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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 16.01.2010 - 2 BvR 2299/09 [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 97 ff.] - asyl.net: M16497
https://www.asyl.net/rsdb/M16497
Leitsatz:

Zur Zulässigkeit der Auslieferung an die Türkei zum Zwecke der Strafverfolgung wegen Staatsschutzdelikten, wenn eine Verurteilung zu einer sog. erschwerten lebenslänglichen Freiheitsstrafe droht. Die Auslieferung bei drohender Verhängung einer sog. erschwerten lebenslangen Freiheitsstrafe verstößt gegen unabdingbare Grundsätze der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung, soweit nicht nur eine Strafaussetzung zur Bewährung gesetzlich ausgeschlossen ist, sondern auch die bloß theoretische Möglichkeit einer späteren Begnadigung unter der rechtlichen Bedingung dauernder Krankheit, Behinderung oder des Alters steht.

Schlagwörter: Auslieferung, PKK, erschwerte lebenslange Freiheitsstrafe, Begnadigung, deutsche verfassungsrechtliche Ordnung
Normen: GG Art. 2 Abs. 1, GG Art. 1 Abs. 1, GG Art. 25, GG Art. 19 Abs. 4, GG Art. 103 Abs. 1
Auszüge:

[...]

II. Die Auslieferung bei drohender Verhängung einer sogenannten erschwerten lebenslangen Freiheitsstrafe verstößt gegen unabdingbare Grundsätze der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung, soweit diese erschwerte lebenslange Freiheitsstrafe so ausgestaltet ist, dass sie nicht lediglich eine Strafaussetzung zur Bewährung gesetzlich ausschließt, sondern auch die bloß theoretische Möglichkeit einer späteren Begnadigung unter die rechtliche Bedingung dauernder Krankheit, Behinderung oder des Alters stellt. [...]

Eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne die Möglichkeit einer Strafaussetzung zur Bewährung stellt als solche keine unerträglich harte oder unmenschliche Strafe dar, die einer Auslieferung entgegensteht, wie das Bundesverfassungsgericht für den Fall einer Auslieferung an die Vereinigten Staaten von Amerika bei dort drohender Verurteilung zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe ("imprisonment in the state prison for life without the possibility of parole") entschieden hat (vgl. BVerfGE 113, 154 163 f.>).

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gehört es zu den Voraussetzungen eines menschenwürdigen Strafvollzugs, dass dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten grundsätzlich eine Chance verbleibt, je wieder der Freiheit teilhaftig zu werden (BVerfGE 45, 187 229 und Leitsatz 3 Satz 1>; 113, 154 164>). Es ist danach mit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) unvereinbar, wenn ein Verurteilter in der Strafhaft ungeachtet seiner persönlichen Entwicklung jegliche Hoffnung, seine Freiheit wiederzuerlangen, aufgeben muss (vgl. BVerfGE 45, 187 245>). Dies gilt auch im Falle einer Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe und der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld, wenngleich im Einzelfall - verfassungsrechtlich unbedenklich - lebenslange Freiheitsstrafen tatsächlich auch bis zum Lebensende vollstreckt werden können (vgl. BVerfGE 64, 261 272>). Fallgestaltungen, die es strikt verwehrten, dem innerlich gewandelten, für die Allgemeinheit ungefährlich gewordenen Gefangenen auch nach sehr langer Strafverbüßung, selbst im hohen Lebensalter, die Wiedergewinnung der Freiheit zu gewähren, und ihn damit auch von vornherein zum Versterben in der Haft verurteilten, sind dem Strafvollzug unter der Herrschaft des Grundgesetzes allerdings grundsätzlich fremd (vgl. BVerfGE 64, 261 272>; 113, 154 164>; zu den besonderen Umständen der Sicherungsverwahrung und den aus dem hohen Rang des Freiheitsrechts folgenden besonderen Anforderungen an das regelmäßige Überprüfungsverfahren des Fortbestands des Sicherungsinteresses, vgl. BVerfGE 117, 71 102 f.>).

