OVG Saarland

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Zitieren als:
OVG Saarland, Beschluss vom 09.11.2009 - 2 B 449/09 - asyl.net: M16329
https://www.asyl.net/rsdb/M16329
Leitsatz:

Assoziationsrechtliche Ansprüche des Kindes nach Art. 7 ARB 1/80 sind erloschen, da es die Bundesrepublik Deutschland für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen hat (Schulbesuch in der Türkei).

Auch keine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung oder Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft, da die Regelungen der §§ 27 ff. AufenthG nicht dazu dienen, einem absehbar im Ausland verbleibenden Kind erleichterte Besuchsmöglichkeiten der in Deutschland lebenden Eltern in den Schulferien zu verschaffen.

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, minderjährig, vorläufiger Rechtsschutz, Schutz von Ehe und Familie, familiäre Lebensgemeinschaft, Kindernachzug, Wiederkehroption, Türkei, Visumsverfahren, Besuchsvisum
Normen: GG Art. 6 Abs. 1, AufenthG § 32 Abs. 2, ARB 1/80 Art. 7,VwGO § 123 Abs. 1, AufenthG § 27, AufenthG § 34 Abs. 1, AufenthG § 37 Abs. 1
Auszüge:

Grundlage für die als Ausfluss des grundrechtlichen Schutzes der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) zu sehende, und deshalb der Anerkennung des "familiären" Aufenthaltszwecks in den §§ 27 ff. AufenthG zugrunde liegende Lebensgemeinschaft bildet grundsätzlich eine häusliche Gemeinschaft zwischen den Familienmitgliedern. Fehlt es an einem Zusammenleben im Sinne einer gemeinsamen Wohnung, kommt die Annahme einer familiären Lebensgemeinschaft nur in Betracht, wenn die für die Lebensgemeinschaft kennzeichnende Beistands- oder Betreuungsgemeinschaft, etwa bei einer erforderlichen Unterbringung eines Familienmitglieds in einem Behinderten- oder Pflegeheim, auf andere Weise verwirklicht wird.

Bei einer berufs- und ausbildungsbedingten Trennung der Familienmitglieder setzt die Anerkennung einer familiären Lebensgemeinschaft zwingend voraus, dass die Angehörigen regelmäßigen Kontakt zueinander pflegen, der über bloße Besuche hinausgeht (hier verneint für einen seit Jahren im Heimatland allgemeinbildende Schulen besuchenden 16 Jahre alten türkischen Staatsangehörigen, der sich nur während der Schulferien bei seinen in Deutschland lebenden Eltern aufhält).

Bei einem sich regelmäßig im Ausland aufhaltenden Kind rechtmäßig in Deutschland lebender Ausländern ist Voraussetzung eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für einen "Kindernachzug" gemäß § 32 Abs. 2 AufenthG, dass das Kind zu den Eltern zu- oder nachziehen, das heißt seinen Lebensmittelpunkt ins Inland verlagern will. Die Regelungen über den Zu- und Nachzug zur Herstellung oder Wahrung einer familiären Lebensgemeinschaft (§§ 27 ff. AufenthG) dienen nicht dazu, einem absehbar im Ausland verbleibenden Kind erleichterte Besuchsmöglichkeiten zu verschaffen.

Nach der einer Konkretisierung durch die nationalen Gerichte bedürftigen Rechtsprechung des EuGH verliert (auch) der Familienangehörige, der die Voraussetzungen des Art. 7 ARB 1/80 erfüllte, dieses Recht unter anderem dann, wenn er das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaates - hier also die Bundesrepublik - "für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlässt". Mit dem Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 sollen günstige Voraussetzungen für eine Familienzusammenführung im Aufnahmemitgliedstaat geschaffen werden. Eine mehrjährige, im konkreten Fall bereits über 5 Jahre andauernde, lediglich durch Besuchsaufenthalte in den Schulferien unterbrochene Abwesenheit des Ausländers vom Bundesgebiet kann weder als eine einem Urlaubsaufenthalt oder einem Familienbesuch im Heimatland vergleichbare lediglich kurzfristige Unterbrechung des Aufenthalts im Aufnahmestaat (hier: Deutschland) angesehen werden, noch ist sie durch "berechtigte" Gründe getragen, weil eine derart dauerhafte Verlagerung des Lebensmittelpunkts nicht der Zielsetzung des Art. 7 ARB 1/80 entspricht.

