VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 25.01.2010 - 8 A 303/09.A - asyl.net: M16618
https://www.asyl.net/rsdb/M16618
Leitsatz:

In der afghanischen Provinz Logar herrscht derzeit ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Der Kläger wäre deshalb bei einer Rückkehr als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer "erheblichen individuellen Gefahr für Leib und Leben" gemäß § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG bzw. einer "ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens und der Unversehrtheit (...) infolge willkürlicher Gewalt" gemäß Art. 15 Bst. c der Qualifikationsrichtlinie ausgesetzt.

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Anmerkung der Redaktion: Dieses Urteil wurde vom BVerwG, Beschluss vom 14.7.2010 - 10 B 7.10 - (asyl.net, M17315) aufgehoben und zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

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Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Abschiebungshindernis, Afghanistan, Wiederaufnahme des Verfahrens, DVPA, tadschikische Volkszugehörigkeit, Kommunisten, Schiiten, Atheisten, Kolangar, Qualifikationsrichtlinie, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Paktia, Wardak, Logar, interner Schutz, Kabul
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2, RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 3, AsylVfG § 71 Abs. 1, VwVfG § 51
Auszüge:

[...]

Die Voraussetzungen für ein solches absolutes Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, wonach - in Umsetzung des subsidiären Schutzes nach Art. 15c QRL - von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen ist, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist, sind im Falle des Klägers in Bezug auf Afghanistan gegeben.

In seiner Heimatregion, der Provinz Logar, herrscht derzeit ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt in Form von Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zwischen der afghanischen Regierungsarmee/ISAF/NATO einerseits und den Taliban und anderen oppositionellen Kräften andererseits. [...]

Die Provinz Logar liegt südlich der Region Kabul und hat im gebirgigen Osten eine kurze Grenze zum Nachbarland Pakistan. Die Provinz gehört noch zum "Herzland der Paschtunen", also noch zu dem östlich und südöstlich an Pakistan angrenzenden sog. Paschtunengürtel, über den Taliban- und Al Quaida-Kämpfer aus den Paschtunengebieten Pakistans nach Afghanistan einsickern. Der Kläger stammt aus dem Dorf Koshi in der Nähe der Stadt Kolangar an der Hauptverbindungsstraße nach Kabul, das im Tal des Logar-Flusses vor dem Gebirgszug liegt, über den die südöstliche Grenze zur Nachbarprovinz Paktia verläuft, die ihrerseits mit Khost eine lange Ostgrenze zu Pakistan hat.

Für die Nachbarprovinz Paktia hat der Senat mit Urteil vom 11. Dezember 2008 (a.a.O. juris Rdnrn. 69 ff.) mit u.a. folgenden Erwägungen einen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt angenommen:

Hier komme es zu einer Destabilisierung durch die Reinfiltration von Taliban und Al-Quaida, die aufgrund des zur Stammesloyalität verpflichtenden Ehrenkodex "Paschtunwali" großen Rückhalt bei den paschtunischen Stammesführern fänden. Paktia werde von Vertretern von Hilfsorganisationen oder ausländischen Militärs inzwischen als eine der gefährlichsten Gegenden der Welt beschrieben, so sei dessen Gouverneur am 10. September 2006 von den Taliban ermordet worden, die während der Beerdigung noch ein Selbstmordattentat verübt hätten. Sie gewännen im gesamten Südosten Afghanistans wieder an Stärke und betrachteten Paktia als Rückzugs- und Transitraum. Die Infiltration der Guerilla über die nahe pakistanische Grenze habe rapide zugenommen und in diesem paschtunisch geprägten Gebiet fänden vermehrt Überfälle und Selbstmordattentate der "Fundis der Neo-Taliban" statt. Die US- und NATO-Truppen sähen sich im Süden und Osten Afghanistans zusammen mit den Truppen der afghanischen Armee in einen heftigen Krieg verwickelt und seien nicht in der Lage, die Taliban zu besiegen. Die Angriffe der Taliban nähmen kriegsähnliche Dimensionen an. Sie genössen in diesen Regionen große Unterstützung durch die paschtunische Bevölkerung, die ihre islamistische Ideologie teile. Hier herrsche offener Krieg, häuften sich Selbstmordattentate und seien allein im Jahre 2006 nach Einschätzung von amnesty international über 2000 Menschen bei Anschlägen ums Leben gekommen, die meisten von ihnen Zivilisten. Auch nach dem letzten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7. März 2008 (Stand: Februar 2008) sei seit Frühjahr 2007 vor allem im Süden und Osten des Landes ein Anstieg gewaltsamer Übergriffe regruppierter Taliban und anderer regierungsfeindlicher Kräfte zu verzeichnen. Die Zahl der Selbstmordanschläge und Angriffe mit Sprengfallen von regierungsfeindlichen Kräften habe 2007 erheblich zugenommen. Die Anti-Terror-Koalition bekämpfe die radikal-islamistischen Kräfte vor allem im Süden, Südosten und Osten des Landes. Die Infiltration islamistischer Kräfte (u.a. Taliban) aus dem pakistanischen Paschtunengürtel nach Afghanistan sei ungebrochen.

