noch nicht, um die Tatbestandsvoraussetzungen zu erfüllen. Vielmehr muss eine individuelle Wiederholungsgefahr hinzukommen. Diese Gefahr einer erneuten Straffälligkeit musste in den Fällen des § 51 Abs. 3 1. Alt. AuslG 1990 besonders hoch sein (vgl. BVerwG, Urt. v. 05. Mai 1998, a.a.O., S. 8; BVerwG, Urt. v. 30. März 1999, NVwZ 1999, 1346, 1348). Im Hinblick auf die Einführung einer Mindeststrafe von drei Jahren in den Tatbestand des § 51 Abs. 3 AuslG durch Gesetz vom 29. Oktober 1997 (BGBl. I 2584) war allerdings für diese Norm - und ist damit auch für die gleichlautende Regelung in § 60 Abs. 8 Satz 1 2. Alt. AufenthG - die Feststellung einer besonders hohen Wiederholungsgefahr nicht mehr zu fordern. Vielmehr genügt es, wenn unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles eine konkrete Wiederholungs- oder Rückfallgefahr besteht, d.h. eine Gefahr für die Allgemeinheit durch neue vergleichbare Straftaten des Ausländers ernsthaft droht (vgl. BVerwG, Urt. v. 16. November 2000, NVwZ 2001, 442, 443 f).

Bei der hierzu von der Behörde bzw. dem Gericht eigenständig vorzunehmenden prognostischen Beurteilung sind die Entscheidungen der Strafgerichte nach § 57 Abs. 1 StGB von tatsächlichem Gewicht und stellen ein wichtiges Indiz dar, obgleich die Aussetzung der Vollstreckung der Reststrafe für sich allein noch nicht ohne Weiteres genügt, um auf die insoweit maßgebliche längere Sicht eine konkrete Wiederholungsgefahr verneinen zu können (vgl. BVerwG, Urt. v. 16. November 2000, a.a.O., S. 444).

Von diesen Maßstäben ist ausweislich des angefochtenen Bescheides auch das Bundesamt im Grundsatz ausgegangen. Es hat jedoch den Umständen des Einzelfalls nur unzureichend Rechnung getragen und sich weitgehend einer schematischen Betrachtungsweise bedient. Nach Auffassung des Gerichts ergibt eine Würdigung aller maßgeblichen Umstände, dass jedenfalls zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt von einer konkreten Wiederholungs- oder Rückfallgefahr beim Kläger nicht mehr auszugehen ist.

Allerdings hat das Bundesamt in Anlehnung an das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. November 2000 (a.a.O., S. 444) grundsätzlich zutreffend ausgeführt, dass schwere Rauschgiftdelikte, insbesondere der illegale Handel mit Heroin, regelmäßig mit einer hohen kriminellen Energie verbunden sind und schwerwiegende Gefahren für Gesundheit und Leben anderer verursachen, so dass typischer Weise in diesen Fällen sowohl von einer hohen Wiederholungsgefahr als auch einem besonderen Gewicht der bei einem Rückfall bedrohten Rechtsgüter auszugehen ist. Zu Unrecht als erschwerend hat es dem Kläger aber entgegen gehalten, dass er "bereits einschlägig strafrechtlich in Erscheinung getreten ist". Für diesen Vorwurf findet sich in den Verwaltungsvorgängen und insbesondere im Urteil des Landgerichts Hof vom 13. Dezember 2005 keine Stütze. Richtig ist, dass der Kläger zuvor schon strafrechtlich in Erscheinung getreten war. Im landgerichtlichen Urteil und dort im Rahmen der Strafzumessungserwägungen werden ihm die Vorverurteilungen strafverschärfend erschwerend entgegen gehalten, allerdings mit der Einschränkung, dass seine früheren Verfehlungen gerade nicht einschlägiger Art gewesen seien. Es handelte sich vornehmlich um Verurteilungen wegen Diebstahls. Von der Beklagten nicht aufgegriffen worden ist allerdings der ihn belastende Umstand, dass der Kläger die hier maßgeblichen Straftaten, welche zu der mehr als dreijährigen Haftstrafe geführt hatten, während einer laufenden Bewährungszeit begangen hatte. Jedoch sprechen auch einige, nach Auffassung des Gerichts maßgebliche Umstände zu Gunsten einer positiven Prognose, welche die Beklagte bei der gebotenen Gesamtschau ersichtlich nicht in den Blick genommen hat.

