VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 01.04.2009 - AN 14 K 08.30323 - asyl.net: M15590
https://www.asyl.net/rsdb/M15590
Leitsatz:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in Vietnam (hier: Asylanerkennung eines Bootsflüchtlings aus dem Jahr 1982); die Eheschließung vor der Auslandsvertretung des Verfolgungsstaat führt nicht zum Erlöschen der Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung.

Schlagwörter: Vietnam, Widerruf, Asylanerkennung, Flüchtlingsanerkennung, boat people, Oppositionelle, Menschenrechtslage, Regimegegner, illegale Ausreise, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Erlöschen, freiwillige Unterschutzstellung, Eheschließung, Auslandsvertretung
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 72 Abs. 1 Nr. 1
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist sachlich auch begründet. [...] Die gesetzlichen Voraussetzungen für den verfügten Widerruf der Asylanerkennung vom 28. Juli 1982 und für die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen, sind nicht gegeben. [...]

Denn die Entscheidung aus dem Jahr 1982 über die Anerkennung als Asylberechtigte beruhte entgegen der Auffassung des Bundesamtes in dem angefochtenen Bescheid gerade nicht auf der drohenden Bestrafung wegen illegaler Ausreise und Asylantragstellung, sondern darauf, dass der Klägerin eine Rückkehr nach Vietnam unter den damals herrschenden politischen Verhältnissen nicht zuzumuten war. Das Bundesamt gelangte in der Anerkennungsentscheidung zu der Auffassung, dass in einer Reihe von Staaten zur Durchsetzung und Sicherung politischer und gesellschaftlicher Umwälzungen die Staatsgewalt in einer Weise eingesetzt werde, die den Grundsätzen freiheitlicher Demokratie widerspricht. Das Grundrecht des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG sollte auch dieser Notlage Rechnung tragen. Dies gelte insbesondere für solche weltanschaulich totalitären Staaten, die ihren Fortbestand durch Zwangsmaßnahmen gegen die eigene Bevölkerung sichern und bei denen die politische Herrschaft alle Lebensbereiche durchdringt, so dass für einzelmenschliche Freiheiten kein Raum bleibt. Zu dieser Art von Staaten gehöre auch das Heimatland der Klägerin, Vietnam. Auch aus anderen die so genannten boat people betreffenden Fällen ist dem Gericht bekannt (vgl. z.B. VG Ansbach, Urteil vom 16.7.2008, Az.: AN 14 K 07.30775, Urteil vom 27.1.2009, Az.: AN 14 K 08.30234), dass in den Anerkennungsbescheiden auch ausgeführt wurde, dass sich nach Sachlage die betreffenden Ausländer aus Überzeugungsgründen den Willkürmaßnahmen, mit denen die jetzigen kommunistischen Machthaber in Vietnam das neue Gesellschaftssystem zu sichern suchen, entzogen haben. Das hohe persönliche Risiko, das die betreffenden Antragsteller jeweils auf sich genommen haben, sei für den damaligen Anerkennungsausschuss ein Indiz gewesen, dass sie in ihrer Situation keinen anderen Ausweg gesehen hätten, als ihr Heimatland zu verlassen.

