VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 26.11.2009 - 8 A 429/08.A [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 63 f.] - asyl.net: M16526
https://www.asyl.net/rsdb/M16526
Leitsatz:

Trotz einer weiter verschlechterten Erkenntnislage zur Rückkehrsituation junger Afghanen in Kabul und anderen Regionen Afghanistans würde der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert. Es fehlt somit an einer für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderlichen Extremgefahr (Fortführung der Rechtsprechung, vgl. Urteil des Senats vom 7.2.08 - 8 UE 1913/06.A -, M12596). Anm. der Redaktion: Das Urteil ist rechtskräftig.

Schlagwörter: Afghanistan, Wiederaufnahme des Verfahrens, subsidiärer Schutz, Abschiebungsverbot, extreme Gefahrenlage, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Die Berufung ist auch begründet, denn entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts wäre der Kläger im Falle einer unfreiwilligen Rückkehr nach Afghanistan dort nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Lebensverhältnissen ausgesetzt, die als Extremgefahr im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. dessen Urteil vom 12. Juli 2001 - 1 C 2.01 -, BVerwGE 114, 349 = juris Rdnr. 9 m.w.N) anzusehen wären, so dass für ihn durch den Erlass des Hessischen Ministeriums des Innern und für Sport vom 27 Juli 2005 (StAnz. S. 3258) keine Regelungslücke im Hinblick auf anderweitigen Schutz nach §§ 60 Abs. 7 S. 3, 60a Abs. 1 S. 1 AufenthG entstanden ist, die durch eine verfassungskonforme Auslegung des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG zu schließen wäre. Insoweit kann auf die nach wie vor zutreffenden Ausführungen in dem Urteil des Senats vom 7. Februar 2008 - 8 UE 1913/06.A-, ESVGH 58, 251 = juris Rdnrn.13ff.) verwiesen werden. Der Senat ist aufgrund der seinerzeit zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen unter Berücksichtigung der persönlichen Lebensverhältnisse des damaligen Klägers zu dem Ergebnis gekommen, diesem Kläger drohe bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine zur Annahme einer verfassungswidrigen Regelungslücke führende Extremgefahr (vgl. juris, Rdnrn. 35 f.): [...]

Diese Einschätzung lässt sich trotz einer weiter verschlechterten Erkenntnislage zur Rückkehrsituation junger Afghanen in Kabul und anderen Regionen Afghanistans und aufgrund der persönlichen Verhältnisse des Klägers auf den vorliegenden Einzelfall übertragen.

Das Auswärtige Amt hat zwar in seinem Lagebericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Afghanistan vom 3. Februar 2009 mitgeteilt (vgl. dort S. 26 f.), Afghanistan durchlebe derzeit eine Nahrungsmittelkrise und gelte als ärmstes Land Asiens. Seit dem Winter 2007/08 habe sich die Lage mit weltweit steigenden Nahrungsmittelpreisen, verbunden mit Exportbeschränkungen der Nachbarländer für Weizen und einer Dürre in einigen Landesteilen, nochmals erheblich verschärft. In dem jüngsten vorliegenden Lagebericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Afghanistan vom 28. Oktober 2009 (vgl. dort S. 32) heißt es allerdings, aufgrund günstiger Witterungsbedingungen mit weit überdurchschnittlichen Niederschlägen seien die Ernteaussichten für das Jahr 2009 deutlich besser als im Dürrejahr 2008, woraus in diesem Jahr auch eine deutlich verbesserte Ernährungssituation bzw. Versorgung der Bevölkerung mit Weizen als wichtigstem Grundnahrungsmittel resultieren dürfte. Von diesen verbesserten Rahmenbedingungen profitierten grundsätzlich auch die Rückkehrer. Gleichwohl problematisch bleibe die Lage der Menschen in den ländlichen Gebieten, insbesondere des zentralen Hochlandes. In den Städten sei die Versorgung mit Wohnraum zu angemessenen Preisen nach wie vor schwierig. Staatliche soziale Sicherungssysteme seien praktisch nicht vorhanden, Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung gebe es nicht. Familien und Stammesverbände übernähmen die soziale Absicherung. Afghanen, die außerhalb des Familienverbandes oder nach einer längeren Abwesenheit im westlichen Ausland zurückkehrten, stießen auf größere Schwierigkeiten als Rückkehrer, die in Familienverbänden geflüchtet seien oder in einen solchen zurückkehrten, da ihnen das notwendige soziale oder familiäre Netzwerk sowie die notwendigen Kenntnisse der Verhältnisse fehlten. [...]

Zu dieser Risikogruppe im Falle einer unfreiwilligen Rückkehr nach Afghanistan und namentlich nach Kabul extrem gefährdeter afghanischer Staatsangehöriger gehört der Kläger nach Überzeugung des Senats nicht. Unabhängig von der Frage, ob der Kläger noch über familiäre Bindungen zu weiter entfernten Familienangehörigen in seinem Heimatland und insbesondere in Kabul verfügt, sind die persönlichen Voraussetzungen des Klägers für eine vergleichsweise gefahrlose Rückkehr in seinen Heimatort relativ günstig. Er hat sein Heimatland im Alter von 27 Jahren nach mit dem Abitur abgeschlossenem Schulbesuch und einer langjährigen selbständigen Berufstätigkeit als Kaufmann verlassen. Der Kläger hat bis zu seiner Ausreise immer in Kabul gelebt und ist mit den Lebensverhältnissen in Kabul aus persönlicher Erfahrung vertraut, so dass erwartet werden kann, dass er durch die Entfaltung eigener Aktivitäten für seinen Lebensunterhalt sorgen kann. Er ist durchaus zur flexiblen Wahrnehmung seiner Interessen in der Lage, was sich unter anderem in seiner Berufstätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland zeigt. Hinzu kommt, dass der Kläger über familiäre Bindungen in der Bundesrepublik Deutschland verfügt und von diesen Angehörigen finanzielle Unterstützung erwarten darf. [...]

Unter Berücksichtigung dieser Umstände ist zu erwarten, dass der inzwischen 35-jährige, alleinstehende Kläger mit den schwierigen Lebensverhältnissen in Afghanistan und speziell in Kabul auch ohne familiären Rückhalt weit besser zurechtkommen wird als andere potentielle Rückkehrer aus Westeuropa, die ohne Ortskenntnisse, ohne Schulausbildung und ohne berufliche Praxis den dort herrschenden chaotischen Wirtschafts- und Lebensverhältnissen hilflos ausgesetzt wären. [...]