VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 16.07.2009 - 35 A 312.08 - asyl.net: M15958
https://www.asyl.net/rsdb/M15958
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Verlängerung, Verlängerungsantrag, Fortgeltungsfiktion, Aufenthaltszweck, Wechsel des Aufenthaltszwecks, außergewöhnliche Härte, Behinderung, Iran, Schutz von Ehe und Familie
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; AufenthG § 81 Abs. 4; AufenthG § 25 Abs. 4 S. 2; GG Art. 6
Auszüge:

[...]

Der Antrag, den Antragstellern einstweiligen Rechtsschutz gegen die Bescheide des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten - Ausländerbehörde - vom 1. Oktober 2008 und vom 28. Januar 2009 durch Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der dagegen eingereichten Klage zu gewähren, hat Erfolg, womit die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht entfällt (vgl. Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 81 Rdn. 62 m.w.N.).

Er ist als Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO zulässig. Denn der Antrag der Antragsteller auf Verlängerung ihrer Aufenthaltstitel wurde aufgrund einer Terminvergabe des Antragsgegners und damit faktisch noch während der Gültigkeitsdauer der zuletzt bis zum 9. September 2005 erteilten Aufenthaltserlaubnis am 12. September 2005 gestellt. Damit löste dieser Antrag die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 AufenthG aus, die den Antragstellern zuletzt bis zum 16. Dezember 2008 durch entsprechende Bescheinigungen bestätigt wurde. Insoweit ist ohne Belang, ob der Antrag auf eine Verlängerung des Aufenthaltstitels oder die Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels gerichtet ist (vgl. Renner, AuslR, § 81 AufenthG, Rdn. 14 f.; Funke-Kaiser, a.a.O. § 81 Rdn. 39). Da nach § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG die Klage keine aufschiebende Wirkung hat, ist vorläufiger Rechtsschutz wie geschehen nach § 80 Abs. 5 VwGO zu suchen.

Der Antrag ist auch begründet. [...]

Vielmehr spricht viel dafür, dass die Antragsteller über einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG verfügen. Nach dieser Vorschrift kann eine Aufenthaltserlaubnis bei Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte auch dann verlängert werden, wenn die ursprüngliche Aufenthaltserlaubnis im Sinne des § 8 Abs. 2 AufenthG nur für einen vorübergehenden Aufenthalt erteilt worden ist. Von einer außergewöhnlichen Härte spricht man, wenn der Ausländer sich in einer Sondersituation befindet, aufgrund derer ihm die Aufenthaltsbeendung deutlich und ungleich härter treffen würde als andere Ausländer (BayVGH, Beschluss vom 4. April 2007 - 19 CS 07.147, zitiert nach juris, Rdnr. 19). Nicht erforderlich ist, dass die Härtefallgründe in der Person des Ausländers selbst vorliegen. Vielmehr kann auch die Erkrankung und Betreuungsbedürftigkeit naher Angehöriger einen Härtefallgrund darstellen (vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 29. April 1999, InfAuslR 1999, 342 f. zur Vorläuferbestimmung des § 30 Abs. 2 AuslG). Dies gilt im Hinblick auf den von Art. 6 Abs. 1 GG verbürgten Schutz der Familie jedenfalls dann, wenn ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe des anderen Familienmitglieds angewiesen ist und diese Hilfe in zumutbarer Weise nur im Bundesgebiet erbracht werden kann. Unter diesen Voraussetzungen erfüllt die Familie im Kern die Funktion einer Beistandsgemeinschaft. Kann der Beistand nur im Bundesgebiet erbracht werden, weil einem beteiligten Familienmitglied das Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, in der Regel einwanderungspolitische Belange zurück (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 14. Dezember 1989, NJW 1990, 895, und vom 25. Oktober 1995, NVwZ 1996, 1099). In diesem Sinne kann der Antragsteller zu 1) eine Aufenthaltserlaubnis für sich selbst beanspruchen, weil für ihn das Verlassen des Bundesgebietes eine außergewöhnliche Härte bedeuten würde, und die Antragstellerin zu 2) zu dessen Betreuung. Der Antragsteller, der die letzten fünfzehn Jahre in Deutschland verbracht hat und die deutsche Sprache gut beherrscht, leidet u.a. unter einer kombinierten Entwicklungsstörung mit Lernbehinderung (Bericht der Charité vom 23.4.07, Bl. 43 ff. der Ausländerakte) sowie unter Depressionen und vielfältigen Ängsten mit Krankheitswert (psychologische Stellungnahme vom 8.7.08, Bl. 82 der Ausländerakte). Der im Jahr 2008 unternommene sechswöchige Versuch der Familie; den Antragsteller im Iran in einer behindertengerechten Einrichtung unterzubringen bzw. eine Ausbildungsmöglichkeit für ihn zu finden, ist nach den glaubhaften Bekundungen der Antragsteller daran gescheitert, dass im Iran die Behindertenförderung im Wesentlichen auf Kriegsversehrte zugeschnitten sei und Schulen nur bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres besucht werden könnten, und verschärfte noch zusätzlich die Depressionen des Antragstellers. In Berlin hat er demgegenüber die Möglichkeit, ab September 2009 an einer elfmonatigen Berufsvorbereitungsmaßnahme teilzunehmen. Im Hinblick darauf, dass er bereits einen dem Hauptschulabschluss vergleichbaren Abschluss an einer Sonderschule erzielt hat, besteht für ihn in Deutschland durch weitere berufsbildende Maßnahmen die Perspektive, ein eigenständiges Leben führen zu können. Die Familie ist nach den bisherigen Erkenntnissen in der Lage und auch bereit, die dadurch entstehenden Kosten in vollem Umfang zu tragen. Gründe, die einem Verbleib der Antragsteller in Deutschland entgegen stehen würden, sind demgegenüber weder vom Antragsgegner vorgetragen noch sonst ersichtlich. [...]