Diese Einschätzung ist nach allgemeinen und insbesondere den Beteiligten des vorliegenden Verfahrens zugänglichen Quellen für die ebenfalls dem Osten Afghanistans zugehörige Heimatprovinz Logar des Klägers zutreffend, die allerdings zusätzlich noch die Besonderheit aufweist, dass sie unmittelbar südlich an die Region Kabul angrenzt.

Nach einer Meldung von "Focus online" vom 13. August 2008 sind an diesem Tage drei Mitarbeiterinnen einer Hilfsorganisation mit ihrem Fahrer auf der Hauptstraße 50 km südlich von Kabul bei der Stadt Pol-e-Alam in der Provinz Logar von Taliban erschossen worden. Vor rund einem Jahr seien bereits zwei Mitarbeiter derselben Hilfsorganisation in der gleichen Region getötet worden. In dieser Provinz habe sich die Sicherheitslage im Verlaufe des vergangenen Jahres verschlechtert.

Am 13. September 2008 ist nach der Monatschronik der AG Friedensforschung an der Uni Kassel der Gouverneur dieser Provinz mit drei Leibwächtern bei einem Bombenanschlag der Taliban auf dem Weg nach Hause getötet worden.

Nach Berichten von "Spiegel online", "Die Welt" und der "FAZ" vom 7., 9. und 22. Dezember 2008 lieferten sich alliierte Truppen im Herzland der Taliban, im zumeist paschtunischen Süden und Osten, nahezu täglich Gefechte mit den Taliban, die im Süden und Osten Afghanistans präsent seien, südlich und östlich der Hauptstadt Kabul über neue Stützpunkte verfügten und inzwischen die offene Feldschlacht vermieden und die Guerillataktik mit Sprengfallen und Hinterhalten bevorzugten. Die Sicherheitslage in Kabul und der unmittelbaren Umgebung habe sich im vergangenen Jahr immer weiter verschlechtert. Nach Informationen der "New York Times" habe die Zahl der Angriffe in der westlich der Hauptstadt gelegenen Provinz Wardak seit vergangenem Jahr um 58 % und in der südlich von Kabul gelegenen Provinz Logar um 41 % zugenommen. Teilweise kontrollierten die Taliban sogar die großen Ausfallstraßen, die Kabul mit dem Süden und Osten des Landes verbinden. Nach diesen Berichten soll die Präsenz der US-Armee als Reaktion auf diese Entwicklung Anfang 2009 in und um Kabul verstärkt und jeweils eine Brigade südlich und westlich in den angrenzenden Provinzen Logar und Wardak eingesetzt werden. Es werde erwartet, dass dadurch die Gewalt zunächst zunehme, dann aber nach und nach wieder abnehme.

