BlueSky

VG Schleswig-Holstein

Merkliste
Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 10.08.2009 - 15 A 173/08 - asyl.net: M15990
https://www.asyl.net/rsdb/M15990
Leitsatz:

§ 73 Abs. 2 b AsylVfG ist nicht im Fall des Todes des Stammberechtigten anwendbar; § 73 Abs. 2 b AsylVfG regelt den Widerruf des Familienasyls und -abschiebungsschutzes abschließend, so dass eine ergänzende Anwendung des § 73 Abs. 1 AsylVfG nicht in Betracht kommt.

 

Schlagwörter: Verfahrensrecht, Widerruf, Familienasyl, Tod, Stammberechtiger, analoge Anwendung, Flüchtlingsanerkennung, Absehen von Entscheidung, atypischer Ausnahmefall
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 2b; AsylVfG § 26; AsylVfG § 73 Abs. 1; AsylVfG § 31 Abs. 5
Auszüge:

§ 73 Abs. 2 b AsylVfG ist nicht im Fall des Todes des Stammberechtigten anwendbar; § 73 Abs. 2 b AsylVfG regelt den Widerruf des Familienasyls und -abschiebungsschutzes abschließend, so dass eine ergänzende Anwendung des § 73 Abs. 1 AsylVfG nicht in Betracht kommt.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

1.) Die Voraussetzungen eines Widerrufs der Asylanerkennung der Klägerin liegen nicht vor. Da die Klägerin mit Bescheid 07.03.1994 nach den Vorschriften über das Familienasyl (§ 26 AsylVfG) als Asylberechtigte anerkannt worden ist, sind die Voraussetzungen für den Widerruf einer solchen Asylanerkennung der speziellen Regelung in § 73 Abs. 2 b AsylVfG zu entnehmen. Die Voraussetzungen eines Widerrufs der Familienasylanerkennung der Klägerin liegen danach nicht vor. [...]

Vorliegend ist die Asylanerkennung des Stammberechtigen zu seinen Lebzeiten weder widerrufen noch zurückgenommen worden. Sie ist auch nicht erloschen. Der Stammberechtigte ist zwar am 02.11.2004 gestorben und dadurch hat sich dessen Asylanerkennung erledigt, jedoch gehört der Tod des Asylberechtigten nicht zu Erlöschensgründen, die im Rahmen von § 72 Abs. 1 AsylVfG katalogartig aufgezählt werden.

Die Frage, ob im Falle des Todes des Stammberechtigten eine analoge Anwendung des § 73 Abs. 2 b AsylVfG in Betracht kommt, ist zu verneinen. Eine analoge Anwendung dieser Vorschrift im Falle des Todes des Stammberechtigten würde voraussetzen, dass insoweit eine ungeplante Regelungslücke festzustellen ist. Zu einer solchen Annahme besteht kein Anlass. Das Familienasyl und nunmehr auch der Familienflüchtlingsschutz beruhen auf der Annahme der Erstreckung der Verfolgungsgefahr auf die weiteren Mitglieder der Kernfamilie des politisch Verfolgten. Eine solche Verfolgungsgefahr erledigt sich nicht notwendig, wenn sich der stammberechtigte Ehegatte von dem Familienasyl genießenden Ehegatten scheiden lässt, wenn die minderjährigen Kinder, denen Familienasyl gewährt wurde, volljährig werden, und wenn der Stammberechtigte stirbt. Dementsprechend kann ein fortbestehender Schutz in solchen Fällen durchaus gewollt sein. Gerade im Falle des Todes des Stammberechtigten besteht keine Veranlassung zu der Annahme, dass der Gesetzgeber einen insoweit typischerweise angebrachten Widerrufsgrund nur übersehen hat. Durch den Tod des Stammberechtigten erledigt sich nämlich die vermutete Verfolgungsgefahr für die Kernfamilie nicht in jedem Falle; nach dem Tod des Stammberechtigten ist es überdies schwierig, die verbleibende Gefahr für die Familie abzuklären. Selbst wenn keine Verfolgungsgefahr nach dem Tod des Stammberechtigten mehr besteht, kann es eine humanitäre Härte bedeuten, von der Witwe und den Waisen zu verlangen, nun allein ohne das Familienoberhaupt in den Heimatstaat zurück zu kehren. Die Situation solcher Familien ist noch prekärer als die Situation der Familien, die nach einem rechtskräftigen Widerruf des Asyls für den Stammberechtigten gemeinsam in das Heimatland zurückkehren müssen. Daher kann der Beklagten nicht beigepflichtet werden, wenn sie das fortbestehende Familienasyl in solchen Fällen als eine unsachgerechte Ungleichbehandlung ansieht.

Dementsprechend bietet § 73 Abs. 2 b AsylVfG keine Grundlage dafür, das Familienasyl anlässlich des Todes des Stammberechtigten zu widerrufen.

Der Widerruf des Familienasyls kann auch nicht auf § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG gestützt werden, denn die Regelung in § 73 Abs. 2 b AsylVfG ist eine speziellere, abschließende Regelung, liegen ihre Voraussetzungen nicht vor, kann nicht ein Rückgriff auf § 73 Abs. 1 AsylVfG erfolgen (so zutreffend VG Schleswig, Urteil vom 17.11.2006, 4 A 277/04; Marx, AsylVfG, § 73 RN 203 ff.).

