VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.12.2009 - A 5 S 122/08 [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 11 f.] - asyl.net: M16394
https://www.asyl.net/rsdb/M16394
Leitsatz:

Kein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung, da der vorverfolgt ausgereiste Kläger derzeit und auf absehbare Zeit in Angola vor einer erneuten politischen Verfolgung nicht hireichend sicher ist.

Schlagwörter: Angola, Widerrufsverfahren, UNITA, Exilpolitik, Bakongo, Hepatitis B, Malaria, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 2 Bst. a, VwVfG § 48 Abs. 4, AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1, GFK Art. 1 C Nr. 5, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Zwar droht dem Kläger aufgrund seiner früheren - unter den Beteiligten nicht streitigen - Tätigkeit für die UNITA und seiner späteren exilpolitischen Betätigung bei einer Rückkehr nach Angola ersichtlich nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung (vgl. insbes. British Home Office, Operational Guidance Note v. 11, bzw. 29.07.2008, 3.8.8 "clearly unfounded"), doch ist er vor einer solchen - derzeit und auf absehbare Zeit - nicht hinreichend sicher. Da der Kläger Angola vorverfolgt verlassen hat, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab und nicht, wie das Bundesamt (Bescheid vom 21.12.2004, S. 4 und 6) und unter Bezugnahme auf dieses auch das Verwaltungsgericht (UA S. 7) anzunehmen scheinen, der allgemeine Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzuwenden. Eine entsprechende Anwendung der Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG dürfte insofern zum gleichen Ergebnis führen (vgl. BVerwG, Vorabentscheidungsersuchen v. 07.02.2008 - 10 C 33.07 -, a.a.O.; UNHCR, Stellungnahme v. August 2008 an den EuGH, Asylmagazin 2008, 30 33>). An die Wahrscheinlichkeit des Ausschlusses erneuter Verfolgung sind insofern wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen der schon einmal erlittenen Verfolgung hohe Anforderungen zu stellen. Es muss mehr als nur überwiegend wahrscheinlich sein, dass der Asylsuchende im Heimatstaat vor Verfolgungsmaßnahmen sicher ist. Zwar muss die Verfolgungsgefahr nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, so dass jeder auch nur geringe Zweifel an der Sicherheit des Asylsuchenden vor Verfolgung seinem Begehren zum Erfolg verhelfen müsste. Lassen sich aber ernsthafte Bedenken nicht ausräumen, so wirken sie sich nach diesem Maßstab zugunsten des Asylbewerbers aus und führen zur Anerkennung (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.02.1997 - 9 C 9.96 -, BVerwGE 104, 97 99 ff.> m.w.N.) bzw. stehen deren Widerruf entgegen. [...]

Bei der Abschätzung der Gefahrenlage kann zunächst nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Kläger bereits vor seiner Ausreise aus Angola als Stellvertreter im Amt für Zivilverteidigung - und damit in maßgeblicher, für die MPLA tätiger Position - "die Seiten gewechselt" und eine ebenfalls nicht völlig unbedeutende Tätigkeit als Sekretär in der Finanzabteilung für die UNITA aufgenommen hatte. Seine Betätigung für die UNITA hat er auch in Deutschland fortgesetzt. Während seines Aufenthalts in Halle/Saale (in den Jahren 2000 bis 2002) ist er - wie er in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat glaubhaft ausgeführt hat - als Koordinator für die Gründung eines UNITA - Unterkomitees für Sachsen-Anhalt hervorgetreten. Seit seinem Umzug nach Stuttgart im Jahre 2002 ist er als "einfaches", die Veranstaltungen regelmäßig besuchendes Mitglied des UNITA-Komitees in Baden-Württemberg ebenfalls - für interessierte Dritte durchaus erkennbar - weiterhin politisch tätig. Vor dem Hintergrund der bisher gezeigten Aktivitäten des Klägers für die UNITA erscheint es dem Senat nachvollziehbar und glaubhaft, dass der Kläger - wie er es in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat angegeben hat - sich auch im Falle einer Rückkehr nach Angola weiterhin erkennbar für die UNITA engagieren wird. Dann aber kann bei einer Gesamtwürdigung der o.g. Umstände in Angola jedenfalls derzeit für die Person des Klägers nicht hinreichend sicher ausgeschlossen werden, dass er im Fall einer Rückkehr nach Angola Repressionen und Einschüchterungsversuchen seitens gewaltbereiter MPLA-Anhänger ausgesetzt wäre, die der von der MPLA geführten Regierung zumindest als mittelbar staatliche Verfolgung zuzurechnen sein könnte, weil diese eine solche augenscheinlich nicht mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln der Polizei bzw. Justiz zu verhindern sucht. Es erscheint dem Senat im Falle des Klägers auch nicht fernliegend, dass er von MPLA-Sympathisanten aufgrund seines Seitenwechsels noch als Verräter angese-hen wird. An dieser Beurteilung bzw. den ernsthaften Bedenken hinsichtlich einer hinreichenden Sicherheit änderte auch nichts, sollten nicht sämtliche oben dargestellten Übergriffe genau so stattgefunden haben und tatsächlich als mittelbare staatliche Verfolgung qualifiziert werden können (vgl. auch Art. 14 Abs. 2 RL 2004/83/EG). Da hier die Flüchtlingseigenschaft widerrufen wurde, kommt hinzu, dass als politische Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 4c AufenthG nunmehr auch Verfolgungsmaßnahmen nichtstaatlicher Akteure anzusehen sind, gegen die effektiver Schutz tatsächlich nicht gewährt wird. Zwar wäre dies wohl nicht dieselbe (staatliche) Verfolgung; doch dürfte dem Kläger auch insoweit noch der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab bzw. die entsprechend anzuwendende Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG zugute kommen. Verfolgungsmaßnahmen seitens der MPLA-Anhänger, sollten diese nicht ohnehin der MPLA-Regierung zuzurechnen sein, wären aufgrund des inneren Zusammenhangs mit der Vorverfolgung noch keine gänzlich neue und andersartige Verfolgung (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.07.2006 - 1 C 15.05 -, BVerwGE 126, 243). [...]