VG Weimar

Merkliste
Zitieren als:
VG Weimar, Beschluss vom 11.12.2009 - 7 E 20173/09 We [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 80 f.] - asyl.net: M16534
https://www.asyl.net/rsdb/M16534
Leitsatz:

Aufschiebende Wirkung einer Klage gegen einen Dublin-Bescheid, da die Klägerin reiseunfähig ist. Das BAMF ist für die Prüfung inlandsbezogener Vollstreckungshindernisse zuständig.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Bundesverfassungsgericht, Konzept der normativen Vergewisserung, inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, Polen, Zuständigkeit, Reisefähigkeit, Posttraumatische Belastungsstörung, am 3/2010
Normen: VwGO § 80 Abs. 5, AsylVfG § 34a Abs. 2, GG Art. 16a Abs. 2, GG Art. 16a Abs. 1, AsylVfG § 26a, AsylVfG § 27a, GG Art. 16a Abs. 2
Auszüge:

[...]

Das normative Vergewisserungskonzept des Artikel 16a Abs. 2 Grundgesetz umfasst jedoch nur zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse. Vorliegend machen die Antragsteller jedoch inlandsbezogene Abschiebungshindernisse geltend, die von der Antragsgegnerin auch zu prüfen sind, da diese insoweit passivlegitimiert ist.

Im Falle der Zuständigkeit eines anderen Staates für die Durchführung des Asylverfahrens nach § 27a AsylVfG besteht ausnahmsweise eine umfassende Zuständigkeit des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge hinsichtlich aller der Aufenthaltsbeendigung entgegenstehenden Gesichtspunkte (ebenso: VG Karlsruhe, Beschluss vom 09.12.2008, Aktenzeichen 4 K 3916/08). Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge trifft nach § 27a AsylVfG die Entscheidung, dass der Asylantrag unzulässig ist, teilt dem Ausländer nach § 30 Abs. 6 AsylVfG mit, welcher Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und ordnet gemäß § 34a AsylVfG die Abschiebung in diesen Staat an. Die Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylVfG setzt zudem tatbestandsmäßig voraus, dass die Abschiebung in den sicheren Drittstaat in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht durchgeführt werden kann. Die umfassende Prüfungskompetenz des Bundesamtes lässt sich auch daran ablesen, dass dieses in den vorliegenden Fällen eine Abschiebungsanordnung erlässt, die voraussetzt, dass einer Abschiebung keine Gründe entgegenstehen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22.08.1996, Aktenzeichen 1 C 34.83; NVwZ 1997, 57). Anders als in den Fällen eines unbegründeten Asylantrages, in denen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nur die Abschiebung androht (§ 34 AsylVfG), ordnet es in den Fällen eines unzulässigen Asylantrages (§ 27a AsylVfG) die Abschiebung selbst an (§ 34a AsylVfG). Dementsprechend hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in der Nr. 1 des Tenors des Bescheides vom 06.05.2009 festgestellt, dass der Asylantrag der Antragsteller unzulässig ist und in Nr. 2 des Tenors des Bescheides vom 06.05.2009 die Abschiebung der Antragsteller nach Polen angeordnet. Die Anordnung der Abschiebung setzt jedoch nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG voraus, dass sie durchgeführt werden kann, was eine umfassende Prüfung der Möglichkeit einer Abschiebung der Antragsteller in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht erfordert. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen (vgl. BVerfG, Urteil vom 14.05.1996, Aktenzeichen 2 BvR 1938/93; BVerfGE 94, 49 ff), dass gegen den Vollzug der Abschiebungsanordnung gerichtete humanitäre und persönliche Gründe im Hinblick auf Art. 16a Abs. 2 Grundgesetz nicht ungeprüft bleiben dürfen. Zudem ist das Verfahren bei der Zuständigkeit eines anderen Staates für die Durchführung des Asylverfahrens auf eine zügige Durchführung der Abschiebung gerichtet, damit die Konstruktion der Drittstaatenregelung nach Art 16a Abs. 2 Grundgesetz nicht leer läuft. Die Auffassung, dass inländische Vollstreckungshindernisse von der hierfür zuständigen Ausländerbehörde bei der Abschiebung zu berücksichtigen seien (so VG Frankfurt, Beschluss vom 01.08.2002, 5 G 2082/02 oder VG Gießen, Urteil vom 22.08.2003, Aktenzeichen 2 E 2152/03. A) vermag deshalb vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Voraussetzungen einer Abschiebungsandrohung und einer Abschiebungsanordnung nicht zu überzeugen.

Vorliegend bestehen in der Person der Antragstellerin zu 1. inländische Abschiebungshindernisse die von der Antragsgegnerin zu prüfen und zu berücksichtigen sind.

Hierbei ist nicht auf den Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides der Antragsgegnerin vom 06.05.2009 abzustellen, sondern gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG auf den Zeitpunkt, in dem das Gericht die vorliegende Entscheidung gefällt hat.

Zur Überzeugung des Gerichts besteht derzeit ein inländisches Abschiebungshindernis in der Person der Antragstellerin zu 1., da diese zur Zeit nicht reisefähig ist.

