OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 20.08.2009 - 8 PA 109/09 - asyl.net: M16053
https://www.asyl.net/rsdb/M16053
Leitsatz:

Es ist offen, ob Aufenthaltszeiten vor dem 1.1.2005 gem. § 102 Abs. 2 AufenthG auf die Aufenthaltsdauer gem. § 26 Abs. 4 AufenthG angerechnet werden können, wenn der Ausländer zwar eine Duldung besaß, er jedoch einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels hatte.

Schlagwörter: Prozesskostenhilfe, Erfolgsaussichten, Niederlassungserlaubnis, Aufenthaltsdauer, Übergangsregelung, Zuwanderungsgesetz, Duldung, Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltsbefugnis, Anspruch
Normen: VwGO § 166; ZPO § 114; AufenthG § 26 Abs. 4; AufenthG § 102 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Die zulässige Beschwerde der Klägerin gegen den ihr Prozesskostenhilfe versagenden Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 10. Juni 2009 ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet, im Übrigen unbegründet. [...]

Zwar kann der Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis bzw. auf erneute Entscheidung über einen solchen Anspruch gegenwärtig nicht erfolgreich auf § 26 Abs. 4 Satz 1 - 3 AufenthG gestützt werden. Wie ihr Vater (vgl. Senatsbeschl. v. 7.8.2009 - 8 PA 108/09 -), verfügt die Klägerin zur Zeit noch nicht über die nach § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG notwendige Voraufenthaltszeit. [...]

Auf die Frist von sieben Jahren i.S.d. § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG können hier auch mit Blick auf § 102 Abs. 2 AufenthG weitere Zeiten nicht angerechnet werden. Nach der letztgenannten Bestimmung werden auf die Frist des § 26 Abs. 4 AufenthG Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis oder einer Duldung vor dem 1. Januar 2005 angerechnet. Der Gesetzgeber wollte mit der Übergangsregelung in § 102 Abs. 2 AufenthG den eng begrenzten Personenkreis derjenigen Ausländer privilegieren, deren Aufenthaltsstatus sich durch das Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes verbessert hat, die also bei Geltung des Aufenthaltsgesetzes bereits vor dem 1. Januar 2005 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis i.S.d. Aufenthaltsgesetzes gewesen wären, die ihnen zuvor (allein) wegen der abweichenden, für sie ungünstigeren Rechtslage nach dem Ausländergesetz nicht erteilt werden konnte. Sie sollen durch § 102 Abs. 2 AufenthG so gestellt werden, als hätte das Aufenthaltsgesetz bereits zuvor gegolten und als wären sie deshalb schon damals im Besitz eines (besseren) Aufenthaltstitels gewesen (vgl. Senatsbeschl. v. 12.7.2007 - 8 PA 54/07 -, sowie VGH Mannheim, Beschl. v. 19.5.2008 - 11 S 942/08 AuAS 2008, 134 f.). Zu diesem Personenkreis gehört die Klägerin nicht. Denn sie war vor dem 1. Januar 2005 nicht im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis. Die ihr statt dessen erteilte Duldung war nicht allein auf Grund des Inkrafttretens des Aufenthaltsgesetzes ab dem 1. Januar 2005 in eine Aufenthaltserlaubnis umzuwandeln. Für die wortlautgetreue Anwendung des § 102 Abs. 2 AufenthG ist es ferner unerheblich, dass die Klägerin sinngemäß geltend macht, ihr hätte bereits ab Antragstellung am 27. Februar 2003 eine Aufenthaltsbefugnis (nach § 30 AuslG) erteilt werden müssen, die fortlaufend hätte verlängert werden müssen, nach Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes gemäß dessen § 101 Abs. 2 als Aufenthaltserlaubnis i.S.d. Aufenthaltsgesetzes fort gegolten hätte und deshalb nach § 102 Abs. 2 AufenthG auf die Frist von sieben Jahren i.S.d. § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG anzurechnen wäre. Denn § 102 Abs. 2 AufenthG setzt dem Wortlaut nach den hier gerade fehlenden tatsächlichen Besitz einer Aufenthaltsbefugnis voraus.

