SG Aachen

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Zitieren als:
SG Aachen, Urteil vom 13.01.2010 - S 19 AY 11/09 [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 92 f.] - asyl.net: M16553
https://www.asyl.net/rsdb/M16553
Leitsatz:

Einkommen und Vermögen von Haushaltsangehörigen ist nur nach § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG anrechenbar, wenn diese Familienangehörige sind. Der Begriff der Familienangehörigen ist hier mit Blick auf § 1a AsylbLG auf Ehegatten, Lebenspartner und minderjährige Kinder sowie unter Umständen auch Stiefeltern beschränkt.

Schlagwörter: Asylbewerberleistungsgesetz, Anrechnung von Einkommen und Vermögen, Familienangehörige, Haushaltsangehörige
Normen: AsylbLG § 7 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

[...]

Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG sind Einkommen und Vermögen, über das verfügt werden kann, von dem Leistungsberechtigten und seinen Familienangehörigen, die im selben Haushalt leben, vor Eintritt von Leistungen nach dem AsylbLG aufzubrauchen.

Die übrigen Haushaltsangehörigen sind keine Familienangehörigen der Klägerinnen im Sinne dieser Vorschrift. Es handelt sich - wie zwischen den Beteiligten unstreitig ist - um Onkel und Tante der Klägerin zu 1. sowie deren Kinder (die Verwandtschaftsbeziehung auch der Klägerin zu 2. zu den genannten Personen ist dem Gericht nicht verborgen, wird aber aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht näher ausgeführt).

Die Reichweite des Begriffs der Familienangehörigen i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG ist in seinen Einzelheiten sowohl in der Rechtsprechung als auch im Schrifttum umstritten (dediziert für die Einbeziehung von Onkel und Tante: Hessischer VGH, Beschluss vom 07.09.2004, 10 UE 600/04, juris; VG Hamburg, Beschluss vom 13.10.1998, 8 VG 3451/98).

Eine Legaldefinition fehlt sowohl in der Vorschrift selbst als auch im übrigen AsylbLG. Auf die zu Vorschriften außerhalb des AsylbLG, die diesen Begriff verwenden, entwickelten Grundsätze kann nach Auffassung der Kammer nicht zurückgegriffen werden. Das Recht verwendet den Begriff der Familie (von dem der hier interessierende Begriff der Familienangehörigen lediglich abgeleitet ist) auf den verschiedensten normenhierarchischen Ebenen (angefangen bei Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes, unter dessen spezifischen Familienbegriff nur Eltern und Kinder fallen, vgl. BVerfG, Beschluss vom 31.05.1978, 1 BvR 683/77 = BVerfGE 48, 327, 339) und vor allem in den unterschiedlichsten Regelungszusammenhängen (eine Juris-Recherche nach Rechtsvorschriften, die den Begriff "Familienangehörige" enthalten, fördert beinahe zweitausend Treffer zu Tage). Eine rechtsgebietsübergreifend konzipierte Definition ähnlich etwa der Verwandtschaft in § 1589 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) fehlt. Soweit etwa das OVG Nordrhein-Westfalen in der vom Beklagten angeführten Entscheidung (Urteil vom 01.03.2004,12 A 3543/01, juris) auf einen allgemeinen Sprachgebrauch verweist, sieht die Kammer hierin keinen ausreichenden normativen Anknüpfungspunkt, denn allgemeine Sprache und Rechtssprache können weit auseinanderfallen.

Insbesondere ist der Begriff des Familienangehörigen i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG nicht mit dem des Angehörigen in § 11 Abs. 1 Nr. 1 des Strafgesetzbuchs (StGB) gleichzusetzen. Hiergegen spricht bereits der völlig andere Regelungszweck des StGB. Dasselbe gilt für die Heranziehung von Vorschriften, deren inhaltlicher Bezug zum AsylbLG zwar enger ist, denen indes ebenfalls ein völlig anderer Regelungszweck zugrunde liegt. So enthält die vom OVG Nordrhein-Westfalen (a.a.O.) ebenfalls angeführte Regelung in § 16 Abs. 5 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) nicht - wie § 7 Abs. 1 AsylbLG - letztlich eine Vermutung gemeinsamen Wirtschaftens und gemeinsamer Bedarfsdeckung, sondern ist vielmehr Ausdruck des staatlichen Distanzgebots (ausführlich Lang, in: LPK-SGB X, 2. Aufl., 2007, § 16, Rn. 1 m.w.N.).