Das psychosoziale Zentrum für Flüchtlinge, Refugio Thüringen hat in seiner psychologischen Stellungnahme vom 13.08.2009 und in seiner ergänzenden psychologischen Stellungnahme vom 25.11.2009 detailliert und nachvollziehbar dargelegt, dass in der Person der Antragstellerin zu 1. ein inländisches Abschiebungshindernis vorliegt. Aufgrund von Gesprächen, die die Diplompsychologin Katrin B. mit der Antragstellerin zu 1. unter Einschaltung geschulter, muttersprachlicher Dolmetscher geführt hat, kam die psychologische Psychotherapeutin Frau B. zu der Diagnose, dass die Antragstellerin zu 1. an einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung bei andauerndem starken Bedrohungsgefühl, einer schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome und dissoziativen Krampfanfällen leidet. Sie stützt ihre Diagnose auf die während der Gespräche beobachteten körperlichen Symptome und die Angaben der Antragstellern zu 1., wobei die Diplompsychologin Frau B. sich auch Gedanken hinsichtlich der Richtigkeit der Angaben der Antragstellerin zu 1. gemacht hat und diese anhand der Plausibilität der Schilderungen und der erkennbaren körperlichen Symptome überprüft hat. Aufgrund der Traumatisierung der Antragstellerin zu 1. beziehen sich deren ausgeprägten Ängste vor einer Verfolgung nicht nur auf ihr Heimatland Tschetschenien, sondern auch auf Polen. Die Antragstellerin zu 1. befürchtet, in Polen aufgefunden und umgebracht zu werden. Sie sieht deshalb ihr eigenes und das Leben ihre Kinder in Polen in ernster Gefahr. Im Falle einer Abschiebung nach Polen ist nach der nachvollziehbaren Einschätzung der Diplompsychologin Frau B. mit einer erheblichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Antragstellerin zu 1. zurechnen. Diese würde mit sehr großer Wahrscheinlichkeit eine panische Angst entwickein. Die panische Angst würde schließlich ein hohes Risiko für einen neuerlichen dissoziativen Krampfanfall darstellen. Im Vergleich zu weniger bedrohlich erscheinenden Konflikten z.B. einem Streit in der Gemeinschaftsunterkunft, bei der es bereits zu derartigen dissoziativen Krampfanfällen gekommen ist, würde sich eine Abschiebung für die Antragstellerin zu 1. als eine nicht mehr zu bewältigende, ausweglos erscheinende Situation darstellen. Die die Antragstellerin zu 1. untersuchende Diplompsychologin kommt weiterhin zu der Auffassung, dass ernste Suizidhandlungen im Falle einer Abschiebung der Antragstellerin zu 1. nach Polen nicht ausgeschlossen werden können. Sie schließt mit der Zusammenfassung, dass aus psychologischer Sicht eine erzwungene Rückführung nach Polen eine ernstzunehmende Gefahr für die Psyche und weitergehend sogar für das Leben der Antragstellerin zu 1. darstelle.

Hierbei kommt es nicht darauf an, ob die von der Antragstellerin zu 1. mit Polen assoziierten Gefahren für ihr eigenes Leben und das ihrer Kinder real sind, denn aufgrund des krankhaften psychischen Zustandes der Antragstellerin zu 1., der zur Überzeugung der untersuchenden psychologischen Psychotherapeutin durch eine in ihrem Heimatland erlittene Traumatisierung hervorgerufen wurde, ist die Antragstellerin zu 1 subjektiv davon überzeugt, dass ihr in Polen eine ernste Gefahr droht, wovon sie derart beeinflusst wird, dass es mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu dissoziativen Krampfanfällen bis hin zu einer Suizidhandlung kommen wird. Ebenfalls kommt es in diesem Zusammenhang nicht darauf an, ob posttraumatische Belastungsstörungen in Polen behandelt werden können. Vorliegend einzig entscheidend ist der Aspekt, dass die Antragstellerin zu 1. aufgrund des Umstandes, dass sie im Falle einer Abschiebung - wie sich aus der ergänzenden psychologischen Stellungnahme des psychosozialen Zentrums für Flüchtlinge, Refugio Thüringen vom 25.11.2009 für das Gericht zur Überzeugung ergibt - bereits im Inland mit dissoziativen Krampfanfällen und ernsthaften Suizidhandlungen reagieren wird. Bei einer derartig emsthaft drohenden Gefahr für die Gesundheit und das Leben ist die Reisefahigkeit der Antragstellerin zu 1. zur Zeit nicht gegeben.

Dieser Einschätzung steht die amtsärztliche Untersuchung der Antragstellerin zu 1. am 20.07.2009 nicht entgegen. Der amtsärztlichen Bescheinigung vom 20.07.2009 lässt sich entnehmen, dass bei der Antragstellerin zu 1. behandlungsbedürftige gesundheitliche Probleme bestehen, die die Reisefähigkeit nach Polen jedoch nicht beeinträchtigen sollen. Gleichzeitig wurde eine ambulante medizinische Betreuung im Zielland angeregt. Diese Bescheinigung ist für das Gericht mangels inhaltlicher Darlegung des Urnfanges der Untersuchung in keinster Hinsicht nachvollziehbar. Es ist insbesondere fraglich, in welchem Umfang auf die psychische Erkrankung der Antragstellerin zu 1. bei der amtsärztlichen Begutachtung eingegangen wurde. Auch ist nicht erkennbar, ob die Diplommedizinerin Frau L. über eine entsprechende Ausbildung verfugt, um psychische Erkrankungen insbesondere eine ernsthaft drohende Suizidgefahr im Falle einer Abschiebung sicher und umfassend diagnostizieren zu können. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass der relevante Zeitpunkt für die Entscheidung des Gerichtes gem. § 77 Abs. 1 AsylVfG der Zeitpunkt seiner Entscheidung über den vorliegenden Antrag der Antragsteller ist, wobei die amtsärztliche Bescheinigung bereits über viereinhalb Monate zurückliegt. Demgegenüber gibt die ergänzende psychologische Stellungnahme des psychosozialen Zentrums für Flüchtlinge, Refugio Thüringen vom 25.11.2009 den aktuellen Gesundheitszustand der Antragstellerin zu 1. wieder.

Zusammengefasst ist das Gerichtes deshalb überzeugt, dass die Antragstellerin zu 1. derzeit nicht reisefähig ist. [...]