OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 18.01.2010 - 8 ME 222/09 - asyl.net: M16547
https://www.asyl.net/rsdb/M16547
Leitsatz:

Zwischen dem 16-jährigen Sohn und den Eltern besteht eine schutzwürdige familiäre Lebensgemeinschaft. Ob die Unterstützung durch die Eltern zwingend notwendig ist oder auch durch Dritte geleistet werden könnte, ist im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 GG unerheblich. Auch der Einwand, der 16-jährige Antragsteller sei durch die Geburt seines Kindes und das Zusammenleben mit dessen Mutter selbst zum Familienoberhaupt geworden, hat keinen Einfluss auf die Schutzwürdigkeit des Familienverbundes mit seinen Eltern. Wegen der Vaterschaft des 16-Jährigen zu seinem deutschen Kind kann die bestehende familiäre Lebensgemeinschaft mit seinen Eltern auch nicht im Kosovo fortgeführt werden. Für die Eltern und minderjährigen Geschwister besteht daher bis zur Volljährigkeit des 16-jährigen Antragstellers ein rechtliches Abschiebungshindernis.

Schlagwörter: vorläufiger Rechtsschutz, Duldung, Schutz von Ehe und Familie, Abschiebungshindernis, Kosovo
Normen: GG Art. 6 Abs. 1, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1
Auszüge:

[...]

Die Abschiebung der Antragsteller zu 1. und 2. ist im vorliegenden Fall allerdings rechtlich unmöglich. Eine rechtliche Unmöglichkeit besteht unter anderem dann, wenn Art. 6 Abs. 1 und 2 GG der (zwangsweisen) Beendigung des Aufenthalts des Ausländers entgegensteht, weil es dem Ausländer nicht zuzumuten ist, seine familiären Bindungen durch Ausreise auch nur kurzfristig zu unterbrechen (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.6.2006 - 1 C 14.05 -, BVerwGE 126, 192, 197; Senatsbeschl. v. 6.1.2010 - 8 ME 217/09 -). [...]

Ausgehend von diesen Maßgaben besteht nach der im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage zwischen dem Antragsteller zu 3. und seinen Eltern, den Antragstellern zu 1. und 2., eine schutzwürdige familiäre Lebensgemeinschaft. Der Antragsteller zu 3. lebt noch im Haushalt seiner Eltern. Ausweislich der eidesstattlichen Versicherung der Kindesmutter, ..., unterstützen die Antragsteller zu 1. und 2. auch den Antragsteller zu 3. bei der Erziehung und Betreuung seines Kindes ... Dass diese Unterstützung zwingend notwendig ist und bejahendenfalls auch durch andere Dritte geleistet werden könnte, ist im Rahmen des Art. 6 Abs. 1GG unerheblich. Entscheidend ist nur, ob eine familiäre Lebensgemeinschaft - wie offenbar hier - tatsächlich gelebt wird. Dass der Antragsteller zu 3. sich zeitweise auch im Haushalt der Eltern der Mutter des gemeinsamen Kindes aufhält, steht der Annahme einer familiären Lebensgemeinschaft mit seinen Eltern nicht entgegen. Der Antragsteller zu 3. ist derzeit erst 16 Jahre alt. Auch wenn mit wachsender Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Kindes sich sowohl Methoden und Ziele von Pflege und Erziehung der Kinder ändern als auch Verantwortlichkeit und Sorgerecht der Eltern nach und nach zurücktreten (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.4.1989 - 2 BvR 1169/84 -, BVerfGE 80, 81, 90; v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 5. Aufl., Art. 6 Abs. 2 Rn. 159), ist der Antragsteller zu 3. schon wegen seiner Minderjährigkeit noch in besonderer Weise auf den Beistand und die Unterstützung seiner Eltern angewiesen. Denn die Familie als verantwortliche Elternschaft wird von der prinzipiellen Schutzbedürftigkeit des heranwachsenden Kindes bestimmt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 8.12.2005 - 2 BvR 1001/04 -, FamRZ 2006, 187, 188). Des weiteren ist maßgeblich zu berücksichtigen, dass den Antragstellern zu 1. und 2. nach § 1626 Abs. 1 BGB bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Antragstellers zu 3. umfassend die Ausübung der Personensorge - einschließlich des Aufenthaltsbestimmungsrechts nach § 1631 Abs. 1 BGB - und der Vermögenssorge obliegt. Diese elterliche Sorge wird durch den Beschluss des Amtsgerichts Tostedt vom 26. November 2009 - 14 F 350/09 SO - nicht berührt, denn dieser betrifft ausschließlich die Ausübung von Teilen der elterlichen Sorge in Bezug auf die Antragsteller zu 4. bis 6. Zudem ist der Antragsteller zu 3. nach einem Hirninfarkt vor vier Jahren zu 70 % schwerbehindert. Auch wenn offen ist, inwieweit diese Behinderung die Teilhabe des Antragstellers zu 3. am Leben konkret beeinträchtigt und er deshalb auf die besondere Unterstützung seiner Eltern angewiesen ist, ist hierin jedenfalls ein Umstand zu sehen, der das Bedürfnis des minderjährigen Antragstellers zu 3. nach Beistand und Unterstützung seiner Eltern noch verstärkt.