(Amtliche Leitsätez)

[...]

Da für die begehrte Verlängerung eines Aufenthaltstitels nach § 8 Abs. 1 AufenthG in materiell-rechtlicher Hinsicht dieselben Anforderungen gelten wie für die (erstmalige) Erteilung ist mit Blick auf den für den Erfolg des Rechtsbehelfs des Antragsteller glaubhaft zu machenden Anordnungsanspruch (§ 123 Abs. 1 VwGO) entscheidend darauf abzustellen, ob dieser aus den Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes einen Anspruch auf Erteilung (Verlängerung) einer Aufenthaltserlaubnis für einen künftigen Aufenthalt in der Bundesrepublik herzuleiten vermag. Das ist entgegen den Ausführungen des Verwaltungsgerichts zu verneinen.

Ein entsprechender Anspruch ergibt sich nicht aus der üblicherweise den Fall minderjähriger Ausländer, die bereits eine Aufenthaltserlaubnis aus Gründen des Familiennachzugs, das heißt zur Wahrung oder Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft (§ 27 Abs. 1 AufenthG) mit den Eltern, besitzen, regelnden Bestimmung in § 34 Abs. 1 AufenthG. Zwar sind beide in Deutschland lebenden Elternteile des nach wie vor minderjährigen Antragstellers im Besitz eines unbefristeten Aufenthaltstitels nach den §§ 4 Abs. 1 Nr. 3, 9 Abs. 1 AufenthG. Dieser lebt indes weder gegenwärtig mit den Eltern in einer familiären Lebensgemeinschaft (Alt. 1), noch kann nach gegenwärtigem Erkenntnisstand vom Vorliegen der Voraussetzungen für ein Wiederkehrrecht nach § 37 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ausgegangen werden (Alt. 2).

Grundlage für die als Ausfluss des grundrechtlichen Schutzes der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) zu sehende und deshalb der Anerkennung des "familiären" Aufenthaltszwecks in den §§ 27 ff. AufenthG zugrunde liegende Lebensgemeinschaft ist grundsätzlich eine häusliche Gemeinschaft zwischen den Familienmitgliedern. Diese besteht mit den Eltern seit dem Sommer 2004 nicht mehr. Damals hat der Antragsteller seinen Lebensmittelpunkt zumindest für einen inzwischen über 5 Jahre währenden Schulbesuch in die Türkei verlegt. Fehlt es an einem Zusammenleben im Sinne einer gemeinsamen Wohnung, kommt die Annahme einer familiären Lebensgemeinschaft nur in Betracht, wenn die für die Lebensgemeinschaft kennzeichnende Beistands- oder Betreuungsgemeinschaft, etwa bei einer erforderlichen Unterbringung eines Familienmitglieds in einem Behinderten- oder Pflegeheim, auf andere Weise verwirklicht wird. Bei einer berufs- und ausbildungsbedingten Trennung der Familienmitglieder setzt die Anerkennung einer familiären Lebensgemeinschaft zwingend voraus, dass die Angehörigen regelmäßigen Kontakt zueinander pflegen, der über bloße Besuche hinausgeht. Davon kann nach dem vorgetragenen Sachverhalt hier nicht ausgegangen werden. Der Antragsteller lebt seit Jahren in der Türkei und besucht seine Eltern lediglich – wenn auch nach seinem Vorbringen regelmäßig – in den Schulferien. Weiter gehende Kontakte, wie sie etwa regelmäßig zwischen Eltern und ihren in Internaten im Inland in Schulausbildung befindlichen Kindern, stattfinden, sind aufgrund der räumlichen Trennung nicht zu erwarten und auch im konkreten Fall nicht vorgetragen. Vor diesem Hintergrund spricht hier bei der gebotenen Einzelfallbetrachtung alles für das Vorliegen einer nach Artikel 6 GG und daher auch aufenthaltsrechtlich nicht als schutzwürdig, jedenfalls nicht als anspruchsbegründend anzuerkennenden Begegnungsgemeinschaft zwischen dem Antragsteller und seinen Eltern.