§ 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG regelt ausschließlich den Widerruf originärer Anerkennungen wegen des Wegfalls der politischen Verfolgung. Dies ergibt sich daraus, dass in § 73 Abs. 1 S. 2 AsylVfG maßgeblich darauf abgestellt wird, ob sich der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Anerkennung als Asylberechtiger oder zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Der Widerruf der Asylanerkennung knüpft in diesen Fällen damit an das Prüfungsprogramm an, das auch der Anerkennung zugrunde gelegen hat. Bei der vom Stammberechtigten abgeleiteten Zuerkennung des Familienasyls wird eine eigene politische Verfolgung im Rahmen des Familienasyls dagegen grundsätzlich nicht geprüft. Anknüpfend an diesen Unterschied regelt das Gesetz im Rahmen von § 73 AsylVfG unterschiedliche Widerrufstatbestände. [...]

Ein anderer Standpunkt wird vom Verwaltungsgerichtshof Baden Württemberg in seinem Urteil vom 10.08.2000 (A 12 S 129/00) –allerdings zu einer früheren Gesetzesfassungvertreten. Der VGH Baden-Württemberg hat sich zu der seinerzeitigen Fassung Gesetzes für eine ergänzende Heranziehung von § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG für den Widerruf des Familienasyls ausgesprochen, und dies damit begründet, aus dem Begriff "… ferner …" im Rahmen der damaligen Fassung von § 73 Abs. 1 S. 2 AsylVfG a.F. lasse sich ersehen, dass der Widerruf des Familienasyls nur ein Anwendungsfall des § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG sei (so auch Renner, Ausländerecht, 7. Auflage, Rn 17 zu § 73 AsylVfG a.F.; im Ergebnis auch VG Karlsruhe, Urteil vom 21.09.2006, A 6 K 11328/04).

Nachdem die Vorschrift über den Widerruf des Familienasyls nicht mehr im Rahmen des § 73 Abs. 1 S. 2 AsylVfG geregelt ist, sondern Gegenstand eines neuen Absatzes 2 b geworden ist, kann dieses vom VGH Baden Württemberg hervorgehobene systematische Argument nicht mehr entscheidend sein. In 73 Abs. 2b Satz 1 AsylVfG findet sich keine Verknüpfung der unterschiedlichen Widerrufstatbestände durch das Wort "ferner".

Eine Verknüpfung durch das Wort "ferner" findet sich nun in § 73 Abs. 2 b Satz 2 AsylVfG, es ergänzt jedoch nicht mehr die Regelung über den Widerruf nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, sondern den in § 73 Abs. 2 b Satz 1 AsylVfG an erster Stelle genannten Grund für den Widerruf des Familienasyls (Widerruf des Familienasyls im Falle schwerer Straftaten). Ohnehin spricht in systematischer Hinsicht die Verlagerung der Vorschrift über den Widerruf des Familienasyls in einen eigenen Absatz mehr dafür, dass insoweit nun eine abschließende Regelung geschaffen werden sollte. Für eine solche Annahme spricht auch die einschlägige Begründung des Entwurfes eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 23.04.2007 (Drucksache 16/5065, S. 219):

"Abs. 2 b regelt den Widerruf des Familienasyls und des Familienflüchtlingsschutzes nach § 26, da die bisherige Regelung in Abs. 1 S. 2 nicht alle Fallgruppen abdeckt."

Nach dem Willen des Gesetzgebers soll die aktuelle Regelung über den Widerruf des Familienasyls somit „alle Fallgruppen“ abdecken, ein Anlass für einen Rückgriff auf § 73 Abs. 1 AsylVfG als eine Art Grundtatbestand entspricht daher nicht der gesetzgeberischen Konzeption.

2.) Die in Ziffer 3) des Bescheides vom 18.09.2008 getroffene Regelung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen, mag inhaltlich richtig sein, ist jedoch schon deshalb rechtswidrig, weil das Gesetz eine Entscheidung zur Frage der Flüchtlingseigenschaft angesichts des fortbestehenden Familienasyls grundsätzlich nicht vorsieht, und hier kein atypischer Fall etwas anderes erfordert. Im Zuge der Entscheidung über das Familienasyl zugunsten der Klägerin ist im Rahmen des Urteils vom 25.1.1994 keine Entscheidung über die Flüchtlingseigenschaft (damals nach § 51 AuslG) getroffen worden, weil § 31 Abs. 5 AsylVfG a.F. bereits damals vorsah, dass bei einer Zuerkennung von Familienasyl eine Feststellung zur Flüchtlingsanerkennung unterbleibt. Entsprechend ist die Rechtslage noch heute. § 31 Abs. 5 AsylVfG sieht vor, dass im Falle einer Asylanerkennung nach den Vorschriften des Familienasyls von den Feststellungen zu § 60 Abs. 2 - 5 und 7 AufenthG und der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abgesehen werden soll. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass es im Regelfall unvernünftig, insbesondere unökonomisch wäre, einerseits die Asylanerkennung unabhängig von eigenen Fluchtgründen auszusprechen, andererseits zur Frage der Flüchtlingseigenschaft eine u.U. aufwändige Vollprüfung – z.B. auch zur Frage der Sippenhaft- durchzuführen, die wegen des bereits zuerkannten Schutzes keinen Nutzen hat. Erforderlich ist eine Prüfung der Flüchtlingseigenschaft dann, wenn das Familienasyl tatsächlich zu widerrufen ist, denn in diesem Falle besteht Anlass, die bisher unterbliebene individuelle Prüfung einer zielstaatsbezogenen Gefahrenlage in vollem Umfang nachzuholen. Da es vorliegend - wie ausgeführt - bei der Asylberechtigung der Klägerin bleibt, besteht hier kein Grund, eine Feststellung zu der Frage zu treffen, ob die Klägerin zusätzlich die Flüchtlingseigenschaft genießt, oder nicht.

Da die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (und die Feststellung des Gegenteils) im Falle des Familienasyls unterbleiben „soll“, kommt eine abweichende Handhabung in atypischen Fällen in Betracht. Eine solche Ausnahmesituation wurde jedoch nicht vorgetragen und ist hier auch nicht ersichtlich. [...]