Kein Widerruf bei ursprünglich als gruppenverfolgt anerkannten Yeziden aus der Türkei. Die Aufhebung des Widerrufsbescheids kann zwar nicht allein deshalb verlangt werden, weil nach einer BAMF-Dienstanweisung vom 23.1.2009 in rechtshängigen Widerrufsverfahren von Christen und Yeziden aus der Türkei Widerrufsbescheide aufzuheben bzw. Betroffene klaglos zu stellen sind. Es fehlt jedoch für einen Widerruf an dem hinreichend sicheren Ausschluss erneuter Gruppenverfolgung im Rahmen des sog. herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabs.
[...]
Der Widerrufsbescheid vom 28.08.2006 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten; er ist deshalb aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Der Kläger kann jedoch nicht bereits deshalb eine Aufhebung des Widerrufsbescheides verlangen, weil das Bundesamt aufgrund einer mit dem Bundesministerium des Inneren (Erlass vom 09.12.2008 - Az.: M I 4-125 421 TUR/2 -) abgestimmten Dienstanweisung vom 23.01.2009 zur Vorgehensweise bei rechtshängigen Widerrufsverfahren von Christen und Yeziden aus der Türkei (GZ. 423-7401-02/09) seit Anfang 2009 in Fällen türkischer Asylbewerber yezidischen Glaubens, die nicht straffällig geworden sind, seine Widerrufsbescheide aufhebt und die Kläger klaglos stellt. Aus der Dienstanweisung geht nicht hervor, dass dies geschieht, weil das Bundesamt von einer nach der Widerrufsentscheidung erneut veränderten Verfolgungslage für Yeziden in der Türkei ausgeht. Bei der Dienstanweisung handelt es sich vielmehr um eine im Rahmen eines weiten politischen Entscheidungsermessens ergangene Billigkeitsregelung aus humanitären Gründen für die von einem (Regel-)Widerrufsverfahren betroffenen Gruppen der Yeziden und Christen aus der Türkei. Eine derartige politische Vorgabe ist einer inhaltlichen Kontrolle durch die Gerichte weitgehend entzogen. Sie kann nicht wie eine Rechtsvorschrift abstrakt aus sich heraus ausgelegt werden. Maßgeblich ist vielmehr allein der Wille des Erklärenden und die tatsächliche Handhabung, d. h. die vom Urheber gebilligte oder geduldete tatsächliche Verwaltungspraxis (vgl. Niedersächsisches OVG, im folgenden: Nds. OVG Lüneburg, Beschluss vom 13.08.2009 - 11 LA 354/09 -, nicht veröffentlicht, unter Bezugnahme auf Hailbronner, AuslR, Stand: April 2009, § 23 AufenthG Rn. 6 ff. m.w.N.).
Nach dem Wortlaut der abgestimmten Dienstanweisung sind Straftäter von dem Anwendungsbereich der Anweisung ausgenommen; eine Wiederholungsgefahr wie bei der Anwendung von § 60 Abs. 8 AufenthG ist dabei nicht zusätzlich erforderlich. Auch nach der tatsächlichen Praxis wird bei Straftätern nicht noch zusätzlich eine Wiederholungsgefahr gefordert. Nach Kenntnis des erkennenden Gerichts werden in Niedersachsen vielmehr generell Straftäter von dem Anwendungsbereich der abgestimmten Dienstanweisung ausgenommen.
Der Kläger unterfällt als Straftäter somit nicht dem Anwendungsbereich der Dienstanweisung. Er hat auch keinen Anspruch auf Gleichbehandlung mit Nichtstraftätern. Der Ausschluss bestimmter Ausländer von einer politischen Billigkeitsentscheidung aus humanitären Gründen kann allenfalls in besonders gelagerten Ausnahmefällen dann rechtswidrig sein, wenn die fehlende Berücksichtigung als nicht mehr verständlich und damit willkürlich erscheint ((vgl. Nds. OVG Lüneburg, a.a.O. unter Bezugnahme auf Hailbronner, a.a.O., Rn. 11 ff.). Anhaltspunkte für Willkür sind hier jedoch nicht ersichtlich (so auch Nds. OVG, a.a.O.).