Dass im Falle des in Deutschland geborenen und bis zum 11. Lebensjahr hier aufgewachsenen Antragstellers die normalerweise für Erwachsene geltenden, wegen des Verweises in § 34 Abs. 1 Satz 1 AufenthG vorliegend aber entsprechend anzuwendenden Voraussetzungen für ein Wiederkehrrecht nach § 37 AufenthG erfüllt sind, kann ebenfalls nicht angenommen werden. Insoweit dürfte es schon an dem insoweit geforderten mindestens sechsjährigen Schulbesuch im Bundesgebiet (§ 37 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) fehlen. Der Antragsteller hat nach eigenem Vorbringen lediglich die Grundschule in A-Stadt durchlaufen, bevor der Wechsel auf eine Schule im Heimatland, konkret das College K., vollzogen wurde. Insoweit sind hier auch keine Umstände erkennbar, die ausnahmsweise die Annahme eines besonderen Härtefalles rechtfertigen könnten (§ 37 Abs. 2 Satz 1 AufenthG).

In jedem Fall scheidet aber die Erteilung beziehungsweise eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 34 AufenthG deswegen aus, weil der Antragsteller gegenwärtig überhaupt keinen (dauerhaften) Aufenthalt in der Bundesrepublik anstrebt und das gilt insbesondere auch für die vom Verwaltungsgericht im Falle des Antragstellers zu seinen Gunsten in Ansatz gebrachte Vorschrift des § 32 Abs. 2 AufenthG. Dies wird deutlich vor dem Hintergrund des bereits erwähnten, den Regelungen des gesamten Abschnitts 6 in Kapitel 2 des Aufenthaltsgesetzes (§§ 27 bis 36 AufenthG) zugrunde liegenden Zwecks des vom Gesetzgeber grundrechtlich geforderten Schutzes von Ehe und Familie im Sinne einer familiären Lebensgemeinschaft. Hier begehrt der Antragsteller, der absehbar noch Jahre, mindestens bis ins Jahr 2011, seine Schulausbildung in der Türkei fortsetzen möchte, die Aufenthaltserlaubnis nur aus dem Grund, um jederzeit problemlos in die Bundesrepublik ein- und ausreisen zu können. Die Absicht, seinen Lebensmittelpunkt aktuell wieder nach Deutschland zu den Eltern zurückzuverlegen, steht dagegen nach eigenem Vortrag auch nach dem Willen der das Aufenthaltsbestimmungsrecht ausübenden Eltern nicht im Raum. Wäre dies der Fall, so hätte der Antragsteller – wie das Verwaltungsgericht bezogen auf die Tatbestandsmerkmale des § 32 Abs. 2 AufenthG für minderjährige Ausländer ab 16 Jahren zutreffend gesehen hat – einen Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis, da nach seinem Lebenslauf keine durchgreifenden Zweifel hinsichtlich der danach geforderten, wesentlich am Sprachkriterium orientierten positiven Integrationsprognose bestehen. Zwar setzt ein Kindernachzug nach dieser Bestimmung einerseits nicht generell einen "Umzug" voraus, kann also auch vom in Inland lebenden minderjährigen Ausländer bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen rechtlich geltend gemacht werden. Andererseits ist aber bei sich (bisher) regelmäßig im Ausland aufhaltenden Kindern von rechtmäßig in Deutschland lebenden Ausländern Voraussetzung, dass diese zu den Eltern zu- oder nachziehen, das heißt ihren Lebensmittelpunkt ins Inland verlagern wollen. Die Regelungen über den Zu- und Nachzug zur Herstellung oder Wahrung einer familiären Lebensgemeinschaft (§§ 27 ff. AufenthG) dienen nicht dazu, einem regelmäßig im Ausland verbleibenden Kind erleichterte Besuchsmöglichkeiten zu verschaffen.

