VG Augsburg

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Zitieren als:
VG Augsburg, Beschluss vom 01.02.2010 - Au 5 S 10.30014 - asyl.net: M16610
https://www.asyl.net/rsdb/M16610
Leitsatz:

Eilrechtsschutz im Dublin-Verfahren und Anspruch auf Wiedereinreise nach erfolgter Dublin-Überstellung nach Griechenland.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Griechenland, Handwurzeluntersuchung, Petition, Konzept der normativen Vergewisserung, Rechtsschutzinteresse, Folgenbeseitigungsanspruch, Altersfeststellung,
Normen: VwGO § 80 Abs. 5, AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, EG VO Nr. 343/2003 Art. 16 Abs. 1 Bst. c, EG VO Nr. 343/2003 Art. 3 Abs. 2, VwGO § 80 Abs. 5 S. 3, GG Art. 19 Abs. 4
Auszüge:

[...]

Für den Antrag besteht trotz vollzogener Abschiebung auch weiterhin ein Rechtsschutzbedürfnis, solange über die Abschlebungsanordnung im Hauptsacheverfahren noch nicht unanfechtbar entschieden ist (vgl. BVerwG vom 13.9.2005 Az. 1 VR 5/05; BVerwG vom 9.2.1995 Az. C 23.94; BayVGH vom 11.7.2006 Az. 19 CS 06.771). Denn es wäre widersprüchlich und letztlich mit dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes nicht zu vereinbaren, wenn das über das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu sichernde vorläufige Bleiberecht des Antragstellers durch den bloßen Umstand seiner Abschiebung erlöschen könnte (vgl. VGH BW vom 24.6.2008 Az. 11 S 1136/07). Dabei führt die Abschiebung auch nicht dazu, dass einer Wiedereinreise die Sperrwirkungen des § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG entgegenstünden. Denn - abgesehen davon, dass die Wiedereinreise zumindest über die Erteilung einer Betretenserlaubnis nach § 11 Abs. 2 AufenthG oder nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG über die Befristung der Wirkungen der Abschiebung ermöglicht werden könnte - enthält das Aufenthaltsgesetz keine Regelung, die die grundsätzlich allein aufgrund des faktischen Vollzugs der Abschiebung eintretende Sperrwirkung nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG auch für den Fall festschreibt, dass die Abschiebung aufgrund der Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs rückwirkend rechtswidrig wird (vgl. VGH BW vom 24.6.2008, Az. 11 S 1136/07).

1.2 Der Antrag ist auch begründet. [...]

Unter Berücksichtigung des Vorbringens des Antragstellers, der bisherigen Rechtsprechung der Kammer zur Überstellung von Asylbewerbern nach Griechenland auf der Grundlage der Dublin II-VO (vgl. zuletzt VG Augsburg vom 28.10.2009 Az. Au 09.30191) und insbesondere der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu diesem Themenkreis (BVerfG vom 2.12.2009 Az. 2 BvR 2879/09; BVerfG vom 10.12.2009 Az. 2 BvR 2767/09; BVerfG vom 8.12.2009 Az. 2 BvR 2780/09; BVerfG vom 13.11.2009 Az. 2 BvR 2603/09; BVerfG vom 9.10.2009 Az. 2 BvQ 72/09; BVerfG vom 23.9.2009 Az. 2 BvQ 68/09; BVerfG vom 8,9.2009 Az. 2 BvQ 56/09) sowie unter Berücksichtigung der gerichtsbekannten Stellungnahmen verschiedener Organisationen zur Situation von Asylantragstellern in Griechenland, ist im Hauptsacheverfahren unter anderem zu prüfen, ob und gegebenenfalls welche Vorgaben das Grundgesetz für die fachgerichtliche Prüfung der Grenzen des Konzeptes der normativen Vergewisserung trifft (vgl. BVerfG vom 14.5.1996 - a.a.O.), wenn eine Abschiebung in einen nach der Dublin II-VO zuständigen anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Gemeinschaften - hier Griechenland - Verfahrensgegenstand ist, und ob etwaige Vorgaben einer Überstellung nach Griechenland entgegenstehen. [...]

Diesen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, denen eine über den jeweils entschiedenen Einzelfall hinausgehende Tragweite beizumessen ist, schließt sich das erkennende Gericht an.

