VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 24.11.2009 - VG 33 L 227.09 A - asyl.net: M16635
https://www.asyl.net/rsdb/M16635
Leitsatz:

Vorbeugender Eilrechtsschutz gegen Dublin-Überstellung nach Griechenland.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Griechenland, Zustellung, Rechtsschutzinteresse, Konzept der normativen Vergewisserung
Normen: VwGO § 123 Abs. 1, AsylVfG § 34a Abs. 2, AsylVfG § 27a, GG Art. 16a Abs. 2 S. 1, AsylVfG § 26a Abs. 2, EG VO Nr. 343/2003 Art. 10 Abs. 1, AsylVfG § 31 Abs. 1 S. 2, AsylVfG § 31 Abs. 1 S. 4, AsylVfG § 31 Abs. 1 S. 5, VwGO § 80 Abs. 7
Auszüge:

[...]

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO hat Erfolg. Er ist nicht wegen eines gemäß § 123 Abs. 5 VwGO vorrangig zu stellenden Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 VwGO unzulässig, weil ein Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, in dem der Asylantrag für unzulässig erklärt und die Abschiebung nach Griechenland angeordnet wird, §§ 27 a, 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, noch nicht existiert. Der Umstand, dass ein solcher Bescheid des Bundesamtes noch nicht existent und noch nicht (einmal) als Entwurf der Akte zu entnehmen ist, macht den Eilantrag auch nicht als verfrüht wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnis unzulässig. Dem Gericht ist aus anderen Verfahren bekannt, dass das Bundesamt trotz mehrerer Beschlüsse des BVerfG (vom 8. September 2009 - 2 BvQ 56/09 -, vom 23. September 2009 - 2 BvQ 68/09-, vom 9. Oktober 2009 - 2 BvQ 72/09 -, zuletzt vom 5. November 2009 - 2 BvQ 77/09 -) gleichwohl beabsichtigt(e), die Antragsteller nach §§ 27 a, 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zu bescheiden und nach Griechenland abschieben zu lassen. In einem Abänderungsverfahren gemäß § 80 Abs. 7 VwGO hat das Bundesamt zudem die ausdrückliche Bitte des Einzelrichters, eine Abschiebung nach Griechenland mit Blick auf die Beschlüsse des BVerfG bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache auszusetzen,. abgelehnt. Im vorliegenden Fall deutet nichts darauf hin, dass das Bundesamt sich nunmehr anders verhalten und von einer Anordnung der Abschiebung des Antragstellers nach Griechenland absehen will. Auf gerichtliche Aufforderung vom 19. Oktober 2009, dem Bundesamt zugestellt am 21. Oktober 2009, zum Eilantrag des Antragstellers binnen vier Tagen Stellung zu nehmen, erfolgte bis heute keine Reaktion. Am 22. Oktober 2009 stellte das Bundesamt mit der Bitte um dringende Antwort bis 6. November 2009 ein Übernahmeersuchen an Griechenland und gab auch auf die gerichtliche Aufforderung vom 13. November 2009, den zwischenzeitlich entstandenen Restvorgang zur Asylverfahrensakte zu übersenden, nicht zu erkennen, nunmehr im Falle des Antragstellers von einer Abschiebung nach Griechenland abzusehen. Dem Antragsteller ist es nicht zuzumuten, zunächst vor Stellung eines Eilantrags die Zustellung eines solchen Bescheides nach §§ 27 a, 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG abzuwarten, denn angesichts der gemäß § 31 Abs. 1 Sätze 2, 4 und 5 AsylVfG gesetzlich möglichen und regelmäßig vorgesehenen kurzfristigen Zustellung wäre die Gewährung effektiven Rechtsschutzes nicht möglich. [...]

Es kann an dieser Stelle offen bleiben, ob mit einem Teil der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung unter Berücksichtigung vorhandener Erkenntnisquellen da von auszugehen ist, dass Asylbewerber derzeit in Griechenland generell gravierenden Schwierigkeiten hinsichtlich des Zugangs zum Asylverfahren, dessen Durchführung und der Sicherung ihres Lebensunterhalts ausgesetzt sind (so. z.B. VG Düsseldorf, Beschluss vom 22. Dezember 2008 - 13 L 1993/08.A -; VG Berlin, Beschluss vom 27. Februar 2009 - VG 34 L 57.09 A -; VG Gießen, Beschluss vom 22. April 2009 - 1 L 775/09.GI.A -; Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Beschluss vom 12. August 2009 - 9 B 37/09 -). Ebenso ist unerheblich, inwieweit der Antragsteller sich auf allgemein gehaltene Rügen hinsichtlich der Ausgestaltung und Umsetzung des Flüchtlingsschutzes in Griechenland beschränkt oder auch konkrete Umstände zur Art seiner Behandlung dort als Flüchtling vorträgt. Weiter muss der Umstand, dass der Antragsteller offenbar von Anfang an beabsichtigte, nach Deutschland zu gelangen, wo ein Bruder von ihm lebt, nicht bewertet werden. Auch wenn es schließlich - wie die Beigeladene vorträgt - so sein mag, dass ihm nach der Abschiebung aus der Bundesrepublik Deutschland in Griechenland eher eine größere Aufmerksamkeit zu Teil werden würde als anderen Asylbewerbern, geht das Gericht von einem die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zulassenden Sonderfall im Hinblick darauf aus, dass das Bundesverfassungsgericht nunmehr in mehreren Eilverfahren die Vollziehung von Abschiebungen nach Griechenland vorläufig untersagt hat (vgl. die oben zitierten Beschlüsse). Auf zwischen dem verfassungsprozessualen und verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutz bestehende Unterschiede kommt es dabei nicht an. Entscheidend für die ausnahmsweise anzunehmende Zulässigkeit verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutzes ist, dass das Bundesverfassungsgericht unter Berücksichtigung umfangreichen Beschwerdevorbringens zur Situation von Asylantragstellern in Griechenland Anlass zur Untersuchung sieht, ob und gegebenenfalls welche Vorgaben das Grundgesetz für die fachgerichtliche Prüfung der Grenzen des Konzepts der normativen Vergewisserung bei der Anwendung von § 34 a Abs. 2 AsylVfG trifft, wenn Gegenstand des Eilrechtsschutzantrags eine beabsichtigte Abschiebung in einen nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 zuständigen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften ist. Der Entscheidung ist eine über den Einzelfall hinausgehende Tragweite beizumessen (VG des Saarlandes, Beschluss vom 15. September 2009 - 2 L 876/09 -). Vor dem Hintergrund, dass das Bundesverfassungsgericht auf die Verfassungsbeschwerden und Eilanträge von vor den Verwaltungsgerichten unterlegenen Antragstellern Abschiebungen nach Griechenland untersagt, erscheint es nur folgerichtig, wenn bereits zuvor im fachgerichtlichen Verfahren vorläufiger Rechtsschutz nicht von vornherein in Anwendung des § 34 Abs. 2 AsylVfG ausgeschlossen wird. [...]