Der Widerrufsbescheid kann jedoch deshalb keinen Bestand haben, weil die für einen Widerruf notwendigen Voraussetzungen nach § 73 Abs. 1 AsylVfG nicht vorliegen. [...]
Die Rechtsprechung zu der Frage, ob für türkische Yeziden in der Türke inzwischen eine hinreichende Verfolgungssicherheit besteht, ist uneinheitlich:
Bejahend: Nds. OVG, Urteil vom 17.07.2007 - 11 LB 332/03 - (die hiergegen gerichtete Zulassungsbeschwerde wurde durch Beschluss des BVerwG vom 23.04.2008 - 10 B 156/04 - abgewiesen, ferner wurde die erhobene Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, BVerfG, Beschluss vom 03.07.2008 - 2 BvR 1083/08 -), OVG des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 24.10.2007 - 3 L 303/04 -, VG Hannover, Urteile vom 30.04.2003 - 1 A 389/02 - und 19.12.2007 - 1 A 3097/06 -, alle veröffentlicht bei juris).
Verneinend: OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 05.06.2007 - 10 A 11576/06 - (wobei im Rahmen eines Widerrufsverfahrens eine Gruppenverfolgung gar nicht geprüft wurde, weil es bereits an einer relevanten Gruppe fehle), VG Dresden, Urteil vom 23.07.2008 - 4 K 30188/06 -, VG Freiburg, Urteil vom 25.09.2008 - A 6 K 199/07 -, VG Koblenz, Urteil vom 15.10.2008 - 2 K 2027/07.KO- (wobei eine Gruppenverfolgung nicht geprüft wurde, wie OVG Rheinland-Pfalz), VG Karlsruhe, Urteil vom 02.12.2008 - A 5 K 1217/06 - (ebenfalls die Frage der Gruppenverfolgung offen gelassen und individuelle Verfolgung bejaht), VG Hamburg, Urteil vom 22.03.2007 - 15 A 1008/06 -, VG des Saarlandes, Urteil vom 14.02.2008 - 6 K 400/07 -, VG Stuttgart, Urteil vom 09.03.2007 - A 9 K 1159/06 -, VG Neustadt an der Weinstraße, Urteil vom 01.06.2006 - 4 K 493/06.NW -, alle veröffentlicht bei juris).
Z. Zt. der Asylanerkennung des Klägers wurde von der Rechtsprechung ohne Ausnahme vertreten, dass Yeziden in ihren angestammten Siedlungsgebieten in der Südosttürkei seit Mitte der 80er Jahre einer Gruppenverfolgung wegen ihrer Religion durch die moslemische Bevölkerungsmehrheit ausgesetzt waren. Die festgestellten Übergriffe wie Vieh- und Erntediebstahl, Landraub bis hin zu Körperverletzungen und Tötungsdelikten wurden maßgeblich mit der traditionell vorhandenen, religiös bedingten Missachtung der Yeziden durch die moslemische Mehrheitsbevölkerung in Zusammenhang gebracht. Yeziden würden bei Moslems aus religiösen Gründen als minderwertig und damit als mehr oder weniger rechtlos gelten. Daher glaubten Moslems, guten Gewissens und moralisch gerechtfertigt gegen sie vorgehen zu können, ohne befürchten zu müssen, deshalb zur Rechenschaft gezogen zu werden. Als Folge hiervon wurde konstatiert, dass so gut wie keine Hemmschwelle für die Moslems im Umgang mit den Yeziden bestand. Als weitere Ursache für die Verfolgung der Yeziden wurde das traditionelle Aga-System angeführt. Die damit verbundene Machtstruktur wurde als besonders anfällig für Vorurteile und Gewalt gegen Schwächere angesehen. Für die Verfolgung der Yeziden war der türkische Staat asylrechtlich verantwortlich. Die Verfolgungshandlungen wurden ihm zugerechnet, weil er keine wirksame Hilfe leistete. Als Grund hierfür wurde maßgeblich der Umstand angeführt, dass ein Eingreifen zugunsten der von der Mehrheit nicht geachteten Minderheit dem Ziel des türkischen Staates zuwider gelaufen wäre, sich in den vom Konflikt mit der PKK betroffenen Gebieten kurdische Clans gewogen zu halten, die in großem Umfang Dorfschützerarmeen gestellt haben bzw. stellen sollten (s. Nds. OVG, Grundsatzurteil vom 28.01.1993 - 11 L 513/89 -, mit welchem das OVG erstmals eine mittelbare Gruppenverfolgung für Yeziden in der Südosttürkei angenommen hat, juris, vgl. auch VG Saarland, a.a.O., m. Rechtsprechungshinweisen).
