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OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 06.12.2001 - 1 L 2/01 - asyl.net: M1555
https://www.asyl.net/rsdb/M1555
Leitsatz:

Inländische Fluchtalternative im Nordirak.(Leitsatz der Redaktion)

 

Schlagwörter: Irak, Kurden, Kirkuk, Zentralirak, Baath, Gruppenverfolgung, Mitglieder, Befehlsverweigerung, Haft, Folter, Nachfluchtgründe, Antragstellung als Asylgrund, Interne Fluchtalternative, Nordirak, Existenzminimum, Hilfsorganisationen, UNHCR, Flüchtlingslager, World-Food-Programm, Gebietsgewalt, Reisewege
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 6 S. 1
Auszüge:

Der Kläger war weder im Zeitpunkt seiner Ausreise im März 2000 wegen seiner Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe einer (landesweiten) politischen Verfolgung ausgesetzt noch liegen derzeit Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger bei seiner Rückkehr in den Irak einer Gruppenverfolgung wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit ausgesetzt wäre.

Eine Auseinandersetzung mit dem von dem Kläger geltend gemachten Fluchtschicksal und der Frage der Bedeutung der Asylantragstellung ist entbehrlich, weil dem Kläger jedenfalls für den Fall, dass er bei einer Rückkehr in den Machtbereich des zentralirakischen Regimes asylerhebliche Nachteile befürchten muss, der Nordirak als inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht.

Der Kläger ist im Nordirak vor einer politischen Verfolgung durch den Zentralirak hinreichend sicher.

Im Nordirak besteht seit Herbst 1991 keine effektive und stabile Gebietsgewalt des irakischen Staates (Senatsurteil v. 11.12.1998 - A 1 S 398/98 -). Greifbare Anhaltspunkte dafür, dass der Irak derzeit oder in einem absehbaren Zeitraum dort die Gebietsgewalt wiedererlangen könnte, bestehen auch nach neuerer gutachterlicher Einschätzung nicht. Zwar sieht das Deutsche Orient-Institut in seiner Stellungnahme vom 30. März 1999 (an VG Oldenburg) eine institutionelle Wiederinbesitznahme des Nord-Irak durch die irakische Staatsmacht und als Folge davon eine blutige Rache an den Kurden als überwiegend wahrscheinlich an, enthält sich aber einer zeitlichen Prognose, weil "seriöse Voraussagen" dazu nicht gemacht werden können. Ebenso erfolgt aus der Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom 6. Dezember 1999 (an VG Trier), dass ein möglicher militärischer Zugriff der Iraker auf den Nordirak "schlecht zu prognostizieren" sei. Hinweise darauf, dass das zentralirakische Regime in absehbarer Zeit Zugriff auf den Nordirak nehmen wird, liegen nach den Erkenntnissen des UNHCR vom 3. April 2001 (an VG Ansbach) nicht vor. Das Auswärtige Amt (v. 5.9.2001, S. 9) hat derzeit ebenfalls keine Anhaltspunkte dafür, dass die Bagdader Zentralregierung versuchen könnte, ihre Gebietsgewalt auf die Kurdenprovinzen auszudehnen.

Der Kläger ist in den nordirakischen Kurdengebieten auch vor einem Anschlag zentralirakischer Geheimagenten hinreichend sicher.

Einem beachtlichen Gefährdungsrisiko durch im Nordirak operierende zentralirakische Geheimdienstagenten sind nur - soweit dem zentralirakischen Regime überhaupt bekannt -exponierte Oppositionelle sowie kurdische Mitarbeiter der westlichen Hilfsorganisationen oder der UNO ausgesetzt. Der Kläger muss auch wegen seiner Asylantragstellung und seines Auslandsaufenthaltes im Nordirak keine Verfolgung durch das zentralirakische Regime befürchten.

Im Nordirak ist für den Kläger auch das wirtschaftliche Existenzminimum gewährleistet.

Nach der bisherigen Rechtsprechung des Senats (grundlegend: Urteil vom 11.12.1998 - A 1 S 394/98 -) haben nicht aus den nordirakischen Kurdenprovinzen stammende Kurden im Nordirak eine Existenzmöglichkeit regelmäßig nur dann, wenn dort familiär-gesellschaftliche Bindungen bestehen; die Möglichkeit, Schutz, Nahrung und Unterkommen bei Einrichtungen der Vereinten Nationen zu erlangen, hatte der Senat auf der Grundlage der seinerseitigen Erkenntnislage verneint (UA S. 12 f.). An dieser Einschätzung hält der Senat nach Würdigung der im Rahmen des vorliegenden Streitverfahrens eingeholten Gutachten sowie der ergänzenden Ausführungen der Sachverständigen im Verhandlungstermin nicht mehr fest. Für den Kläger ist im Nordirak ein wirtschaftliches Existenzminimum jedenfalls durch Hilfsleistungen von Unterorganisationen der Vereinten Nationen gewährleistet. Nach dem Gutachten des UNHCR vom 23. November 2001 haben Unterorganisationen der Vereinten Nationen im Nordirak Flüchtlingslager eingerichtet, in denen nach den Ausführungen der Gutachterin Hogg im Verhandlungstermin nicht nur Binnenvertriebene, sondern auch in den Irak zurückkehrende kurdische Asylbewerber aufgenommen werden, soweit sie nicht anderweitig eine Unterkunft gefunden haben (vgl. Gutachten UNHCR S. 2).

Eine Verpflegung der Flüchtlinge erfolgt im Rahmen des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (World-Food-Programm - WFP -) durch Verteilung von sog. Lebensmittelpaketen. Diese werden den Flüchtlingen nach den Erläuterungen der Gutachter in der mündlichen Verhandlung unmittelbar durch Mitarbeiter der Vereinten Nationen ausgehändigt. Damit ist auch für zurückkehrende (ortsfremde) Asylbewerber eine Lebensmittelzuteilung gesichert, während bei der außerhalb der Lager erfolgenden Nahrungsmittelverteilung an die nordirakische Bevölkerung über "Läden", die jeweils für ein bestimmtes Gebiet zuständig sind, die persönliche Bekanntheit eine Rolle spielen kann und diese Art der Versorgung deshalb weniger verlässlich erscheint (Gutachten DOI S. 6, 12).

Die den Flüchtlingen zugeteilten Lebensmittel gewährleisten das zu einem menschenwürdigen Leben erforderliche wirtschaftliche Existenzminimum.

Der Senat verkennt in Übereinstimmung mit dem Vorbringen der Gutachterin Hogg nicht, dass die sonstigen Lebensbedingungen in den Flüchtlingslagern, beispielsweise die Wasser- und Elektrizitätsversorgung, schlecht sind. Trotz dieser Unzulänglichkeiten ermöglichen diese Einrichtungen jedoch jedenfalls einen das Existenzminimum nicht in Frage stellenden Aufenthalt. Insbesondere ist im Rahmen eines Existenzminimums keine Unterbringung gefordert, die sich an westeuropäischen Standards orientiert. In den Lagern ist nach den Ausführungen der Gutachterin Hogg im Übrigen auch eine medizinische Grundversorgung gewährleistet.