Keine Berücksichtigung fand, dass sich der Kläger bis zu seiner Verurteilung im Jahre 2005 noch nie in Strafhaft befunden hatte. Erst nach Begehung der von der Beklagten zum Anlass für die Widerrufsentscheidung genommenen Straftaten war der Kläger mithin überhaupt zum ersten Mal den Einwirkungen des Strafvollzuges ausgesetzt. Bei der zu treffenden Prognoseentscheidung ist daher insbesondere auch zu berücksichtigen, welche Auswirkungen die (teilweise) Haftverbüßung auf das Verhalten des Klägers gehabt hat und voraussichtlich zukünftig haben wird (vgl. zu diesem Kriterium BVerwG, Urt. v. 05.05.1998, a.a.O., S. 8). Zu seinen Gunsten in die Prognoseüberlegungen einzustellen war zudem, dass der Kläger sich vor dem Landgericht Hof reuevoll gezeigt und die Betäubungsmitteldelikte nach den Feststellungen dieses Gerichts im Wesentlichen begangen hatte, um seinen eigenen Drogenkonsum zu finanzieren. Er war ausweislich des strafgerichtlichen Urteils bereits seit 2002 und vor seiner Übersiedlung nach Deutschland regelmäßiger Konsument von Heroin. Hier angekommen konsumierte er diese Droge weiter, was mit hohen, für einen Asylbewerber unerschwinglichen Kosten verbunden war. Angesichts seiner Drogensucht und einer suchtbedingten, nicht auf eine Einnahmequelle im herkömmlichen Sinne gerichteten Handelstätigkeit ist der im Bescheid pauschal geäußerte Vorwurf einer mit dieser Deliktsart einhergehenden hohen kriminellen Energie zu relativieren.

Für den Kläger spricht des Weiteren, dass er sich die erstmalige Erfahrung einer Haftstrafe erkennbar zur Warnung hat dienen lassen und zwar in zweierlei Hinsicht. So ist er zum einen seitdem nicht neuerlich im Zusammenhang mit Betäubungsmittelstraftaten auffällig geworden, zum anderen aber auch erkennbar bemüht, sich von seiner Drogensucht mit fachkundiger Hilfe zu lösen. Diese Bemühungen erscheinen von Erfolg gekrönt zu sein. Ausweislich des Beschlusses der 1. Strafkammer des Landgerichts Hof vom 24. September 2008, mit welchem das Gericht den Strafrest zur Bewährung ausgesetzt hat, befand sich der Kläger zweimal in stationärer Behandlung, und zwar vom 4. September 2006 bis zum 12. Januar 2007 in der Bezirksklinik H. und vom 12. Juni bis 12. Oktober 2007 im Haus L. in Berlin, wo er an einer integrierten Therapie für Suchtkranke teilnahm. Vom 18. Oktober 2007 bis zum 14. August 2008 nahm er am zweiten Behandlungsabschnitt in der Ambulanz im Haus L. teil, von wo aus er nach dortiger Einschätzung nach positivem Behandlungsverlauf mit einer klaren Abstinenzmotivation hat entlassen werden können. Das Landgericht führt zudem aus, das Haus L. habe die bisherige Entwicklung des Klägers als durchaus positiv bewertet, was das Strafgericht dazu veranlasste, die Reststrafe unter ausdrücklicher Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit zur Bewährung auszusetzen, Nach den Bewährungsauflagen ist der Kläger zudem gehalten, sich auf Weisung des Bewährungshelfers bis zu viermal jährlich auf seine Kosten Urinkontrollen und Haarproben zur Prüfung eines etwaigen Betäubungsmittelkonsum zu unterziehen sowie einmal wöchentlich eine Selbsthilfegruppe zu besuchen und den Besuch vierteljährlich durch eine vom Leiter der Gruppe auszustellende Bescheinigung nachzuweisen. Die im Bereich der L. Ambulanz tätige Psychologische Psychotherapeutin M. gelangte in ihrer Stellungnahme vom 14. März 2008 zu der Einschätzung, der Kläger sei im Begriff, die therapeutische Arbeit gewinnbringend für sich zu nutzen. Seine soziale und psychische Situation beginne er zu stabilisieren und Veränderungen für sein weiteres drogenfreies Leben zu verwirklichen. Die bisherige Entwicklung weise Anhaltspunkte dafür auf, dass der Kläger das letzte Drittel seiner voraussichtlich im Juli 2008 endenden Therapiezeit dafür nutzen werde, die erreichten Behandlungsziele und Fortschritte zu festigen und zu erweitern. Diese Formulierungen finden sich nahezu wortgleich in der nach Therapieende gefertigten Bescheinigung der L. Ambulanz vom 1. September 2009 wieder. Zusätzlich heißt es dort, der Kläger wolle sich im Anschluss an die Drogentherapie selbständig machen und seine Rolle als Familienvater weiterhin intensiv wahrnehmen. Seine Frau erwarte ein weiteres Kind, was ihm zusätzliche Motivation gebe, die Abstinenz aufrechtzuerhalten.