In diesem Sinne berichtet die "FAZ" vom 22. Januar 2009, dass die Situation in Afghanistan in diesem Winter ganz besonders schwierig in den östlichen und südlichen Provinzen sei, dem traditionellen Siedlungsgebiet paschtunischer Stämme entlang der unwegsamen Grenze zum Nachbarland Pakistan. Diese Region sei schon früher Hochburg der islamistischen Taliban gewesen. Fast täglich gerieten dort ISAF-Patrouillen unter Feuer, explodierten an den Straßen ferngezündete Sprengsätze, rissen Selbstmordattentäter Zivilisten und Polizisten in den Tod. Der Blutzoll, den die Soldaten aus dem Westen entrichten müssten, sei noch nie so hoch gewesen. Während 2006 knapp 200 westliche Soldaten getötet worden seien, seien es 2008 knapp 300, seit Jahresbeginn seien schon weit mehr als ein Dutzend gefallen. Nach dem Vorbild der Aufständischen und Al-Quaida-Kommandos im Irak hätten die Aufständischen ihre Taktik im Sinne eines terroristischen Vorgehens transformiert. Der alltäglichen Bedrohung durch Sprengladungen fielen auch Zivilisten und afghanische Polizisten immer wieder zum Opfer, dies sei Teil der Strategie. Die Bevölkerung werde terrorisiert, Regierungsbeamte getötet, Mädchen auf dem Weg zur Schule mit Säure übergossen; so werde den Menschen jegliches Gefühl von Sicherheit geraubt. Die gestiegene Zahl von Attacken, Überfällen und Attentaten insbesondere im Osten und Süden des Landes richte sich insbesondere gegen die zunehmende Präsenz der US- und NATO-Truppen sowie der afghanischen Streitkräfte. Nach NATO-Statistiken seien im Jahre 2008 die Zwischenfälle mit Waffengewalt um 33 %, die Angriffe mit Sprengfallen um 27 %, die Angriffe auf afghanische Sicherheitskräfte um 119 % und Entführungen und Morde um 50 % gestiegen. Die Zahl der zivilen Toten sei um 40 bis 46 % angestiegen, wobei nach Angaben hoher NATO-Offiziere mehr Zivilisten von Aufständischen getötet würden als von der ISAF.

Nach einem Bericht von "Spiegel online" vom 5. Juli 2009 sind in der Provinz Paktika (südlich der Provinz Paktia) drei Stützpunkte der Alliierten von radikal-islamischen Aufständischen angegriffen, in der Provinz Paktia offensichtlich 16 Minenräumer entführt und in der Provinz Logar zwei Aufständische aufgegriffen worden, die zu einer aus dem pakistanischen Grenzgebiet heraus operierenden Taliban-Organisation gehörten.

Nach einem Bericht der "dts-Nachrichtenagentur" vom 9. Juli 2009 sind an diesem Tage in der Provinz Logar 25 Menschen bei einem Anschlag getötet worden, bei dem ein an einem Fahrzeug befestigter Sprengsatz in der Nähe einer Schule gezündet worden ist. Die Provinz Logar sei eine Hochburg der radikal-islamischen Taliban.

Diesem Bild entspricht auch der letzte Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 28. Oktober 2009 (Stand: Oktober 2009). Danach sei seit Frühjahr 2007 vor allem im Süden. Südosten und Osten des Landes ein Anstieg gewaltsamer Übergriffe neu gruppierter Taliban und anderer regierungsfeindlicher Kräfte zu verzeichnen. Die Zahl der Selbstmordanschläge und Angriffe mit Sprengfallen, die durch regierungsfeindliche Kräfte verübt würden, habe auch im 1. Halbjahr 2009 weiter zugenommen. Die Anti-Terror-Koalition bekämpfe die radikal-islamistischen Kräfte vor allem im Süden und Osten des Landes. Die Infiltration islamistischer Kräfte (u.a. Taliban) aus dem pakistanischen Siedlungsgebiet der Paschtunen nach Afghanistan halte an, das Rekrutierungspotential in afghanischen Flüchtlingslagern auf pakistanischem Territorium wie auch in Teilen der paschtunischen Bevölkerung im Süden und Osten scheine ungebrochen.

Letztlich bestätigt sich diese Einschätzung dadurch, dass nach einem Bericht der "FR" vom 19. Januar 2010 am Vortag, nachdem es seit Monaten immer wieder zu Angriffen gekommen sei, mehr als 20 Taliban-Kämpfer das schwer bewachte Regierungsviertel von Kabul angegriffen hätten, die Stadt über Stunden einer Kampfzone geglichen habe und erst nach fünf Stunden Entwarnung habe gegeben werden können.

Der Kläger wäre durch diesen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt in seiner Heimatprovinz Logar bei einer Rückkehr dorthin als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer "erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben" gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG bzw. einer "ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ... infolge willkürlicher Gewalt" gemäß Art. 15c QRL ausgesetzt. [...]