VG Leipzig

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Zitieren als:
VG Leipzig, Beschluss vom 10.02.2010 - A 1 L 18/10 - asyl.net: M16625
https://www.asyl.net/rsdb/M16625
Leitsatz:

Vorbeugender Eilrechtsschutz vor einer Dublin-Überstellung nach Griechenland.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Griechenland, Abschiebungsanordnung, Zustellung, Rechtsschutzinteresse, Selbsteintritt
Normen: VwGO § 123 Abs. 1, EG VO Nr. 343/2003 Art. 17, EG VO Nr. 343/2003 Art. 20 Abs. 1, AsylVfG § 34a Abs. 1 S. 1, GG Art. 19 Abs. 4, AsylVfG § 27a, AsylVfG § 31 Abs. 1 S. 5, AsylVfG § 34a Abs. 2
Auszüge:

[...]

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO ist zulässig. Entgegen dem Vortrag der Antragsgegnerin fehlt dem Antragsteller nicht das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Nach dem in der Verwaltungsakte enthaltenen Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom 22.12.2009 ist der Asylantrag des Antragstellers unzulässig (Ziffer 1). In Ziffer 2 wird die Abschiebung des Antragstellers nach Griechenland angeordnet. Eine Kopie dieses Bescheides hat der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers aus der übersandten Kopie der Bundesamtsakte entnommen. Zwar wurde dieser Bescheid dem Antragsteller noch nicht zugestellt, allerdings ergibt sich aus dem Bescheid nicht, dass es sich lediglich um einen "Entwurf" handeln soll, wie dies die Antragsgegnerin vorträgt. Dem Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers steht auch nicht entgegen, dass ihm die Überstellung nach Griechenland durch die Antragsgegnerin bislang noch nicht konkret in Aussicht gestellt worden ist. Denn Griechenland hat auf das entsprechende Aufnahmeersuchen der Antragsgegnerin vom 23.10.2009 gemäß Artikel 17 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.2.2003 (sog. Dublin II-Verordnung) nicht reagiert, so dass die Zustimmung zur Wiederaufnahme gemäß Art. 20 Abs. 1 Dublin II-VO nunmehr fingiert ist. Schließlich hat auch die Antragsgegnerin in ihrer Antragserwiderung nicht erklärt, von einer Abschiebung des Antragstellers absehen zu wollen, obwohl sie ausdrücklich durch das Gericht gebeten wurde zu prüfen, ob sie von sich aus auf eine Abschiebung des Antragstellers nach Griechenland verzichte, dies unter Hinweis auf die aktuelle Rechtsprechung, insbesondere des Bundesverfassungsgerichts zur Abschiebung nach Griechenland auf der Grundlage der Dublin II-VO. Angesichts dieser Umstände kann der Antragsteller nicht darauf verwiesen werden, zunächst die Mitteilung des Termins der Abschiebung oder gar die Zustellung eines Bescheides nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG abzuwarten. Im Hinblick auf die verfassungsmäßige Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz - GG - besteht vielmehr schon jetzt ein Rechtsschutzbedürfnis. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der vom Bundesamt offensichtlich geübten Praxis, den Bescheid nach § 27a, § 34a AsylVfG auf der Grundlage der Regelung des § 31 Abs. 1 Satz 5 AsylVfG - grundsätzlich - durch die für die Abschiebung zuständige Ausländerbehörde erst am Tag der Abschiebung/Überstellung an den Ausländer zuzustellen. Diese auf Vereitelung effektiven Rechtsschutzes geübte Praxis ist weder durch § 31 Abs. 1 Satz 3 bis 5 AsylVfG gedeckt noch bewegt sich diese generelle Vorgehensweise innerhalb der gesetzlichen Grenzen des Ermessens (vgl. so bereits VG Hannover, Beschl. v. 10.12.2009 - 13 B 6047/09 -, Asylmagazin 2010, 27; NdsOVG, Beschl. v. 6.1.2010 - 11 ME 588109 -: VG Düsseldorf, Beschl. v. 14.10.2009 - 18 L 1542/09.A -, Asylmagazin 11/2009; 24; Beschl. v. 8.12.2009 - 13 L 1840/09.A, lnfAuslR 2010, 85; VG Berlin, Beschl. v. 22.10.2009 - 33 L 225.09A -; Asylmagazin 11/2009, 24).

