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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 06.11.2009 - 2 BvL 4/07 - asyl.net: M16381
https://www.asyl.net/rsdb/M16381
Leitsatz:

Verwerfung einer Vorlagefrage zur Vereinbarkeit des Ausschlusses von vollziehbar ausreisepflichtigen, seit längerer Zeit geduldeten Ausländern vom Anspruch auf Kindergeld mit Art. 3 Abs. 1 GG als unzulässig, da keine hinreichenden Ausführungen zur Verfassungswidrigkeit des § 62 Abs. 2 Nr. 3 Bst. b EStG. Das FG gebe nicht an, auf welcher Tatsachengrundlage es zu dem Ergebnis gelangt sei, dass dann, wenn sich der gestattete oder geduldete Aufenthalt im Inland auf einen Zeitraum von drei oder mehr Jahren erstrecke und Kinder "vorhanden" seien, davon auszugehen sei, dass der Betreffende faktisch auf unbestimmte Zeit nicht abgeschoben werden könne.

Schlagwörter: Kindergeld, Vorlagebeschluss, Verfassungsmäßigkeit
Normen: EStG § 62 Abs. 2 Nr. 3 Bst. b, GG Art. 3 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die Vorlage betrifft die Vereinbarkeit des Ausschlusses von vollziehbar ausreisepflichtigen, seit längerer Zeit geduldeten Ausländern vom Anspruch auf Kindergeld mit Art. 3 Abs. 1 GG.

1. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mit Beschluss vom 6. Juli 2004 (BVerfGE 111, 160) § 1 Abs. 3 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) in der Fassung des Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms (1. SKWPG) vom 21. Dezember 1993 (BGBl I S. 2353) für mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar erklärt. Die Regelung knüpfte den Kindergeldanspruch für Ausländer an den Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis. Seit 1996 fanden sich entsprechende Regelungen in § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG und § 1 Abs. 3 Satz 1 BKGG. [...]

5. In dem insoweit abgetrennten Verfahren für den Zeitraum ab Januar 2005 hat das Finanzgericht das Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob § 62 Abs. 2 EStG in der Fassung des Gesetzes zur Anspruchsberechtigung von Ausländern wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss vom 13. Dezember 2006 (BGBl I S. 2915) insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar ist, als die Gewährung von Kindergeld im Falle eines gestatteten oder geduldeten Aufenthalts aus humanitären Gründen von über drei Jahren noch von zusätzlichen Voraussetzungen abhängig gemacht wird (§ 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe c und Nr. 3 EStG).

Das Finanzgericht sei von der Verfassungswidrigkeit der Norm überzeugt. Sie verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Die Vorlagefrage sei entscheidungserheblich, da die zitierte Norm einer Gewährung von Kindergeld zugunsten der Klägerin entgegenstehe. Die Klägerin halte sich seit 1999 zumindest geduldet im Bundesgebiet auf. Eine erlaubte Erwerbstätigkeit oder der Bezug von Arbeitslosengeld beziehungsweise Mutterschaftsgeld sei nicht feststellbar, was unstreitig sei. Eine verfassungskonforme Auslegung dahin, dass die Gewährung von Kindergeld im Falle eines gestatteten oder geduldeten Aufenthalts aus humanitären Gründen von über drei Jahren nicht noch von zusätzlichen Voraussetzungen abhängig gemacht werden dürfe, komme angesichts des eindeutigen Wortlauts nicht in Betracht.

Im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG sei dem Gesetzgeber nicht jede Differenzierung verwehrt. Ihm komme ein Gestaltungsspielraum zu, dem umso engere Grenzen gesetzt seien, je stärker sich die Ungleichbehandlung auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten auswirke. Durch die Neuregelung würden nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer, die lediglich im Besitz eines Aufenthaltstitels nach § 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe c EStG seien, sowie langjährig geduldete Ausländer schlechter gestellt als Deutsche und Ausländer mit hinreichendem Aufenthaltstitel. Eine Benachteiligung entfalle nur, wenn der Ausländer einen Titel nach § 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe c EStG besitze und sich seit mehreren Jahren legal (gestattet oder geduldet) im Bundesgebiet aufhalte.

