VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Beschluss vom 10.12.2009 - 13 B 6047/09 [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 27] - asyl.net: M16414
https://www.asyl.net/rsdb/M16414
Leitsatz:

Das BAMF wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass eine Dublin-Überstellung nach Slowenien nicht vor Ablauf von drei Werktagen nach der förmlichen Zustellung des Dublin-Bescheides erfolgen darf.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, Zustellung, Slowenien, effektiver Rechtsschutz,
Normen: AsylVfG § 34a Abs. 2, AsylVfG § 27a, AsylVfG § 31 Abs. 1 S. 5, GG Art. 19 Abs. 4, VwVfG § 40,
Auszüge:

[...]

Mit Bescheid vom 22.10.2009 stellte die Antragsgegnerin fest, dass der Asylantrag des Antragstellers unzulässig ist, und ordnete seine Abschiebung nach Slowenien an.

Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Asylantrag sei unzulässig, weil Slowenien aufgrund des dort gestellten Asylantrages gemäß Art. 16 Abs. 1. lit. c Dublin II-VO für die Behandlung des Asylantrages zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich. Die bloße Anwesenheit des Vaters in Deutschland führe zu keiner anderen Bewertung. Dieser lebe seit 1995 in Deutschland und seit 2006 bestehe kein enger Kontakt zwischen beiden. Trotz der Minderjährigkeit sei es dem Antragsteller zuzumuten, ein nationales Verfahren zur Familienzusammenführung durchzuführen. Es sei nicht im Sinne des Verordnungsgebers, dass das Dublinverfahren nationale Verfahren zur Familienzusammenführung unterlaufe. Deutschland sei verpflichtet, die Überstellung nach Slowenien als zuständigem Mitgliedstaat innerhalb von sechs Monaten nach Zustimmung durchzuführen.

Die sofort vollziehbare Anordnung der Abschiebung nach Slowenien beruhe auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. [...]

Der Antrag zu 2. ist als Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlich Umfang begründet.

Die Regelung des § 34a Abs. 2 AsylVfG steht der Statthaftigkeit des Antrages nicht entgegen. Zwar bestimmt § 34a Abs. 2 AsylVfG, dass die Abschiebung nach Abs. 1 nicht nach § 80 oder § 123 der Verwaltungsgerichtsordnung ausgesetzt werden darf. Ein Fall der Abschiebung nach § 34a Abs. 1 AsylVfG liegt aber nicht vor, weil der Bescheid vom 22.10.2009, mit dem die Abschiebung nach § 34a Abs. 1 AsylVfG angeordnet wird, (noch) nicht wirksam ist.

Der Bescheid, der zu seiner Wirksamkeit (§ 43 VwVfG) der förmlichen Bekanntgabe (Zustellung) an den Ausländer bedarf (§ 31, Abs. 1 Satz 4 AsylVfG i.V.m. § 3 VwZG), ist dem Antragsteller bislang nicht förmlich zugestellt worden. [...]

Die Praxis des Bundesamtes, den Bescheid nach § 27a, 34a AsylVfG auf der Grundlage der Regelung des § 31 Abs. 1 Satz 5 AsylVfG - grundsätzlich - durch die für die Abschiebung zuständige Ausländerbehörde erst am Tag der Abschiebung/Überstellung an den Ausländer zuzustellen, begegnet sowohl im Hinblick auf den Wortlaut der Zustellungsvorschriften (§ 31 Abs. 1 Satz 4 und 5 AsylVfG) als auch im Hinblick auf das verfassungsrechtlich normierte Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art 19 IV GG) erheblichen rechtlichen Bedenken.

Bei der Zustellungsregelung des § 31 Abs. 1 Satz 5 AsylVfG handelt es sich um eine Ermessensentscheidung. Ihr Ermessen hat die Behörde gemäß § 40 VwVfG entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und dabei die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten.

Davon ausgehend ist die "Praxis das Bundesamtes" weder von dem Zweck der Ermächtigung des § 31 Abs. 1 Satz 3 bis 5 AsylVfG gedeckt noch bewegt sich diese generelle Vorgehensweise innerhalb der gesetzlichen Grenzen des Ermessens.

Mit ihrem Vortrag, die Regelung des § 31 Abs. 1 Satz 4 und 5 AsylVfG enthalte keine Frist für die Zustellung des Bescheides und die Vorschrift des § 34a Abs. 2 AsylVfG, der die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes im Falle der Abschiebungsanordnung nach 34a Abs. 1 AsylVfG ausschließt, spreche dafür, dass die Zustellung des Bescheides am Tag der Überstellung ausreiche, verkennt die Antragsgegnerin nicht nur das Gebot des effektiven Rechtsschutzes des Art. 19 IV GG, sondern auch die Intention, die der Gesetzgeber mit den genannten Regelungen augenscheinlich verfolgt.

Ausweislich der amtlichen Begründung liegt den Regelungen der §§ 31 Abs. 1 Satz 4, 5 und 6, 34a AsylVfG der Gedanke zugrunde, dass es sich bei den Verfahren der Rückführung in den Drittstaat (Dublin II-Verfahren, (Verordnung EG Nr. 343/2003 des Rates vom 18.Februar 2003)) um verkürzte Verfahren handelt, In denen eine Rückführung "regelmäßig nur kurzfristig" durchgeführt werden kann (vgl. BT-Drucks. 12/4450 (23) zu § 31 Abs. 1 Sätze 3 bis 5, § 34a Abs. 1).

Die Ermöglichung der "kurzfristigen" Zustellung des Bescheides durch die für die Abschiebung zuständige Ausländerbehörde ist damit nach dem Willen des Gesetzgebern sichtlich (nur) den Fällen geschuldet, in denen eine "frühzeitige" Zustellung des Bescheides durch das Bundesamt wegen der Eigenart des Überstellungsverfahrens (Dublin II-Verfahren) aufgrund der kurzfristig anberaumten Rückführung tatsächlich nicht möglich ist.

Es bleibt damit aber dabei, dass die Bekanntgabe des Bescheides grundsätzlich so bald wie möglich, d.h. im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Erlass, zu erfolgen hat.

Die Vorgehensweise der Antragsgegnerin, den Bescheid vom 22.10.2009 ohne zwingende, auf den Besonderheiten des Überstellungsverfahrens (Dublin II-Verfahren) beruhenden Gründen, nicht sobald wie möglich an den Antragsteller zuzustellen, ist mithin weder von dem Wortlaut noch von der Intention des Gesetzes gedeckt.

Dass eine Zustellung des Bescheides sobald als möglich zu erfolgen hat, gebietet auch das verfassungsrechtlich normierte Gebot des effektiven Rechtsschutzes Art. 19 IV GG.

Das Gebot des effektiven Rechtsschutzes garantiert nicht nur die bloße formale Möglichkeit, Gerichte anzurufen, sondern auch den Anspruch, tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle zu erlangen. Der Rechtsschutz darf weder ausgeschlossen noch in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht gerechtfertigter Weise erschwert werden.

Der Antragsteller hat auch das Vorliegen eine Anordnungsgrundes glaubhaft gemacht, denn die Antragsgegnerin beabsichtigt, ihn am 15.12.2009 an Slowenien zu überstellen.

Um dem Anspruch des Antragstellers auf die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes zu sichern, erachtet die Kammer eine Frist von mindestens drei Werktagen, die sich nach den Fristenregelungen der §§ 186 ff. BGB berechnet, in dem hier vorliegenden Einzelfall für noch angemessen. [...]