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VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 01.07.2009 - 3 K 206/09.KS.A - asyl.net: M16027
https://www.asyl.net/rsdb/M16027
Leitsatz:

In Kabul herrscht kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt gem. § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG; kein Erlöschen von Abschiebungsverboten gem. § 60 Abs. 2-7 AufenthG bei freiwilliger Ausreise in analoger Anwendung des § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG.

Schlagwörter: Afghanistan, Folgeantrag, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, bewaffneter Konflikt, ernsthafter Schaden, Kabul, Feststellungsklage, Klageänderung, Sachdienlichkeit, Rechtsschutzinteresse, Feststellungsinteresse, Erlöschen, freiwillige Ausreise, Analogie
Normen: AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7; VwGO § 91 Abs. 1; AsylVfG § 72 Abs. 1 Nr. 1; AsylVfG § 73 Abs. 3
Auszüge:

[...]

Die Klage ist zulässig, und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang auch begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Feststellung, dass ihm nach wie vor das durch Bescheid der Beklagten vom 15.07.1999 zugesprochene Abschiebungshindernis zur Seite steht; im Übrigen ist die Klage jedoch unbegründet, denn der Kläger hat keinen Anspruch auf die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens und die Anerkennung als Asylberechtigter gem. Art. 16 a GG oder die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 1 bzw. Abs. 2 bis 6 AufenthG. [...]

Im Hauptantrag hat die Klage insoweit keinen Erfolg, denn hinsichtlich der Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 und 3 AufenthG ist weder substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan die konkrete Gefahr der Folter oder sonst unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder gar der Todesstrafe droht. Der Kläger hat ferner auch keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, wonach von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen ist, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt wäre. Insoweit mag dahinstehen, ob die Zulässigkeitsvoraussetzungen nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG gegeben sind, denn der Antrag ist insoweit jedenfalls nicht begründet. Weder in ganz Afghanistan noch in der Hauptstadt Kabul, in der der Kläger zuletzt gelebt hat, herrscht ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Dieser Begriff ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts anhand der vier Genfer Konventionen von 1949 auszulegen, die durch Zusatzprotokolle ergänzt worden sind. Darunter fallen alle bewaffneten Konflikte, die im Hoheitsgebiet eines Staates zwischen dessen Streitkräften und abtrünnigen Streitkräften oder anderen organisierten bewaffneten Gruppen stattfinden, die unter einer verantwortlichen Führung eine solche Kontrolle über einen Teil des staatlichen Hoheitsgebietes ausüben, dass sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen durchführen, während innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und andere ähnliche Handlungen nicht als ein derartiger bewaffneter Konflikt gelten. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts nicht von vornherein aus. Er muss hierfür aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen. Typische Beispiele sind Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe. Von dem völkerrechtlichen Begriff des "bewaffneten Konflikts" sind nur Auseinandersetzungen von einer bestimmten Größenordnung an erfasst. Ob die Konfliktparteien einen so hohen Organisationsgrad erreichen müssen wie er für die Erfüllung der Verpflichtungen nach den Genfer Konventionen von 1949 und für den Einsatz des Internationalen Roten Kreuzes erforderlich ist, kann hier dahingestellt bleiben. Die Orientierung an den Kriterien des humanitären Völkerrechts findet jedenfalls dort ihre Grenze, wo ihr der Zweck der Schutzgewährung für in Drittstaaten Zuflucht Suchende widerspricht. Kriminelle Gewalt wird bei der Feststellung, ob ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vorliegt, jedenfalls dann nicht berücksichtigt, wenn sie nicht von einer der Konfliktparteien begangen wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.06.2008, a.a.O. und Hess. VGH, Urteil vom 11.12.2008, 8 A 611/08.A).

