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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 [= ASYLMAGAZIN 7-8/2009, S. 28] - asyl.net: M15716
https://www.asyl.net/rsdb/M15716
Leitsatz:

Für die Feststellung einer Gruppenverfolgung ist es erforderlich, zumindest die Ungefähre Größenordnung der Verfolgungsschläge zu ermitteln und sie in Beziehung zur Gesamtgruppe der von Verfolgung Betroffenen zu setzen; dabei sind Verfolgungsschläge, die nicht an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfen, nicht zu berücksichtgen (hier: Verfolgung von Sunniten im Irak).

Schlagwörter: Irak, Sunniten, Gruppenverfolgung, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Verfolgungsdichte, Verfolgungsprogramm, Verfolgungshandlung, Verfolgungsgrund, religiös motivierte Verfolgung, Religion, interne Fluchtalternative, Sachaufklärungspflicht, Dunkelziffer
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10
Auszüge:

[...]

Die Revision der Beklagten ist begründet. Das Berufungsgericht hat einen Anspruch des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft mit einer Begründung bejaht, die mit Bundesrecht nicht vereinbar ist (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). [...]

2. Das Berufungsgericht hat einen Anspruch des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach den genannten Bestimmungen allein damit begründet, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak wegen seines sunnitischen Glaubens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure drohe, gegen die weder der irakische Staat noch sonstige nichtstaatliche Herrschaftsorganisationen Schutz gewähren könnten. Dabei ist das Berufungsgericht von den Maßstäben abgewichen, die das Bundesverwaltungsgericht für die Prüfung und Feststellung einer Gruppenverfolgung entwickelt hat. Außerdem ist seine Überzeugungsbildung sowie die Sachverhalts- und Beweiswürdigung nicht im vollen Umfang mit § 108 Abs. 1 VwGO vereinbar.

a) Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärt (vgl. Urteile vom 18. Juli 2006 - BVerwG 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243 249> Rn. 20 ff. und vom 1. Februar 2007 - BVerwG 1 C 24.06 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 30, jeweils m.w.N.). Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort. Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms (vgl. hierzu Urteil vom 5. Juli 1994 - BVerwG 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 204>) - ferner eine bestimmte "Verfolgungsdichte" voraus, welche die "Regelvermutung" eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. Urteil vom 18. Juli 2006 a.a.O. Rn. 20). Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin "wegen" eines der in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. Urteil vom 5. Juli 1994 a.a.O. 204 f.>). Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d.h. wenn auch keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss.

Diese ursprünglich für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Gruppenverfolgung entwickelten Grundsätze sind prinzipiell auch auf die private Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie nunmehr durch § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG (entsprechend Art. 6 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 - sog. Qualifikationsrichtlinie) ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist (vgl. Urteil vom 18. Juli 2006 a.a.O. Rn. 21 f.).

Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist von den Tatsachengerichten aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. a und b AufenthG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (vgl. Urteil vom 18. Juli 2006 a.a.O. Rn. 24).

An den für die Gruppenverfolgung entwickelten Maßstäben ist auch unter Geltung der Richtlinie 2004/83/EG festzuhalten. Das Konzept der Gruppenverfolgung stellt der Sache nach eine Beweiserleichterung für den Asylsuchenden dar und steht insoweit mit den Grundgedanken sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Qualifikationsrichtlinie in Einklang. Die relevanten Verfolgungshandlungen werden in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie und die asylerheblichen Merkmale als Verfolgungsgründe in Art. 10 der Richtlinie definiert. Auch dem - allerdings in anderem Zusammenhang ergangenen - Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 17. Februar 2009 (Rechtssache C 465/07 - Elgafaji - Rn. 37 ff., InfAuslR 2009, 138) dürften im Ansatz vergleichbare Erwägungen zugrunde liegen, wenn dort im Rahmen des subsidiären Schutzes nach Art. 15 Buchst. c der Richtlinie der Grad der Bedrohung für die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe eines Landes zur individuellen Bedrohung der einzelnen Person in Beziehung gesetzt wird.

b) Von diesen Maßstäben zur Feststellung einer Gruppenverfolgung weicht das angefochtene Urteil ab. Denn es nimmt eine Gruppenverfolgung für Iraker islamisch-sunnitischen Glaubens an, ohne die nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung gebotenen Feststellungen zur Verfolgungsdichte zu treffen.

Zwar greift der Verwaltungsgerichtshof in den Obersätzen seiner Entscheidung auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zurück und erwähnt insbesondere auch das Erfordernis der Verfolgungsdichte. Seiner Subsumtion legt er jedoch ersichtlich den Rechtssatz zugrunde, dass es bei der Gruppenverfolgung auf die Verfolgungsdichte, die aus der Relation der asylerheblichen Eingriffshandlungen zur Größe der betroffenen Bevölkerungsgruppe zu ermitteln ist, jedenfalls dann nicht ankomme, wenn sich genaue Zahlen nicht ermitteln ließen (UA Rn. 35). Die angefochtene Entscheidung lässt nämlich die Feststellung genügen, aus den vorhandenen Berichten über zahlreiche einzelne Vorfälle könne darauf geschlossen werden, dass Sunniten allein wegen ihres Glaubens "häufig" Ziel von Übergriffen und Anschlägen werden (UA Rn. 35). Diese Bewertung trifft das Berufungsgericht, ohne die Zahl der Verfolgungsschläge gegen Sunniten unter Anknüpfung an ihr religiöses Bekenntnis jedenfalls der Größenordnung nach festzustellen und diese in Beziehung zur Zahl der Angehörigen dieser Glaubensrichtung im Irak zu setzen. Der Verwaltungsgerichtshof führt insoweit nur die Angaben der Vereinten Nationen über die Gesamtzahl der im Jahr 2006 getöteten (34 452) und verletzten (36 685) Zivilpersonen im Irak an, stellt aber nicht fest, in welcher Größenordnung sich Sunniten unter den Opfern befanden. Dies ist mit Bundesrecht nicht vereinbar.