Danach fällt auch im hier zu entscheidenden Fall die gebotene Abwägung der Interessen zugunsten des Antragstellers aus. Das Interesse des Antragstellers, sich bis zur Entscheidung in der Hauptsache in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten zu dürfen, überwiegt vorliegend das öffentliche Interesse am weiteren Fernhalten des Ausländers von der Bundesrepublik Deutschland und den Nachteil, der bei einer sofortigen Wiedereinreise im Falle einer späteren Erfolglosigkeit des anhängigen Rechtsschutzverfahrens durch eine erneute Aufenthaltsbeendigung des Ausländers entstehen würde. Dabei kann es vorliegend dahingestellt bleiben, ob der Antragsteller, wie von ihm geltend gemacht, noch minderjährig ist. Zwar wurde an dem Antragsteller am 2. November 2009 mit seinem Einverständnis eine Röntgenuntersuchung der Handwurzel zur Altersbestimmung durchgeführt, aufgrund derer der mit der Untersuchung befasste Mediziner zu dem Ergebnis kommt, dass der Antragsteller mindestens 18 bzw. 19 Jahre alt sei. Unabhängig davon, ob allein die Röntgenuntersuchung der Handwurzel zur Altersbestimmung aus fachlicher Sicht als ausreichend anzusehen ist oder eventuell unter Berücksichtigung der Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin weitere körperliche Untersuchungen erfolgen sollen, änderte sich an der getroffenen Abwägungsentscheidung des Gerichts auch nichts, wenn der Antragsteller nicht - wie von ihm angegeben - erst 17 Jahre alt, sondern 18 bzw. 19 Jahre alt ist. [...]

Der Gewährung wirksamen vorläufigen Rechtsschutzes auch im Rahmen eines Folgenbeseitigungsanspruches kommt gerade dann eine besondere Bedeutung zu, wenn dem Antragsteller der Bescheid, der die Abschiebungsanordnung enthält, erst unmittelbar vor seiner Abschiebung ausgehändigt wird und ihm dadurch die Möglichkeit, gerichtlichen Eilrechtsschutz vor seiner Abschiebung in Anspruch zu nehmen, erheblich erschwert bzw. im Einzelhall sogar unmöglich gemacht wird. Im vorliegenden Fall wurde dem Antragsteller der streitgegenständliche Bescheid vom 26. November 2009 laut vorgelegter Empfangsbestätigung erst am Tag der Abschiebung, nämlich am 13. Januar 2010, persönlich ausgehändigt. Darüber hinaus hat die Bevollmächtigte des Antragstellers nachvollziehbar dargelegt, dass sie den Bescheid erst auf dem Postwege am 18. Januar 2010, also fünf Tage nach der Abschiebung des Antragstellers, erhalten hat.

2.2 Der Antrag ist auch begründet.

Die materielle Grundlage für den prozessual über § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO geltend zu machenden Anspruch auf die Ermöglichung einer Wiedereinreise bildet der allgemeine Folgenbeseitigungsanspruch (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 15. Auflage, § 80 RdNr. 176 m.w.N.). Die für einen solchen Anspruch notwendigen Voraussetzungen, nämlich dass durch die Vollziehung ein fortdauernder rechtswidriger Zustand herbeigeführt worden ist und die Folgenbeseitigung rechtlich und tatsächlich möglich ist, liegen vor. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 26. November 2009 führt zum rückwirkenden vorläufigen Wegfall der Vollziehbarkeit der Entscheidung über die Unzulässigkeit des Asylantrags nach § 27 a AsylVfG (Nr. 1 des Bescheides) und der daran anknüpfenden Abschiebungsanordnung nach § 34 a Abs. 1 AsylVfG (Nr. 2 des Bescheides), jedenfalls aber zu einem Vollstreckungshindernis und damit nicht nur zur Rechtswidrigkeit der Abschiebung, sondern auch des Fernhaltens des Antragstellers von der Bundesrepublik Deutschland.

Die Folgenbeseitigung ist tatsächlich möglich. Es kann davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller über seine Bevollmächtigte mit den zuständigen Behörden Kontakt aufnehmen wird und diese die Wiedereinreise des Antragstellers unter Übernahme der Kosten ermöglichen werden. Die Folgenbeseitigung ist auch nicht rechtlich unmöglich. Insbesondere steht der Wiedereinreise, wie oben bereits dargelegt, nicht die Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG entgegen. [...]