Nach diesen Kriterien und den vorliegenden Erkenntnisquellen ist davon auszugehen, dass (noch) nicht das gesamte Land, sondern (bisher) nur der Süden und (Süd-)Osten Afghanistans von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt erfasst ist. Zwar ist auch in westlichen Provinzen wie Herat eine Reinfiltration der Taliban bzw. Islamisten zu verzeichnen (AA, Lagebericht vom 03.02.2009). Auch dort kommt es wie in Kabul zu Anschlägen gegen Polizei und sonstige Sicherheitskräfte, bei denen Zivilisten zu den Opfern zählen (vgl. ai vom 17.01.2007 an Hess. VGH). Insgesamt ist die Sicherheitslage im Westen und Norden Afghanistans aber nach den vorliegenden Erkenntnisquellen noch nicht so angespannt wie im Süden und (Süd-)Osten des Landes. In Kabul wird sie sogar vom Auswärtigen Amt noch nach wie vor als im regionalen Vergleich zufriedenstellend bezeichnet (AA, Lagebericht vorn 03.02.2009). [...]

Soweit der Kläger jedoch beantragt festzustellen, dass ihm nach wie vor das Abschiebungshindernis des § 53 Abs. 6 Satz 1 AusfG (heute: § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) zur Seite steht, ist die Klage begründet.

Die in der Umstellung des Klageantrags liegende Klageänderung ist i.S.d. § 91 Abs. 1 VwGO sachdienlich und damit zulässig. Da dem Kläger bereits mit Bescheid vom 15.07.1999 ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zuerkannt worden ist, fehlt einem auf die Feststellung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gerichteten Klageantrag das Rechtsschutzbedürfnis, weil dadurch eine Verbesserung der Rechtsstellung des Klägers nicht erreicht werden könnte. Darin liegt keine Einschränkung des Rechtsschutzes für den Kläger, da er im Falle eines Widerrufs des ihm zuerkannten Abschiebungshindernisses in dem dann zu führenden Verfahren die jetzt geltend gemachten Gründe - so sie dann noch von Belang sind - oder alle sonst gegen die Abschiebung denkbaren Einwendungen vorbringen kann.

Der Kläger hat auch ein berechtigtes Interesse an der Feststellung, dass das ihm mit Bescheid vom 15.07.1999 zuerkannte Abschiebungshindernis nicht durch seine freiwillige Ausreise erloschen ist, denn das Bundesamt ist in seinem Bescheid vom 26.08.2005 davon ausgegangen, dass deswegen kein Schutz mehr zu gewähren sei. Darüber hinaus ist im Bescheid vom 29.01.2009 offensichtlich ebenfalls davon ausgegangen, dass ein Abschiebungsverbot nach 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unanfechtbar abgelehnt wurde und hat zugleich Wiederaufgreifensgründe verneint, mit der Folge, dass die Ausländerbehörde die Abschiebung tatsächlich beabsichtigt.

Der Feststellungsantrag ist auch begründet, denn das dem Kläger zuerkannte Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG ist nicht weggefallen.

Soweit die Beklagte meint, der Kläger habe seinen Abschiebungsschutz durch die freiwillige Rückkehr in sein Heimatland verloren, enthält das AsylVfG keine derartige Regelung. Zwar bestimmt § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG dass die Asylanerkennung bzw. Flüchtlingseigenschaft desjenigen erlischt, der sich erneut dem Schutz des Staates unterstellt, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Der Wortlaut bezieht sich jedoch eindeutig nur auf Art. 16 a GG bzw. § 60 Abs. 1 AufenthG. Eine analoge Anwendung auch auf Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG kommt nicht in Betracht, denn die Erlöschensgründe sind flüchtlingsrechtlich orientiert und lassen sich deshalb nicht auf die menschenrechtlich begründeten Abschiebungsschutztatbestände nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG übertragen. Eine positive Feststellung nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG kann daher ausschließlich nach Maßgabe des § 73 Abs. 3 AufenthG widerrufen werden (vgl. Marx, Kommentar zum AsylVfG, 6. Aufl., 2005, § 72 Rn. 3). Ein solcher Widerruf ist hier jedoch gerade nicht erfolgt. [...]