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VG Koblenz

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Zitieren als:
VG Koblenz, Beschluss vom 27.10.2009 - 3 L 1176/09.KD - asyl.net: M16160
https://www.asyl.net/rsdb/M16160
Leitsatz:

Erlaubnis zum länderübergreifenden vorübergehenden Verlassen des Wohnsitzbereichs für eine Geduldete zum Schullandheimaufenthalt. Ermessensreduzierung auf Null, es geht im Rahmen der §§ 61 Abs. 1, 12 Abs. 5 AufenthG nicht darum, angeblich fehlende Mitwirkungspflichten zu sanktionieren; der Einwand des Antragsgegners, Ausländer ohne Einkommen würden in Bezug auf deutsche Schüler im unteren Einkommensbereich unangemessen bevorteilt werden, ist sachfremd.

Schlagwörter: Wohnsitzauflage, Schullandheimaufenthalt, vorübergehendes Verlassen des Wohnsitzbereichs, Ermessensreduzierung auf Null
Normen: VwGO § 123, AufenthG § 61 Abs. 1, AufenthG § 12 Abs. 5
Auszüge:

[...] Mit dieser Sicht der Dinge hat es allerdings nicht sein Bewenden. Gemäß § 12 Abs. 5 AufenthG hat die zuständige Ausländerbehörde eine Entscheidung darüber zu treffen, ob dem antragstellenden Ausländer das Verlassen des ihm kraft Gesetzes zugewiesenen Aufenthaltsbereichs ermöglicht werden kann oder nicht. Nach § 12 Abs. 5 Satz 2 AufenthG ist auf Antrag eine solche Erlaubnis zwingend zu erteilen, wenn hieran ein dringendes öffentliches Interesse besteht, zwingende Gründe es erfordern oder die Versagung der Erlaubnis eine unbillige Härte bedeuten würde. Liegen diese tatbestandlichen Voraussetzungen, die als unbestimmte Rechtsbegriffe der vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegen, nicht vor, so muss die zuständige Ausländerbehörde - und dies verkennt der Antragsgegner - dann nach § 12 Abs. 5 Satz 1 AufenthG im Wege des pflichtgemäßen Ermessens darüber entscheiden, ob sie das Verlassen erlauben will oder nicht.

Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist § 12 Abs. 5 AufenthG mit seinen Sätzen 1 und 2 vorliegend auch anzuwenden. Soweit der Antragsgegner meint, § 61 Abs. 1 AufenthG bilde insoweit eine abschließende Regelung, kann ihm nicht gefolgt werden. § 12 Abs. 5 AufenthG ermächtigt die Ausländerbehörde, dem Ausländer das Verlassen des auf der Grundlage dieses Gesetzes beschränkten Aufenthaltsbereichs zu ermöglichen. "Auf der Grundlage dieses Gesetzes beschränkter Aufenthaltsbereich" ist auch der Aufenthaltsbereich gemäß § 61 Abs. 1 AufenthG (vgl. hierzu Kloesel/Christ/Häuser, Deutsches Aufenthalts- und Ausländerrecht, § 12 Rdnr. 75; Renner, Ausländerrecht, Kommentar, 8. Auflage § 61 Rdnr. 4; Ziffer 61.1.3 der noch anzuwendenden vorläufigen Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern zum Aufenthaltsgesetz und zum Freizügigkeitsgesetz/EU vom 22. Dezember 2004).

Findet mithin § 12 Abs. 5 AufenthG auch in den Fällen des § 61 AufenthG Anwendung, so spricht vorliegend bei summarischer Prüfung alles dafür, dass der Antragstellerin der geltend gemachte Anspruch zusteht.

Ungeachtet der Frage, ob die Antragstellerin die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 12 Abs. 5 Satz 2 AufenthG erfüllt, sind nach Aktenlage keine tragfähigen Gründe erkennbar, die den Antragsgegner berechtigten könnten, den Antrag der Antragstellerin im Ermessenswege abzulehnen. Hiervon ausgehend kann die seitens des Antragsgegners zu treffende pflichtgemäße Ermessensentscheidung, die bislang nicht getroffen wurde, vorliegend auch nur allein in der Erteilung der Verlassenserlaubnis bestehen (sog. Ermessensreduzierung auf Null).

Im Rahmen der gemäß §§ 61 Abs. 1, 12 Abs. 5 Satz 1 AufenthG zu treffenden Ermessensentscheidung ist darüber zu befinden, ob dem Antrag der Antragstellerin entsprochen werden kann. Mit dieser Möglichkeit hat der Gesetzgeber der Ausländerbehörde eine Rechtsgrundlage für eine flexible Möglichkeit eingeräumt, Ausnahmen zuzulassen.