Der Eindruck einer positiven Entwicklung des Klägers wird schließlich gestützt durch den Bericht der Familienhelferin H. vom 20. Januar 2009. Wenngleich der Berichtszeitraum gerade einmal ca. sechs Monate umfasst, zeichnet er doch ein durchweg günstiges Bild der Familie des Klägers und auch seiner selbst nach Ende der Drogentherapie. Eingerichtet worden ist die sozialpädagogische Familienhilfe am 15. Juli 2008 vor dem Hintergrund der Suchtproblematik. Inhalt ist die Beratung der Eltern in Erziehung und Versorgung der Kinder sowie die Unterstützung in behördlichen Fragen. Nach dem Eindruck der Familienhelferin kümmern sich die Eltern liebevoll und aufmerksam um beide Kinder. Der Kläger unternehme sehr viele Anstrengungen, um sich hier beruflich zu integrieren, was ihm durch gute deutsche Sprachkenntnisse erleichtert werde. Er arbeite aktuell beim Winterdienst auf der Basis geringfügigen Zuverdienstes, verfolge jedoch das große Ziel, seine Familie unabhängig von staatlicher Unterstützung versorgen zu können. Bezüglich der Suchtproblematik sei er stabil und zeige keine Anzeichen für einen Rückfall. Entsprechend den gerichtlichen Auflagen nehme er Termine bei seinem Bewährungshelfer wahr, kümmere sich um die geforderten Kontrolluntersuchungen bzw. Drogenscreening und nutze seine Selbsthilfegruppe u.a. zur Rückfallprophylaxe. Abschließend kommt die Familienhelferin zu der Einschätzung, dass die Entwicklung speziell des Klägers einen positiven Verlauf nehme, sowohl was die Versorgung und Erziehung der Kinder betreffe als auch hinsichtlich der Bemühungen um eine Integration in die hiesige Gesellschaft. Das Verhalten des Klägers während der Strafvollstreckung und nach der Haftentlassung hat nach Auffassung des Gerichts gezeigt, dass es ihm gelungen ist, die Haftzeit für eine grundlegende Lebenswende zu nutzen, welche die Prognose rechtfertigt, dass er zukünftig wahrscheinlich keine schweren Straftaten im Betäubungsmittelbereich mehr begehen wird. Hieran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass ein erster Versuch, vermittels einer Teilnahme am Methadonprogramm von seiner Heroinsucht freizukommen, gescheitert ist. Seine Erklärung für den Misserfolg ist plausibel. Eine Wiederholung dieses Geschehens droht nicht ernstlich. Allein die damals versuchte Umstellung auf Methadon begleitet lediglich von einer ambulanten hausärztlichen Betreuung erscheint bereits auf den ersten Blick wenig erfolgversprechend. Die Bemühungen um ein drogenfreies Leben sind im Rahmen der Strafvollstreckung erheblich intensiviert worden und gingen mit stationären Behandlungen einher, erfolgten aber auch danach mit fachkundiger Unterstützung und zeitigten allem Anschein nach Erfolg, selbst wenn ein Restrisiko verbleibt. Eine positive Prognose erfordert indessen keinen - ohnehin kaum je denkbaren - weitgehend sicheren Ausschluss zukünftiger Delinquenz, sondern lediglich das Fehlen von Anhaltspunkten für eine gegenwärtige konkrete Wiederholungs- bzw. Rückfallgefahr. Sollte der Kläger dem in ihn gesetzten Vertrauen wider Erwarten nicht gerecht werden, steht es der Beklagten im Übrigen frei, neuerlich in eine Widerrufsprüfung einzutreten. [...]