Dabei ist es nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht erforderlich, dass die Instanzgerichte die zahlenmäßigen Grundlagen der gebotenen Relationsbetrachtung zur Verfolgungsdichte mit quasi naturwissenschaftlicher Genauigkeit feststellen. Vielmehr reicht es aus, die ungefähre Größenordnung der Verfolgungsschläge zu ermitteln und sie in Beziehung zur Gesamtgruppe der von Verfolgung Betroffenen zu setzen (vgl. Urteil vom 30. April 1996 - BVerwG 9 C 170.95 - BVerwGE 101, 123 126>). Bei unübersichtlicher Tatsachenlage und nur bruchstückhaften Informationen aus einem Krisengebiet darf ein Tatsachengericht auch aus einer Vielzahl ihm vorliegender Einzelinformationen eine zusammenfassende Bewertung des ungefähren Umfangs der asylerheblichen Verfolgungsschläge und der Größe der verfolgten Gruppe vornehmen. Auch für die Annahme einer erheblichen Dunkelziffer nicht bekannter Übergriffe müssen die gerichtlichen Feststellungen zur Größenordnung der Gesamtheit der Anschläge aber in nachvollziehbarer und überprüfbarer Weise begründet werden (Urteil vom 5. Juli 1994 - BVerwG 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 213>). Das Bundesverwaltungsgericht hat die Tatsachengerichte auch dann nicht von der Anwendung der Maßstäbe zur Feststellung einer Gruppenverfolgung entbunden, wenn den Betroffenen schwere Gefahren, insbesondere Gefahren für Leib und Leben drohen. Das Ausmaß der drohenden Gefahr ist vielmehr in die Bewertung einzubeziehen, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet ist. Diese Bewertung setzt als Grundlage jedoch Feststellungen zu den Merkmalen der Gruppenverfolgung voraus, die alle Möglichkeiten der Tatsachenermittlung ausschöpfen.

Einen Verzicht auf eine weitere Quantifizierung der Verfolgungsschläge hat das Bundesverwaltungsgericht im Übrigen nur bei besonders kleinen Gruppen zugelassen, bei denen auch die Feststellung ausreichen kann, dass derartige Übergriffe "an der Tagesordnung" sind (etwa bei den syrisch-orthodoxen Christen im Tur Abdin, vgl. Beschluss vom 23. Dezember 2002 - BVerwG 1 B 42.02 - Buchholz 11 Art. 16a GG Nr. 49 m.w.N.). Hierbei handelt es sich indes nicht um einen anderen rechtlichen Maßstab für die erforderliche Verfolgungsdichte, sondern um eine erleichterte Tatsachenfeststellung im Einzelfall. Gerade bei großen Bevölkerungsgruppen - wie hier den Sunniten im Irak - besteht für eine derartige Erleichterung aber keine Grundlage, vielmehr ist eine Feststellung zur Verfolgungsdichte durch eine Relationsbetrachtung in quantitativer Hinsicht geboten.

c) Unabhängig davon hält auch die Überzeugungsbildung und die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Berufungsgerichts einer revisionsrechtlichen Überprüfung nach § 108 Abs. 1 VwGO nicht stand.

Das angefochtene Urteil enthält keine hinreichend nachvollziehbare Begründung für die Schlussfolgerung, dass sämtliche Übergriffe gegen Sunniten an deren Religionszugehörigkeit anknüpfen. Offensichtlich bezieht das Berufungsgericht alle sicherheitsrelevanten Vorfälle gegenüber Sunniten in seine Beurteilung ein, ohne zwischen rein kriminellen Verbrechen, ungezielten terroristischen Anschlägen, die allein die Destabilisierung der Lage im Irak bezwecken, und solchen Übergriffen zu unterscheiden, die an die Religionszugehörigkeit anknüpfen. Bei der erforderlichen wertenden Gesamtschau der Verfolgungssituation können aber nur asylrechtlich beachtliche, an die Merkmale in § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG anknüpfende Maßnahmen berücksichtigt werden (vgl. hierzu auch Urteil vom 5. Juli 1994 a.a.O. 208>).

Im Übrigen fehlt es auch an hinreichenden nachvollziehbaren Feststellungen dazu, in welchen Regionen des Irak nach Überzeugung des Verwaltungsgerichtshofs Sunniten einer Gruppenverfolgung wegen ihrer Religion ausgesetzt sein sollen und welche Gebiete im Einzelnen - insbesondere in Bezug auf den Zentralirak - als innerstaatliche Fluchtalternative in Betracht kommen.

3. Das Berufungsurteil muss hiernach aufgehoben werden. Die Sache muss an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen werden, da der Senat mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen im Berufungsurteil eine abschließende Entscheidung über die Flüchtlingsanerkennung des Klägers nicht treffen kann. [...]