Ergibt die Auslegung verschiedener (nicht einschlägiger) Legaldefinitionen des (Familien-) Angehörigebegriffs jedenfalls kein einheitliches Bild, so erscheint sowohl unter systematischen als auch unter teleologischen Aspekten eine Auslegung anhand von § 1a AsylbLG und § 1 Abs. 1 Nr. 6 AsylbLG vorzugswürdig (so auch bereits Urteil der Kammer in ihrer früheren Besetzung vom 18.06.2008 S 19 AY 5/08). § 1a AsylbLG spricht von bestimmten Leistungsberechtigten "und ihre(n) Familienangehörige(n) nach § 1 Abs. 1 Nr. 6", d.h. von Ehegatten, Lebenspartnern oder minderjährigen Kindern.

Dies indiziert nach Auffassung der Kammer zumindest, dass das Tatbestandsmerkmal der Familienangehörigkeit i.S.d. § 7 Abs. 1 AsylbLG entweder eine Ehe (oder eine eheähnliche Lebenspartnerschaft), eine Verwandtschaft in gerade Linie i.S.d. § 1589 Satz 1 BGB bzw. eine entsprechende Schwägerschaft (§ 1590 BGB) oder aber ein entsprechendes tatsächliches Verhältnis (sog. Stiefelternfälle) voraussetzt (vgl. bereits VG Düsseldorf, Urteil vom 29.06.2001, 13 K 2527/99; VG Trier, Urteil vom 31.05.1995, 5 K 2121/94). Gestützt wird dieser Befund durch die in § 7 Abs. 3 AsylbLG angeordnete Legalzession (auch hierzu Urteil der Kammer, a.a.O.): Erfasst werden von dieser Vorschrift im Bereich der Familie (i.w.S.) vor allem Unterhaltsansprüche nach Bürgerlichem Recht, die indes nur zwischen Verwandten in gerader Linie bestehen (§ 1601 BGB). Noch stärker gestützt wird der Befund jedoch durch einen Vergleich sowohl mit dem Recht der Sozialhilfe nach dem Sozialgesetzbuch - Zwölftes Buch - (SGB XII) sowie der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch - Zweites Buch - (SGB II): Auch wenn der Gesetzgeber das Asylbewerberleistungsrecht mit Bedacht aus dem Sozialhilferecht ausgegliedert und in ein eigenes Regelungswerk überführt hat, finden sich hier wie dort nicht nur dieselben Grundsätze (insbesondere der Nachranggrundsatz), sondern auch parallele Rechtsfiguren. Eine davon ist die (widerlegliche) Vermutung, dass gewisse äußere Verhältnisse wie das Zusammenleben in einem Haushalt den Schluss auf ein gemeinsames Wirtschaften zulassen und deswegen die wirtschaftlichen Verhältnisse der Betroffenen nicht isoliert zu betrachten sind. Eine entsprechende Vermutung auch beim Zusammenleben mit Onkel, Tante und deren Kindern ordnet indes weder das SGB II noch das SGB XII an. Sie gehören nicht zum Katalog des § 7 Abs. 3 SGB II (oder dem des noch engeren § 19 Abs. 2 Satz 2 SGB XII). Auf Tatbestandsseite weiter gefasst ist die Vermutung in § 9 Abs. 5 SGB II, die indes einen für die anderen Angehörigen der Haushaltsgemeinschaft erheblich günstigeren "Selbstbehalt" vorsieht (Einzelheiten bei Mecke, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl., 2008, § 9, Rn. 57 ff.). Auch der Familienbegriff des bis zum 31.12.2004 uneingeschränkt geltenden Bundessozialhilfegesetzes (BSHG), dem die Begrifflichtkeit des AsylbLG historisch zugrundeliegt (ausführlich LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 19.06.2007, L 11 AY 80/06; im Anschluss daran auch SG Dortmund, Beschluss vom 05.09.2008, S 47 AY 191/08 ER) beschränkte sich auf eine Gemeinschaft von Eltern und Kindern.

Die Tatsache, dass der Onkel der Klägerin zu 1. zwischenzeitlich auch deren Vormund gewesen ist, ist für den hier streitigen Anspruch ohne Bedeutung. Dieser Umstand hat weder etwas an den verwandtschaftlichen Verhältnissen geändert, noch lässt sich hieraus auf ein dem Eltern-Kind-Verhältnis gleichzuachtendes besonderes persönliches Näheverhältnis schließen (SG Dortmund, a.a.O.), das eine analoge Anwendung von § 7 Abs. 1 AsylbLG rechtfertigen würde. [...]