Im Rahmen der Ermessensentscheidung sind zunächst einmal die persönlichen und privaten Belange der Antragstellerin einzustellen. Insoweit kann die Antragstellerin zunächst zu ihren Gunsten darauf hinweisen, dass sie die Klasse 6 der Hauptschule in ... besucht und damit Anstrengungen unternimmt, sich in der Bundesrepublik zu integrieren. Die Nichtteilnahme an dem geplanten Schullandheimaufenthalt würde dazu führen, dass die Antragstellerin von einer schulischen Veranstaltung (vgl. Auskunft des Schulleiters der Hauptschule in ... vom 26. Oktober 2009) ausgeschlossen würde; ihre persönlichen Belange würden dadurch beeinträchtigt, der Ausschluss von dieser Klassenfahrt würde für sie auch eine Härte bedeuten. Durch die Aufnahme auch von geduldeten Ausländern in öffentlichen Schulen besteht mit Blick auf die Antragstellerin und auch mit Blick auf deren Mitschüler ein gewichtiges Bedürfnis an einer schulischen Integration, weil anderenfalls ein geordneter Unterrichtsablauf und ein Funktionieren des Klassenverbandes nicht gewährleistet sind. In diesem Zusammenhang kommt mehrtägigen Klassenfahrten ein pädagogischer Stellenwert zu; denn das tägliche Zusammenleben schafft mehr als der Schulalltag Gelegenheit zur Übung im Lösen von Konfliktsituationen und fördert den Ablauf von Sozialisierungsprozessen (vgl. VGH Kassel, Beschluss vom 13. März 1990 - 12 TG 689/90 - S. 4 ff., zitiert nach juris).

All dies liegt aber auch im öffentlichen Interesse. Die Teilnahme am Schulunterricht dient dazu, ausländische Mitbürger im Bundesgebiet zu integrieren. Dem dient die Einführung der Schulpflicht. Das Fernhalten von schulischen Veranstaltungen würde diesem Ziel entgegenwirken.

Auch das gesetzgeberische Ziel des § 61 Abs. 1 AufenthG wird vorliegend nicht in Frage gestellt. Hauptziel des § 61 AufenthG ist es, die Durchsetzung der Ausreisepflicht zu fördern. Des weiteren dient § 61 Abs. 1 AufenthG dem Zweck, das Untertauchen eines vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländers zu erschweren und die Erfüllung der Ausreisepflicht besser zu überwachen. Durch die gesetzliche Anordnung der räumlichen Beschränkung für vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer wird des Weiteren vermieden, dass in jedem Fall einer räumlichen Beschränkung ein rechtsmittelfähiger Verwaltungsakt erlassen werden muss. § 61 AufenthG orientiert sich an § 56 AsylVfG. Hierdurch sollen vollziehbar Ausreisepflichtige gegenüber Asylbewerbern nicht bessergestellt werden.

Der Antragsgegner kann bei dem hier zu bewertenden Sachverhalt keine tragfähigen Gründe benennen, die diese Zwecke im Falle der Erteilung der begehrten Erlaubnis in Frage stellen würden. Dafür, dass die Antragstellerin bzw. ihre Familie während des neuntägigen Schullandheimaufenthalts untertauchen könnten, sind keinerlei Erkenntnisse vorhanden. Der Antragsgegner kann auch nicht belegen, die Erfüllung der Ausreisepflicht könne besser überwacht oder gar durchgesetzt werden, wenn der Antragstellerin die Erlaubnis zum kurzfristigen Verlassen des Aufenthaltsbereichs versagt würde. In dieser Richtung ergeben sich keinerlei Erkenntnisse. Gemessen am Zweck des § 61 Abs. 1 AufenthG sind mithin keine Anhaltspunkte erkennbar, die zu Lasten der Antragstellerin gehen könnten.

Soweit der Antragsgegner einwendet, die Familie der Antragstellerin habe in der Vergangenheit keine ausreichenden Bemühungen an den Tag gelegt, freiwillig auszureisen bzw. bei der Beschaffung von Passersatzpapieren mitzuwirken, so macht er einen Sachverhalt geltend, der bei der hier zu treffenden Ermessensentscheidung nicht zu berücksichtigen ist. Es geht im Rahmen der §§ 61 Abs. 1, 12 Abs. 5 Satz 1 AufenthG nicht darum, angeblich fehlende Mitwirkungspflichten zu sanktionieren; im Rahmen der zu treffenden Ermessensentscheidung ist vielmehr u.a. zu fragen, ob die Weigerung, eine Verlassenserlaubnis zu erteilen, die Durchsetzung der Ausreisepflicht fördern kann. Dies ist indessen vorliegend nicht zu belegen. Nach Aktenlage deutet vieles darauf hin, dass der Antragsgegner die Antragstellerin mittelbar dafür bestrafen will, dass sie und ihre Eltern bislang ihrer Ausreisepflicht nicht nachgekommen sind, bzw. zumindest keine Angaben zur Beschaffung von Passersatzpapieren gemacht haben. Dies ist kein zulässiger Ermessenseinwand im Rahmen des § 12 Abs. 5 Satz 1 AufenthG.

Ebensowenig trägt der weitere Einwand des Antragsgegners, Ausländer mit keinem Einkommen würden in Bezug auf deutsche Schüler im unteren Einkommensbereich unangemessen bevorteilt werden. Dabei bedarf es vorliegend keiner Entscheidung, ob dem so ist oder nicht. Der seitens des Antragsgegners geltend gemachte Aspekt ist jedenfalls für die hier zu treffende Ermessensentscheidung ohne jeglichen Belang und daher sachfremd. Die Problematik der Teilnahme an derartigen Klassenfahrten aus finanziellen Erwägungen ist nämlich nicht mit Mitteln des Aufenthaltsgesetzes zu lösen. Derartige Konflikte können nur durch entsprechende Zurverfügungstellung von Mitteln, Inanspruchnahme von Sozialleistungen oder ähnlichen Leistungen geregelt werden (vgl. in diesem Zusammenhang z.B. § 31 Abs. 1 Nr. 3 SGB XII und § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB II, die einen einmaligen Bedarf bei mehrtägigen Klassenfahrten unabhängig von der Staatsangehörigkeit anerkennen). [...]