VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 16.09.2009 - 5 A 1196/09 - asyl.net: M16581
https://www.asyl.net/rsdb/M16581
Leitsatz:

Keine wesentliche Änderung der Sachlage seit 1994 im Hinblick auf die Rückkehrgefährdung von für die verbotene ENRK und die PKK aktiven Kurden, auch nicht im Hinblick auf die Gefährdung von durch sippenhaftähnlichen Maßnahmen bedrohte Kurden.

Schlagwörter: Widerruf, Widerrufsverfahren, Türkei, Kurden, ERNK, PKK, Sippenhaft, Änderung der Sachlage,
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Der Widerrufsbescheid des Bundesamtes vom 01. April 2009 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). [...]

Nach § 73 Abs. 1 AsylVfG ist die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (früher § 51 Abs. 1 AuslG) vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Das ist insbesondere der Fall, wenn sich die zum Zeitpunkt der Feststellung entscheidenden Verhältnisse maßgeblich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen Verfolgung droht (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.03.2007 - 1 C 21.06 - NVwZ 2007, S. 1089 und Urteil vom 01.11.2005 -1 C 21.04 - DVBl. 2006, S. 511). Beruft sich der anerkannte Flüchtling darauf, dass ihm bei Rückkehr in seinen Heimatstaat nunmehr eine gänzlich neue und andersartige Verfolgung drohe, ist dabei der allgemeine Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzuwenden (BVerwG, a.a.O. und Urteil vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243).

Hiervon ausgehend lässt sich eine wesentliche Änderung der Sachlage gegenüber dem Zeitpunkt des Anerkennungsbescheides am 19. Januar 1994 weder im Hinblick auf die Rückkehrgefährdung von (anerkanntermaßen) für die verbotene ERNK und die PKK aktiven Kurden noch im Hinblick auf die Gefährdung von durch sippenhaftähnliche Maßnahmen bedrohten Kurden feststellen. Die Verhältnisse haben sich zwischenzeitlich trotz der von der Beklagten dargestellten Reform in der Türkei nicht so gravierend geändert, dass an dieser Wertung nicht länger festgehalten werden müsste. Zwar ist dem Bundesamt zuzugeben, dass sich die innenpolitische Situation und die Sicherheitslage in der Türkei zwischenzeitlich schon deutlich gebessert haben. Insoweit erweist sich auch die Darstellung im angefochtenen Bescheid und in dem gerichtlichen Verfahren im Wesentlichen als zutreffend. Nach den oben genannten Maßstäben setzt die Rechtmäßigkeit eines Widerrufs aber voraus, dass sich die Verhältnisse im Herkunftsstaat tatsächlich in einer Weise geändert hätten (d.h. verbessert haben), dass sich eine für die Flucht maßgebliche Verfolgungsmaßnahme nach absehbarer Zeit mit hinreichender Sicherheit ausschließen lässt. Eine derartige Prognoseentscheidung lässt sich hier nicht treffen. Denn die Rechtsprechung des erkennenden Verwaltungsgerichts (vgl. z.B. Urteil vom 17.09.2007 - 5 A 5078/06 -) geht nach Auswertung aktueller Erkenntnismittel nach wie vor davon aus, dass es in der Türkei trotz der eingeleiteten Reformen immer noch zu menschenrechtswidriger Behandlung von inhaftierten Regimegegnern kommt, insbesondere, wenn sie der Begehung von Staatsschutzdelikten verdächtigt werden. Dies gilt vor allem für Personen, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten oder als Anstifter oder Aufwiegler angesehen werden. Gerade zu diesem Personenkreis zählte der Kläger nach Einschätzung des Gerichts und der Auswertung seiner Angaben im Asylverfahren, deren Grundlagen des anerkennenden Bescheids und der den Beteiligten bekannt gemachten gerichtlichen Erkenntnisquellen. Dabei ist von maßgeblicher Bedeutung, dass der Kläger den türkischen Sicherheitskräften offensichtlich als führendes ERNK-Mitglied und als Aktivist innerhalb der kurdischen Bewegung bekannt geworden ist, er in diesem Zusammenhang mehrfach in Gewahrsam geraten ist und auch gefoltert wurde und er nach glaubhaftem eigenem Bekunden auch bis zu seiner Ausreise von den Sicherheitskräften wegen verschiedener Anlässe gesucht wurde. Davon ist auch das Bundesamt in seinem Bescheid vom 19. Januar 1994 ausgegangen. Hinsichtlich der für diese Entscheidung maßgeblichen objektiven Verhältnisse in der Türkei lässt sich aus den aktuellen Erkenntnismitteln nicht eine wesentliche nachträgliche Veränderung feststellen. Vielmehr hat sich der Kampf der türkischen Sicherheitsbehörden gegen die PKK und ihre Nachfolgeorganisationen sowohl im Osten der Türkei als auch im Nordirak wieder erheblich verschärft. Diesbezüglich macht sich das Gericht die Würdigung der Erkenntnismittel in den obergerichtlichen Entscheidungen, die Bestandteil der den Beteiligten vom Gericht zur Verfügung gestellten Liste sind, zu eigen und verweist auf sie. Insbesondere vor diesem Hintergrund, dass die Auseinandersetzungen zwischen PKK und den türkischen Sicherheitskräften seit Juni 2004 wieder aufgeflammt sind und ein Anstieg von Übergriffen der Sicherheitskräfte erneut zu verzeichnen ist und der Verschärfung des Antiterrorgesetzes am 29. Juni 2006 als Reaktion auf die Zunahme der Spannungen im Südosten der Türkei kann jedenfalls nicht davon ausgegangen werden, dass der durch eigene politische Aktivitäten aufgefallene Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei Verfolgungsmaßnahmen nicht mehr ausgesetzt sein wird.

Das Bundesamt vermochte auch eine derartige Veränderung der speziell den Kläger betreffenden Verhältnisse nicht darzulegen und nachzuweisen. Daher ist weiter davon auszugehen, dass dem Kläger schon allein wegen seines regimefeindlichen Einsatzes in der Vergangenheit bei einer Rückkehr in die Türkei nach wie vor jedenfalls Festnahme und Verhör drohen, bei denen sich die Gefahr der Misshandlungen und Folter nicht mit hinreichender Sicherheit ausschließen lässt. Ob auch strafrechtliche Ermittlungen gegen ihn angestrengt werden oder er in den Genuss der Rechtsfolgen des Amnestiegesetzes kommen könnte, kann insoweit offen bleiben, denn aufgrund des jetzt wieder aktuellen Vorgehens der türkischen Sicherheitskräfte gegen die PKK kann nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen worden, dass er wegen seiner politischen Ansichten und der damit vermuteten PKK-Nähe zumindest mit einer Festnahme oder einem Verhör oder den oben erwähnten denkbaren Folgen zu rechnen hat. Dieser strenge Prognosemaßstab ist hier anzuwenden, da sich der Kläger nicht auf eine gänzlich neue oder andersartige Verfolgung, sondern auf die ursprüngliche Verfolgung wegen fortgesetzter Betätigung für die ERNK und die PKK beruft und die Unanfechtbarkeit des angefochtenen Bescheides gerade dies erfasst. [...]