An diesen Voraussetzungen hat sich seither nichts geändert. Wie das Gericht in den - rechtskräftigen - Urteilen vom 16. Juli 2008 und vom 27. Januar 2009 (a.a.O.) ausgeführt hat, ist nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 3. Mai 2007 Vietnam nach wie vor ein sozialistischer Staat, der auf wirtschaftlichem Gebiet einen Kurs marktwirtschaftlich orientierter Reformen eingeschlagen hat, politisch und gesellschaftlich jedoch dem unbedingten Führungsanspruch der kommunistischen Partei folgt. Öffentliche Kritik an Partei und Regierung wird nicht toleriert, regierungskritische Aktivitäten von Künstlern, Intellektuellen oder Angehörigen ethnischer Minderheiten oder nicht zugelassener religiöser Vereinigungen werden mit größter Aufmerksamkeit und ggf. polizeilich-justiziellen Maßnahmen verfolgt. Durchgreifende politische Reformen stehen nicht auf der Tagesordnung und der Rechtssektor ist unterentwickelt. Die Justiz ist faktisch Partei und Staat unterstellt, woran auch eine Strafprozessreform vom Juli 2004 nichts geändert hat. Die Gründung von Menschenrechtsorganisationen in Vietnam ist nicht erlaubt und oppositionelle Gruppierungen und Persönlichkeiten, die sich für westliche Demokratiemodelle oder umfassende Meinungsfreiheit einsetzen, werden weiterhin mit Zensur sowie polizeilichen und strafrechtlichen Sanktionen belegt. Erst im März 2007 verurteilte ein vietnamesisches Gericht fünf Regimekritiker zu unverhältnismäßig hohen Haftstrafen. Dabei war das Verfahren durch eine Missachtung grundlegender rechtsstaatlicher Standards gekennzeichnet. Staatlicherseits ergriffene Maßnahmen umfassen Verhaftungen, Verhängung von Hausarrest, willkürliche Hausdurchsuchungen, wiederholte, oft mehrere Tage dauernde Verhöre auf Polizeistationen, Telefon- und Mailüberwachung, Abschalten der Telefone, Mobiltelefon- und Internetverbindungen und Beschlagnahme von PCs. Auch über Einschüchterungsversuche durch körperliche Gewalt und inszenierte Unfälle, wurde berichtet. Nach verschiedenen Verhaftungsaktionen gegen Mitglieder der Demokratiebewegung im Februar und März 2007 erhärtet sich die Vermutung, dass die Behörden nunmehr gezielt gegen die Dissidenten der Szene vorgehen. Eine Vorschrift über die administrative Bewährung unterminiert die verfassungsmäßig verbrieften Grundrechte. Die Vorsitzenden der Volkskomitees auf Provinzebene haben die Befugnis, Personen für bis zu zwei Jahre in Verwahrung zu nehmen, so dass die Verordnung eine Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren ermöglicht. Von dieser grundsätzlichen Einschätzung der Lage geht auch die Fortschreibung des Lageberichts mit Stand Juli 2008 vom 14. Juli 2008 aus. Demnach steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass sich seit Erlass des Anerkennungsbescheides im Januar 1982 keine gravierenden Änderung der politischen Verhältnisse in Vietnam ergeben hat. Wenn die Beklagte bei ihrer Entscheidung davon ausgegangen ist, dass der Klägerin eine Rückkehr nach Vietnam unter den dortigen politischen Verhältnissen nicht zuzumuten war, muss damit gerechnet werden, dass sich die Verfolgungsgefahr auch bei einer Rückkehr heute noch verwirklichen würde. Die im Bescheid vom 28. Juli 1982 dargelegten Voraussetzungen für die Anerkennung als Asylberechtigte liegen nach wie vor vor, so dass ein Widerruf rechtswidrig ist. Wenn die Beklagte in ihrem Widerrufsbescheid ausführt, dass der Klägerin wegen der illegalen Ausreise aus Vietnam und der Asylantragstellung in Deutschland heute bei einer Rückkehr nach Vietnam nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgungsmaßnahmen drohten, dann verkennt sie, dass diese Verfolgungsgefahren nicht Grundlage der Asylanerkennung im Bescheid vom 28. Juli 1982 gewesen sind. Wer, wie die Klägerin, schon einmal politische Verfolgung erlitten hat, dem kann asylrechtlicher Schutz selbst bei zwischenzeitlicher Änderung der politischen Lage im Verfolgerstaat nur versagt werden, wenn eine Wiederholung der Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist, weil es dem humanitären Charakter des Asyls widerspräche, einem Asylsuchenden, der das Schicksal der Verfolgung bereits einmal erlitten hat, das Risiko einer Wiederholung aufzubürden. Deshalb sind die Anforderungen für Anerkennungen in solchen Fällen herabzustufen. Vorliegend hat die Klägerin nicht nur bereits Verfolgungsmaßnahmen erlitten, sondern sind auch zwischenzeitlich keine maßgeblichen Änderungen der politischen Situation eingetreten. [...]

Die Asylberechtigung der Klägerin ist auch nicht deshalb erloschen, weil sie am 31. Mai 2006 vor der Botschaft der SR Vietnam in Berlin die Ehe mit einem vietnamesischen Staatsangehörigen geschlossen hat. Gemäß § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG erlischt die Anerkennung als Asylberechtigter, wenn der Ausländer sich freiwillig durch die Annahme oder Erneuerung eines Nationalpasses oder durch sonstige Handlungen erneut dem Schutz des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, unterstellt. Voraussetzung für das Vorliegen der Erlöschenstatbestände ist die Annahme eines Vorteils durch den Heimatstaat, insbesondere in der Form der Passerlangung oder Verlängerung, die Freiwilligkeit dieser Annahme und darüber hinaus, dass die Vornahme der Handlung objektiv als eine solche Unterschutzstellung zu werten ist (BVerwG vom 2.12.1991, 9C 126/90, BVerwGE 89, 232). Lediglich die Eheschließung vor der vietnamesischen Botschaft in Berlin stellt noch kein Verhalten dar, durch das sich die Klägerin erneut dem Schutze ihres Heimatstaates unterstellt hätte. Selbst eine Reise in den Heimatstaat erfüllt nicht schon grundsätzlich der Erlöschensvoraussetzungen des § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG und hat auch die Ausstellung eines neuen Passes nur Indizwirkung (vgl. Hailbronner, AuslR, B2 Stand Juli 2000, § 72 RdNr. 8), entscheidend ist, dass aus den konkreten Umständen des Einzelfalles auf eine veränderte Einstellung zum Heimatstaat geschlossen werden kann (vgl. BVerwG vom 2.12.1991, a.a.O.). Dies kann aus der Eheschließung vor der vietnamesischen Botschaft nicht gefolgert werden. [...]