Die Ungleichbehandlung sei nicht gerechtfertigt. Nach Auffassung des Senats habe das Bundesverfassungsgericht die Verhältnismäßigkeit von Ungleichbehandlung und rechtfertigendem Grund in Frage gestellt. Der Begünstigungsausschluss müsse durch Gründe von besonderem Gewicht, die nicht rein fiskalischer Natur sein dürften, gerechtfertigt sein. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts habe entschieden, dass ein Anknüpfen nur an den Aufenthaltstitel ungeeignet sei, um das gesetzgeberische Ziel zu erreichen, Kindergeld nur den Ausländern zu gewähren, von denen zu erwarten stehe, dass sie auf Dauer in Deutschland bleiben. Die Neuregelung berücksichtige nicht, dass die Gründe, die für eine bloße Duldung oder für die Erteilung der in § 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe c EStG genannten Aufenthaltstitel maßgeblich seien, nicht typischerweise nur vorübergehender Natur seien. Auch eine bloße Duldung könne die Vorstufe zum Daueraufenthalt sein, was die tatsächliche Fallgestaltung des Vorlagefalls aufzeige. Eine Prognose über die Dauer des Aufenthalts in Deutschland sei anhand der Aufenthaltstitel oder des Status der Duldung nicht möglich. Auch ein bloß geduldeter Aufenthalt ohne Erwerbstätigkeit und trotz des Bezugs von Hilfe zum Lebensunterhalt könne gerade beim Vorhandensein von Kindern aus tatsächlichen Gründen so sehr verfestigt sein, dass ohne Weiteres von einem Daueraufenthalt gesprochen werden könne. Jedenfalls wenn sich der Aufenthalt auf einen Zeitraum von drei oder mehr Jahren erstrecke, müsse beim Vorhandensein von Kindern davon ausgegangen werden, dass der betreffende Ausländer faktisch auf unbestimmte Zeit nicht abgeschoben werden könne. Ein Ausschluss vom Kindergeld für Ausländer, die sich zumindest faktisch - mehr als drei Jahre legal im Inland aufhielten, sei eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung, weil aufgrund der Wertungen aus Art. 6 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 GG unabhängig von der Art des Aufenthaltstitels zu berücksichtigen sei, dass diese Ausländer in gleicher Weise wie Deutsche und wie Ausländer mit hinreichendem Aufenthaltstitel durch die persönlichen und finanziellen Aufwendungen bei der Kindererziehung belastet seien. Wenn an dem gesetzgeberischen Ziel festgehalten werden solle, Kindergeld den Ausländern zu gewähren, von denen zu erwarten sei, dass sie dauerhaft in Deutschland bleiben, könne die Kindergeldberechtigung nicht davon abhängen, ob ein langfristiger Aufenthalt angesichts des Aufenthaltstitels zu erwarten gewesen sei.

B. Die Vorlage ist unzulässig. [...]

Die Entscheidungserheblichkeit der Verfassungsmäßigkeit von § 62 Abs. 2 EStG ist nicht hinreichend dargelegt, weil sich das Finanzgericht mit der Zulässigkeit der Klage nicht auseinandersetzt, obwohl dazu Anlass bestand. Zudem fehlen Feststellungen zum Aufenthaltsstatus der Klägerin im entscheidungserheblichen Zeitraum, ohne die sich die Frage, ob die Klage nicht auch in Anwendung von § 62 Abs. 2 EStG Erfolg haben kann, nicht beantworten lässt. Schließlich enthalten die Darlegungen zur Verfassungswidrigkeit der vorgelegten Norm Defizite. [...]

c) Das Finanzgericht hat schließlich seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit des § 62 Abs. 2 EStG nicht hinreichend dargelegt. Es gibt nicht an, aufgrund welcher Tatsachengrundlage es zu dem Ergebnis gelangt ist, dass dann, wenn sich der gestattete oder geduldete Aufenthalt im Inland auf einen Zeitraum von drei oder mehr Jahren erstreckt und Kinder "vorhanden sind", davon auszugehen sei, dass der Betreffende faktisch auf unbestimmte Zeit nicht abgeschoben werden könne. Soweit das Finanzgericht seinen Erwägungen die Möglichkeit eines faktisch legalen Aufenthalts von Ausländern zugrunde legt, verwendet es eine Kategorie, die dem Aufenthaltsgesetz fremd ist. Da § 62 Abs. 2 EStG an die Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes anknüpft, lässt sich daher nicht nachvollziehen, ob das Finanzgericht sich in der gebotenen Weise mit den Differenzierungen, die in dieser Vorschrift zum Ausdruck kommen, auseinandergesetzt hat. [...]