Der Zulässigkeit des Antrags steht auch § 34a Abs. 2 AsylVfG nicht entgegen. Hiernach darf die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat, der - wie hier - auf dem Wege des § 27a AsylVfG ermittelt worden ist, nicht nach § 80 oder § 123 VwGO ausgesetzt werden. Es ist bereits fraglich, ob der Rechtsmittelausschluss des § 34a Abs. 2 AsylVfG hier überhaupt greift. Denn nach dieser Norm darf "nur" die nach Abs. 1 dieser Bestimmung angeordnete Abschiebung nicht verwaltungsgerichtlich ausgesetzt werden. Damit wird jedoch die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen eine Abschiebung bzw. Überstellung nicht für den Fall ausgeschlossen, dass die Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 AsylVfG - wie hier - noch nicht wirksam zugestellt, die Abschiebung also i.S.d. § 34a AsylVfG noch nicht angeordnet worden ist (vgl. NdsOVG Beschl. v. 6.1.2010, a.a.O.). Erst recht gilt der Rechtsmittelausschluss des § 34a Abs. 2 AsylVfG dann nicht, wenn es sich - wie die Antragsgegnerin vorträgt - tatsächlich bei dem Bescheid vom 22.12.2009 nur um einen "Entwurf" handeln sollte.

Selbst wenn § 34a Abs. 2 AsylVfG vorliegend schon Anwendung finden würde, steht dies der Statthaftigkeit des Antrags hier nicht entgegen. Denn in verfassungskonformer Auslegung des § 34a Abs. 2 AsylVfG kommt vorläufiger Rechtsschutz in Form der vorläufigen Untersagung der Abschiebung nach § 123 VwGO dann in Betracht, wenn eine die konkrete Schutzgewährung nach § 60 Aufenthaltsgesetz - AufenthG - in Zweifel ziehende Sachlage im für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gegeben ist. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht im Urteil vom 14.5.1996 (NVwZ 1996, 700) unter Bezeichnung einzelner Fallgruppen Ausnahmefälle benannt, in denen der Ausschluss einstweiligen Rechtsschutzes nicht greift. Dies ist bei der Abschiebung nach Griechenland als den für die Durchführung des Asylverfahrens nach der Dublin II-VO zuständigen Staat der Fall. Spätestens seit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 8.9.2009 (2 BvQ 56/09, InfAuslR 2009, 472) und auch dem aktuellen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 8.12.2009 (2 BvR 2780/09, InfAuslR 2/2010, 82) mit welchem die Vollziehung der Abschiebung nach Griechenland vorläufig untersagt wurde, ohne sich daran durch Art. 16a Abs. 2 Satz 3 GG und § 34a Abs. 2 AsylVfG gehindert zu sehen, wird in der Rechtsprechung der Ausschluss einstweiligen Rechtsschutzes nach § 34a Abs. 2 AsylVfG bei einer Abschiebung/Überstellung nach Griechenland verneint (vgl. NdsOVG, Beschl. v. 19.11.2009 - 13 MC 166/09 -, InfAuslR 2/2010, 83 [84], OVG NW, Beschl. v. 7.10.2009 - 8 B 1433/09.A -, NVwZ 2009, 1571; VG Oldenburg, Beschl. v. 9.11.2009 - 3 B 2837/09 -; Asylmagazin 12/2009, 28 [29], VG Düsseldorf, Beschl. v. 8.12.2009, a.a.O.). Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass sich die Situation des Antragstellers in Griechenland besser darstellen würde als die Situation der Asylbewerber in den vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fällen. Die Ausführungen des Bundesamtes im Bescheid vom 22.12.2009 zur Situation des Asylbewerber in Griechenland ignorieren die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit dem 8.9.2009 sowie die im Anschluss daran ergangenen verwaltungsgerichtlichen und oberverwaltungsgerichtlichen Entscheidungen und beziehen sich ausschließlich auf Rechtsprechung aus dem Jahr 2008. Im Hinblick auf Griechenland liegen jedoch ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass die flüchtlingsrechtlichen Gewährleistungen und die Verfahrenspraxis nicht an den Standard heranreichen, den der nationale Gesetzgeber bei der Einführung des § 27a AsylVfG mit Wirkung zum 28.8.2007 vor dem Hintergrund der Dublin II-VO voraussetzen durfte. Die jüngere Entwicklung in Griechenland führt zu keiner anderen Bewertung (vgl. im Einzelnen: VG Düsseldorf, Beschl. v. 8.12.2009, a.a.O., InfAuslR 2/2010, 85 [87]; OVG NW, Beschl. v. 7.10.2009, NVwZ 2009, 1571 [1572]; VG Frankfurt a.M., Beschl. v. 10.7.2009 - 12 L 1684/09.F.A, Asylmagazin 9/2009, 22). [...]