Auch der § 32 Abs. 2 AufenthG verlangt daher von dem minderjährigen Ausländer, der die Regelungen über den Familiennachzug für sich in Anspruch nehmen möchte, die Verlegung seines Lebensmittelpunktes in die Bundesrepublik, konkret zu den hier bleibeberechtigten Eltern. Das erfordert eine Verlagerung des bisher im Ausland angesiedelten Schwerpunktes der persönlichen Lebens- und Arbeitsbeziehungen ins Inland. Bei in der Schulausbildung befindlichen Kindern und Jugendlichen liegt dieser Schwerpunkt in aller Regel in dem Land, in dem diese Ausbildung absolviert wird. Das ist im Falle des Antragstellers seit 2004 und nach eigenen Angaben mindestens bis zum Jahr 2011 eindeutig die Türkei. Der Aufenthalt des Antragstellers in der Bundesrepublik ist absehbar neben seiner Ausbildung auch künftig nur in einem begrenzten Zeitraum, nämlich während der Schulferien überhaupt möglich. Dabei handelt es sich rechtlich um Besuche bei den in Deutschland lebenden Eltern, die nicht die Grundlage für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach den §§ 27 ff. AufenthG bilden können. Weshalb dem Antragsteller, der sich "aus freien Stücken" für die Fortsetzung seiner Schulausbildung nach der in Deutschland absolvierten Grundschule in der Türkei entschieden hat, eine Verweisung auf das für Besuchsaufenthalte einschlägige Visumsverfahren unzumutbar sein sollte, erschließt sich nicht.

Dass der Antragsteller schließlich keinen Anspruch auf Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis aufgrund seiner Nationalität aus den sozialen Bestimmungen des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei (ARB 1/80), hier konkret dem die Rechtsstellung der Familienangehörigen assoziationsberechtigter, in den inländischen Arbeitsmarkt integrierter türkischer Arbeitnehmer regelnden Art. 7 ARB 1/80, für sich herleiten kann, hat bereits das Verwaltungsgericht unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) festgestellt. Hierauf kann Bezug genommen werden. Nach der mangels weiterer Vorgaben durch die nationalen Gerichte einer Konkretisierung bedürftigen Rechtsprechung des EuGH verliert (auch) der Familienangehörige, der die Voraussetzungen des Art. 7 ARB 1/80 erfüllte, dieses Recht unter anderem dann, wenn er das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaates – hier also die Bundesrepublik – "für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlässt". (vgl. etwa EuGH, Urteil (Vorabentscheidung) vom 16.2.2006 – C-502/04 –, Slg. Rspr. 2006, Seite I-01563) Mit dem mangels der in Satz 2 des Art. 7 ARB 1/80 vorausgesetzten abgeschlossenen Ausbildung in Deutschland (Aufnahmestaat) hier allein in Betracht kommenden Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 sollen günstige Voraussetzungen für eine Familienzusammenführung im Aufnahmemitgliedstaat geschaffen werden. Deshalb wird den Familienangehörigen zunächst gestattet, bei dem dem regulären Arbeitsmarkt angehörenden Arbeitnehmer zu leben und ihre Stellung wird später durch Verleihung des Rechts gestärkt, in diesem Staat auch selbst eine Beschäftigung aufzunehmen. (vgl. etwa EuGH, Urteil (Vorabentscheidung) vom 17.4.1997 – C-351/95 –, Slg. Rspr. 1997, Seite I-02133, wonach selbst bei einem im Inland befindlichen Familienangehörigen, der die Rechte des Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 beansprucht, die Vorschrift dahin auszulegen ist, dass die Mitgliedstaaten berechtigt sind, den Anspruch davon abhängig zu machen, dass sich die Familienzusammenführung, die Grund für die Einreise war, in einem tatsächlichen Zusammenleben mit dem Arbeitnehmer in häuslicher Gemeinschaft manifestiert) Eine mehrjährige, inzwischen über 5 Jahre andauernde, lediglich durch Besuchsaufenthalte in den Schulferien unterbrochene Abwesenheit des Antragstellers vom Bundesgebiet kann weder als eine einem Urlaubsaufenthalt oder einem Familienbesuch im Heimatland vergleichbare lediglich kurzfristige Unterbrechung des Aufenthalts im Aufnahmestaat (hier: Deutschland) angesehen werden, noch ist sie durch "berechtigte" Gründe getragen, weil eine derart dauerhafte Verlagerung des Lebensmittelpunkts nicht der genannten Zielsetzung des Art. 7 ARB 1/80 entspricht (vgl. dazu etwa OVG Lüneburg, Urteil vom 11.1.2008 – 11 ME 418/07 –, InfAuslR 2008, 151, mit weiteren Nachweisen) und auch aus Sicht des Antragstellers bezogen auf die Eingliederung in hiesige Lebensverhältnisse zumindest nicht als integrationsfördernd begriffen werden kann. [...]