Wenn der Antragsgegner dem unter Bezugnahme auf Feststellungen seines Jugendamtes entgegenhält, die Antragsteller zu 1. und 2. übten keinen erzieherischen Einfluss mehr auf den Antragsteller zu 3. aus und unterstützten diesen auch nicht bei der Gestaltung seines Lebens, vielmehr lebe der Antragsteller zu 3. sein Leben schon seit 2008 wie ein Erwachsener und treffe seine Entscheidungen allein, stellt dies das Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft zwischen dem Antragsteller zu 3, und seinen Eltern nicht zwingend in Frage. Denn allein ein ggf. schwieriges Verhältnis zwischen dem 16jährigen Antragsteller zu 3. und seinen Eltern und eine - bedingt durch sein Alter und seine Vaterschaft - gewachsene Selbständigkeit des Antragstellers zu 3. führen jedenfalls nicht dazu, dass dieser den Schutz des familiären Zusammenlebens nach Art. 6 Abs. 1 GG verliert. Denn gerade in einer solchen Entwicklung können sich die veränderte Elternverantwortung und der Wechsel von der Erziehungsgemeinschaft hin zur ebenfalls schutzwürdigen familiären Beistandsgemeinschaft zeigen. Auch der weitere Einwand des Antragsgegners, der Antragsteller zu 3. sei durch die Geburt seines Kindes und das Zusammenleben mit der Kindesmutter selbst zum Familienoberhaupt geworden, hat keinen Einfluss auf den Schutz des Familienverbundes der Antragsteller zu 1., 2. und 3. Denn der grundgesetzliche Schutz der von diesen gebildeten Familie endet nicht allein dadurch, dass der Antragsteller zu 3. mit weiteren Personen eine "eigene" Familie gründet. [...]

Der damit eröffnete Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG begründet aber grundsätzlich keinen Unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt, sondern verpflichtet die Ausländerbehörde nur, bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren die bestehenden familiären Bindungen an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen und entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen zur Geltung zu bringen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 11.5.2007 - 2 BvR 2483/06 -, InfAuslR 2007, 336, 337; BVerfG, Beschl, v. 12.5.1987 - 2 BvR 1226/83 u.a. - BVerfGE 76, 1, 49 ff.). Für die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG ist die Frage, ob es dem anderen Familienangehörigen, hier dem Antragsteller zu 3., zumutbar ist, seine Eltern in ihr Herkunftsland zu begleiten, von erheblicher Bedeutung. Denn wenn die familiäre Lebensgemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland gelebt werden kann, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange zurück (vgl, BVerfG, Beschl. v. 18.4.1989 - 2 BvR 1169/84 - BVerfGE 80, 81, 95). Eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 GG liegt dagegen fern, wenn die Lebensgemeinschaft zumutbar auch im gemeinsamen Herkunftsland geführt werden kann. Denn Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistet nicht das Recht, die familiäre Lebensgemeinschaft in Deutschland zu führen, wenn dies auch in einem anderen Land zumutbar möglich ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.4.2009 - 1 C 3/08 -, NVwZ 2009, 1239, 1240).

In Anwendung dieser Grundsätze ist es nach der im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage dem Antragsteller zu 3. derzeit nicht zumutbar, seine Eltern, die Antragsteller zu 1. und 2., in ihr Heimatland zu begleiten, um dort die mit ihnen bestehende familiäre Lebensgemeinschaft fortzuführen. Denn der Antragsteller zu 3. hat glaubhaft gemacht, Vater des deutschen, am 7. April 2009 geborenen Kindes ... zu sein und mit diesem und der Kindesmutter, ..., tatsächlich in familiärer Lebensgemeinschaft in Deutschland zusammen zu leben. Im Hinblick hierauf hat der Antragsgegner im Schriftsatz vom 14. Dezember 2009 auch erklärt, er werde dem Antragsteller zu 3. eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 Satz 4 AufenthG erteilen, sobald dieser einen gültigen Pass vorlege, zumindest werde er den Antragsteller bis dahin dulden. Da keine Gründe ersichtlich sind, dass es dem deutschen Kind, ... zuzumuten wäre, Deutschland zu verlassen, kann der Antragsteller zu 3. seine ebenfalls von Art. 6 GG geschützte familiäre Lebensgemeinschaft mit seinem Kind ... nur in Deutschland fortführen. Da auch insoweit - insbesondere unter Berücksichtigung der noch nicht einmal ein Jahr alten Tochter des Antragstellers zu 3. (vgl. zu den geringen Anforderungen an das Bestehen einer schutzwürdigen familiären Lebensgemeinschaft und an die Unzumutbarkeit der vorübergehenden Trennung: BVerfG, Beschl. v. 23.1.2006 - 2 BvR 1935/05 -, NVwZ 2006, 682, 683) - keine Gründe ersichtlich sind, dass es dem Antragsteller zu 3. zuzumuten wäre, diese familiäre Lebensgemeinschaft zumindest vorübergehend aufzugeben, ist es diesem ebenso nicht zumutbar, seine Eltern in ihr Herkunftsland zu begleiten, um dort die mit ihnen bestehende familiäre Lebensgemeinschaft fortzuführen. Mangels hinreichend gewichtiger entgegenstehender Belange drängt die Pflicht des Staates, die Familie zwischen den Antragstellern zu 1., 2. und 3. zu schützen, daher entgegenstehende einwanderungspolitische Belange zurück. Die Abschiebung der Antragsteller zu 1. und 2. ist daher zumindest solange aus rechtlichen Gründen unmöglich, wie der Antragsteller zu 3. als Minderjähriger des besonderen Beistands und der besonderen Unterstützung durch seine Eltern, die Antragsteller zu 1. und 2., bedarf. Dieses Bedürfnis besteht nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage jedenfalls bis zum Erreichen der Volljährigkeit des Antragstellers zu 3. am 17. Juli 2011. [...]