Ergebnis dieser Situation ist die heute festzustellende Verdrängung nahezu aller Yeziden aus ihrem angestammten Lebensraum in der Türkei und die Übernahme des ehemals von Yeziden bewirtschafteten Landes durch der Mehrheitsbevölkerung angehörende Muslime. Nach Auswertung des einschlägigen Erkenntnismaterials geht die Kammer von noch ca. 500 Yeziden von ehemals mehreren Zehntausend aus, die noch im Land ansässig sind (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 17.07.2007, a.a.O., das bei seiner Prüfung ebenfalls eine Anzahl von 500 - 600 verbliebenen Yeziden zugrunde legt). Diese Annahme stützt sich auf die im Kern übereinstimmenden Zählungen, die das Yezidische Forum e.V. Oldenburg (im Folgenden: Yezidisches Forum) und der Gutachter P. (im Folgenden: P.) vorgenommen haben, wobei das Yezidische Forum frühere anderslautende Angaben mit überzeugenden Gründen relativiert hat (vgl. Yezidisches Forum, Stellungnahme vom 04.07.2006; P., Auskunft an OVG Sachsen-Anhalt vom 17.07.2006). Diese Zahlen decken sich mit Auskünften der Gutachter Sternberg, Spohr und Wießner, nach denen schon Mitte der 90er Jahre nur noch wenige - einige 100 bis 1000 - vorwiegend ältere Yeziden in der Türkei lebten (vgl. Sternberg, Spohr, Bestandsaufnahme der Restbevölkerung der kurdischen Ezdi in der Südosttürkei März/Oktober 1993, Wießner, Auskunft an Hessischen VGH vom 15.07.1996). Demgegenüber stand das Auswärtige Amt mit der in seinem Lagebericht vom 11.01.2007 (s. dort, S. 26) noch angenommenen Zahl von 2000 in der Türkei lebenden Yeziden allein. In seinem neuen, aktuellen Lagebericht vom 29.06.2009 (s. dort S.11) hat es diese Zahl - ohne Angabe von Gründen - allerdings geändert und geht ebenfalls von nur noch ca. 400 in der Türkei verbliebenen Yeziden aus. Damit ist nunmehr nach allen Erkenntnismitteln von einer Anzahl von 400 bis 500 in der Türkei noch lebenden Yeziden auszugehen.
Die neueren Erkenntnisse beinhalten keine Fakten, die eine nachhaltige, im Hinblick auf den vorbezeichneten reduzierten Wahrscheinlichkeitsmaßstab ausreichende Änderung der bis vor wenigen Jahren von der Rechtsprechung und der Beklagten in Asylverfahren von Yeziden aus der Türkei einhellig zugrunde gelegten Tatsachenlage belegen könnten. [...]
Dem Kläger steht bei einer Rückkehr in sein Heimatland auch kein anderes Gebiet offen, in das ihm eine Rückkehr zumutbar wäre. Insbesondere die Möglichkeit einer Wohnsitznahme in der Westtürkei, die schon die Beklagte nicht erwogen hat, verbietet sich deshalb, weil sich aus den diesbezüglichen Stellungnahmen überzeugend ergibt, dass Yeziden dort wegen ihrer Religion, Herkunft und Kultur nicht überleben können und sich dort weniger als ein Dutzend Yeziden aufhalten (vgl. P., Stellungnahme an das OVG Sachsen-Anhalt vom 17.04.2006; Yezidisches Forum, Stellungnahme vom 04.07.2006). Dem Kläger, der vor religiöser Verfolgung geflohen ist, ist aber eine Rückkehr mit anschließender Verleugnung seiner Religion, seiner Herkunft und seiner Kultur keineswegs zumutbar (so auch OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 05.06.2007, a.a.O.). [...]