Für den Strafvollzug im Geltungsbereich des Grundgesetzes genügt zwar nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das Institut der Begnadigung allein nicht, um die verfassungsrechtlich unaufgebbare Aussicht auf Wiedererlangung der Freiheit in einer Weise abzusichern, die rechtsstaatlichen Anforderungen entspricht. Vielmehr folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip für die Strafvollstreckung in Deutschland das Erfordernis einer gerichtlich kontrollierbaren und kontrollierten Entlassungspraxis. Die Voraussetzungen, unter denen die Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe ausgesetzt werden kann, und das dabei anzuwendende Verfahren sind gesetzlich zu regeln (vgl. BVerfGE 45, 187 243 ff. und Leitsatz 3 Satz 2>). Im Auslieferungsverkehr mit dem ersuchenden Staat kommt es demgegenüber nur darauf an, dass in dessen Rechtssystem jedenfalls eine praktische Chance auf Wiedererlangung der Freiheit besteht. Verfahrensrechtliche Einzelheiten, mit denen diese praktische Chance auf Wiedererlangung der Freiheit in Deutschland verstärkt und gesichert wird, müssen dafür nicht erfüllt werden. Sie gehören nicht zu den unabdingbaren Grundsätzen der deutschen Verfassungsordnung (vgl. BVerfGE 113, 154 165>).

b) Eine Strafe ist allerdings auch unter Berücksichtigung des im völkerrechtlichen Verkehr grundsätzlich gebotenen Respekts vor einer fremden Rechtsordnung dann grausam und erniedrigend, wenn sie ohne hinreichende praktische Aussicht - sei es in einem den Gerichten anvertrauten oder in einem grundsätzlich erfolgversprechenden Gnadenverfahren - auf Wiedererlangung der Freiheit regelmäßig bis zum Tod vollstreckt wird. Die aus der Würde des Menschen und dem Rechtsstaatsprinzip folgenden unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze können insofern auch dann verletzt sein, wenn in einer Rechtsordnung nur bei schweren Gebrechen oder bei einer lebensbedrohlichen Erkrankung des Häftlings von der weiteren Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstafe bis zum Tod abgesehen werden kann. Dies gilt jedenfalls, wenn auch bei Vorliegen dieser Umstände die Wiedererlangung der Freiheit ungewiss bleibt, weil der Häftling nur auf den Gnadenweg hoffen kann.

Im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen an den menschenwürdigen Vollzug einer lebenslangen Freiheitsstrafe ist die Auslieferung des Beschwerdeführers wegen drohender erschwerter lebenslanger Freiheitsstrafe unzulässig, jedenfalls bei einer Ausgestaltung und Handhabung dieser Strafe, die nach den bisherigen Feststellungen des Oberlandesgerichts möglich ist. Die Auslieferung des Beschwerdeführers würde gegen unabdingbare verfassungsrechtliche Grundsätze für die Vollziehung einer lebenslangen Freiheitsstrafe verstoßen.

Das Oberlandesgericht hat zu dem Gesichtspunkt der fehlenden Möglichkeit einer Strafaussetzung zur Bewährung unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausgeführt, dass der zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilte zumindest die Chance haben müsse, wieder die Freiheit erlangen zu können. Dies sei beim Beschwerdeführer der Fall. Nach Auskunft des Bundesamtes für Justiz vom 30. Juni 2009 habe die Botschaft der Republik Türkei mitgeteilt, dass nach Art. 104 der türkischen Verfassung der Präsident der Republik als Oberhaupt des Staates das Gnadenrecht ausübe und Strafen aus Gründen dauernder Krankheit, Behinderung und altersbedingt mindern oder erlassen könne. Damit habe der Verfolgte grundsätzlich die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung aus dem Strafvollzug. Dass dies nur unter eingeschränkten Voraussetzungen möglich sei, müsse als der türkischen Rechtsordnung immanent hingenommen werden und führe zu keiner anderen Beurteilung.

Diese Ausführungen halten verfassungsrechtlicher Überprüfung nicht stand.