Allerdings kommt insoweit grundsätzlich eine entsprechende Anwendung des § 102 Abs. 2 AufenthG in dem Sinne in Betracht, dass Zeiten, für die dem Ausländer ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis (i. S. d. AuslG) zustand, den Zeiten, in denen der Ausländer tatsächlich im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis war, gleichgestellt werden, wenn der Ausländer diesen Anspruch hinreichend geltend gemacht hat und hierüber aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen bislang nicht bindend entschieden worden ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 8.5.2003 - 1 C 4.02 -, BVerwGE 118, 166 ff., m.w.N). Eine solche Fallgestaltung kommt vorliegend in Betracht. Denn über die Frage, ob der Klägerin bereits ab dem Zeitpunkt ihrer Antragstellung am 27. Februar 2003 ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis nach § 30 AuslG zugestanden hat, ist nicht bindend entschieden worden. Das Verwaltungsgericht Göttingen hat in seinem rechtskräftigen Urteil vorn 10. November 2005 (1 A 266/04) die Beklagte vielmehr "nur" zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis i. S. d. Aufenthaltsgesetzes ab dem Zeitpunkt der Urteilsverkündung verpflichtet und den vorhergehenden, ablehnenden Bescheid der Beklagten vom 2. Juli 2003 aufgehoben. Entsprechend einer verbreiteten Praxis hat das Verwaltungsgericht aber nicht darüber entschieden, ob der Klägerin nicht bereits ab Antragstellung im Februar 2003 ein Aufenthaltstitel zu erteilen gewesen wäre. Selbst wenn der Klägerin aber bereits ab dem 27. Februar 2003 ein - seither fortlaufend zu verlängernder - Aufenthaltstitel zugestanden hätte und sie deshalb seit dem 27. Februar 2003 über eine i.S.d. § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG anrechenbare Voraufenthaltszeit verfügen würde, hätte sie bislang noch nicht die erforderlichen sieben Jahre erreicht. Zeiten, in denen ihr Aufenthalt vor dem 27. Februar 2003 geduldet worden ist und in denen sie keinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis gestellt hatte, können nach § 102 Abs. 2 AufenthG nicht noch zusätzlich hinzugerechnet werden. § 102 Abs. 2 AufenthG lässt eine solche kumulative Anrechnung nicht zu. Die Klägerin erfüllt somit frühestens am 27. Februar 2010 die erforderliche Voraufenthaltszeit von sieben Jahren i.S.d. § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG.

Nach den vorstehenden Ausführungen kann sich die Klägerin aber ggf. auf einen anrechenbaren Voraufenthaltszeitraum nach § 26 Abs. 4 Satz 1 bis 3 AufenthG i.V.m. § 102 Abs. 2 AufenthG von mehr als fünf Jahren berufen, wenn ihr schon ab Antragstellung im Februar 2003, zumindest aber spätestens zum August 2004 ein Anspruch auf Erteilung eines seitdem fortlaufend zu verlängernden Aufenthaltstitels zugestanden hat, was ggf. inzident im weiteren Verlauf des Hauptsacheverfahrens zu prüfen ist. In diesem Falle könnte die Klägerin über die für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 Satz 4 AufenthG i.V.m. § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG notwendige Voraufenthaltszeit von "nur" fünf Jahren verfügen. Dies setzt allerdings weiterhin voraus, dass bei der entsprechenden Anwendung des § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nach § 26 Abs. 4 Satz 4 AufenthG auch Zeiten des Besitzes eines Aufenthaltstitels aus humanitären Gründen nach § 25 AufenthG bzw. § 30 AuslG i.V.m. § 102 Abs. 2 AufenthG anrechenbar sind. Der Senat hat die Frage, ob eine solche Anrechnung möglich und geboten ist, in seinem Beschluss vom 12. Juli 2007 (8 PA 54/07) offen gelassen und kann dies auch im vorliegenden Verfahren tun. Denn diese Frage ist - soweit ersichtlich - weiterhin nicht höchstrichterlich geklärt; in der obergerichtlichen Rechtsprechung wird die Anrechenbarkeit überwiegend bejaht (VGH München, Beschl. v. 17.12.2008 - 19 CS 08. 2655 - 2657 -, juris; OVG Bautzen, Beschl. v. 29.3.2007 - 3 Bs 113/06 -, ZAR 2007, 247 f.; vgl. ferner OVG Münster, Beschl. v. 11.5.2009 - 18 A 462/09 juris). Dies reicht für eine hinreichende Erfolgsaussicht der Klage insoweit aus. [...]