Das Oberlandesgericht hat zwar mit Blick auf die sich aus Art. 1 Abs. 1 GG ergebenden Anforderungen an den menschenwürdigen Vollzug einer lebenslangen Freiheitsstrafe geprüft, ob für den Beschwerdeführer eine praktische Chance auf Wiedererlangung der Freiheit besteht. Es hat dies aber zu Unrecht unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bejaht. Dies führt zu einem Verfassungsverstoß, auch wenn berücksichtigt wird, dass sowohl die Ermittlung des Sachverhalts als auch Anwendung des einfachen Rechts Aufgaben des zuständigen Fachgerichts sind (vgl. BVerfGE 108, 129 137>; 113, 154 166>).

Soweit das Oberlandesgericht die praktische Möglichkeit auf Wiedererlangung der Freiheit darin sieht, dass nach Art. 104 der türkischen Verfassung der Präsident der Republik als Oberhaupt des Staates das Gnadenrecht ausüben und Strafen aus Gründen dauernder Krankheit, Behinderung und altersbedingt mindern oder erlassen könne, vermag dies keine Aussicht auf Wiedererlangung der Freiheit im Sinne der unabdingbaren Grundsätze der deutschen Verfassungsordnung zu begründen. Die Frage, ob eine solche praktische Chance eröffnet ist, lässt sich nicht schematisch damit beantworten, dass irgendeine Form von Gnadenrecht vorgesehen ist. Vielmehr kommt es in jedem Einzelfall auf eine Gesamtbeurteilung der Ausgestaltung des jeweiligen Strafvollzugs an. Von entscheidender Bedeutung sind mögliche persönlichkeitszerstörende Wirkungen der Strafhaft, denen durch einen menschenwürdigen Strafvollzug begegnet werden muss (vgl. BVerfGE 35, 202 235 f.>; 36, 174 188>; 40, 276 284>; 45, 187 245>). Prinzipiell mildert dabei die - wenn auch nur unsichere - Hoffnung auf eine möglicherweise vorzeitige Entlassung die mit der Strafhaft verbundenen psychischen Belastungen ab (vgl. BVerfGE 113, 154 167>). Vorliegend ist insoweit ausschlaggebend, dass die bisherigen Feststellungen des Oberlandesgerichts nicht ausschließen, dass der Ausübung des Gnadenrechts nach Art. 104 der türkischen Verfassung in jedem Fall ein unumkehrbarer physischer Verfallsprozess vorauszugehen hat. Diese spezifische Bedingung nimmt einem Verurteilten - ungeachtet der Entwicklung seiner Persönlichkeit - jegliche Hoffnung auf ein späteres selbstbestimmtes Leben in Freiheit (vgl. BVerfGE 45, 187 245>). Das konkret in Rede stehende Gnadenrecht eröffnet damit keine wenigstens vage Aussicht auf ein Leben in Freiheit, die den Vollzug der lebenslangen Strafe nach dem Verständnis der Würde der Person überhaupt erst erträglich macht (dazu BVerfGE 45, 187 245>), mithin den unabdingbaren Grundsätzen der deutschen Verfassungsordnung genügt: Es lässt den Verurteilten günstigstenfalls darauf hoffen, in Freiheit zu sterben.

Der Unzulässigkeit der Auslieferung steht nicht entgegen, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 6. Juli 2005 (BVerfGE 113, 154), auf den sich das Oberlandesgericht bezieht, die Auslieferung bei drohender lebenslanger Freiheitsstrafe ohne die Möglichkeit einer Strafaussetzung zur Bewährung für mit dem Grundgesetz vereinbar hielt. Der dort entschiedene Fall lag insoweit anders, als das einschlägige Gnadenrecht keinerlei tatbestandliche Einschränkungen enthielt. Die praktische Chance des Verurteilten, seine Freiheit wiederzuerlangen, war damit - anders als in der vorliegenden Konstellation - nicht von vornherein in hoffnungsloser Weise versperrt (vgl. BVerfGE 113, 154 167>). [...]