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VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 02.02.2009 - 10 CS 08.3358 - asyl.net: M15469
https://www.asyl.net/rsdb/M15469
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Niederlassungserkaubnis, Kindernachzug, eigenständiges Aufenthaltsrecht, Straftaten, Ermessen, Aufenthaltserlaubnis, Bewährung, Bewährungszeit, in Deutschland geborene Kinder, Integration, Privatleben, Verhältnismäßigkeit
Normen: AufenthG § 35 Abs. 1; AufenthG § 35 Abs. 3 S. 1 Nr. 2; AufenthG § 35 Abs. 3 S. 3; EMRK Art. 8; AufenthG § 95 Abs. 2 Nr. 2
Auszüge:

[...]

Bei der im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage gelangt das Beschwerdegericht zu dem Ergebnis, dass die Erfolgsaussichten der Antragstellerin in der Hauptsache zumindest offen sind und dass daher das Interesse der Antragstellerin an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage das öffentliche Interesse am sofortigen Vollzug des angefochtenen Bescheides überwiegt.

1. Die Antragsgegnerin hat allerdings zutreffend ausgeführt, dass die Antragstellerin keinen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis hat. Zwar ist die Antragstellerin bereits als Minderjährige gemeinsam mit ihrer Mutter in das Bundesgebiet eingereist, so dass sie nach § 35 Abs. 1 AufenthG im Hinblick auf die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis eine weitgehende Privilegierung genießt. Mit § 35 Abs. 1 AufenthG wollte der Gesetzgeber aus integrationspolitischen Gründen Personen, die in Deutschland einen großen Teil ihrer Jugend und Schulzeit verbracht haben, unter erleichterten Voraussetzungen eine Aufenthaltsverfestigung ermöglichen. Daher kann auch der inzwischen volljährig gewordene Ausländer unter den Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 AufenthG eine Niederlassungserlaubnis erhalten (vgl. BayVGH vom 17.12.2008 - 19 C 08.2657, RdNr. 20). Allerdings besteht nach § 35 Abs. 3 Nr. 2 AufenthG kein Rechtsanspruch auf die Niederlassungserlaubnis, wenn der Ausländer in den letzten drei Jahren zu einer Geldstrafe von mehr als 90 Tagessätzen oder zu einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten verurteilt worden ist. Die Antragstellerin ist aber in diesem Zeitraum sowohl zu einer Geldstrafe von 170 Tagessätzen als auch zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten auf Bewährung verurteilt worden, so dass ihr nach § 35 Abs. 3 Satz 2 AufenthG lediglich ein Rechtsanspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis zusteht. Soweit die Antragsgegnerin die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis abgelehnt hat, sind Ermessensfehler nicht ersichtlich. Da die Antragstellerin wiederholt straffällig geworden ist und nach der letzten Verurteilung in offener Bewährung falsche Angaben gegenüber der Ausländerbehörde gemacht hat, ist die Versagung der Niederlassungserlaubnis im Hinblick auf die entgegenstehenden öffentlichen Belange auch bei Berücksichtigung der integrationspolitischen Zielsetzung des § 35 AufenthG grundsätzlich möglich.

2. Soweit die Antragsgegnerin allerdings auch die Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis abgelehnt hat, sind die Erfolgsaussichten der Klage zumindest als offen anzusehen. Nach § 35 Abs. 3 Satz 3 AufenthG ist bei in Deutschland aufgewachsenen Ausländern, die zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt worden sind, in der Regel die Aufenthaltserlaubnis bis zum Ablauf der Bewährungszeit zu verlängern. Das Ermessen der Ausländerbehörde ist insofern durch eine Regelfallentscheidung des Gesetzgebers eingeschränkt. Danach sollen leichtere Straftaten, die lediglich mit Jugend- oder Bewährungsstrafen geahndet werden, in der Regel nicht zur Aufenthaltsbeendigung führen (vgl. BT-Drs. 10/420 S. 84). Etwas anderes kann nur in atypischen Ausnahmefällen gelten, wenn der zugrundeliegende Sachverhalt erheblich von der vom Gesetzgeber vorausgesetzten Normallage abweicht, so dass ungeachtet der Strafaussetzung zur Bewährung ein gewichtiges öffentliches Interesse an der Aufenthaltsbeendigung besteht (vgl. BayVGH vom 17.12.2008 19 CS 08.2655,RdNr. 26 m.w.N.). Da der Gesetzgeber mit § 35 Abs. 3 Satz 3 AufenthG der besonderen Schutzbedürftigkeit im Bundesgebiet geborener oder aufgewachsener Ausländer Rechnung tragen wollte und weil diese Gruppe der sog. Ausländer der zweiten Generation auch im Rahmen des Art. 8 EMRK einen besonderen Schutz genießt (vgl. EGMR vom 28.6.2007 InfAuslR 2007, 325), müssen die für eine Ausnahmesituation angeführten Gründe und das für eine Aufenthaltsbeendigung sprechende öffentliche Interesse ein besonders schweres Gewicht haben.

Ob bei der Antragstellerin ein solcher Ausnahmesachverhalt vorliegt, der das Gewicht der Regelfallvermutung entkräftet, erscheint jedoch zweifelhaft. Zwar trifft es zu, dass die Antragstellerin in den letzten drei Jahren zweimal und nicht nur einmal erheblich vorbestraft worden ist. Darin allein liegt jedoch kein Ausnahmefall, der die Regelvermutung des § 35 Abs. 3 Satz 3 AufenthG außer Kraft setzen könnte. Denn in den meisten Fällen, in denen eine Bewährungsstrafe ausgesprochen wird, ist der Täter kein Ersttäter, sondern bereits anderweitig vorbestraft. Wenn der Gesetzgeber gleichwohl in § 35 Abs. 3 Satz 3 AufenthG bei Bewährungsstrafen in der Regel eine Aufenthaltsverlängerung vorsieht, kann für den typischen Fall der Mehrfachdelinquenz keine Ausnahme gelten.

Es erscheint auch fraglich, ob ein Ausnahmesachverhalt damit begründet werden kann, dass die Antragstellerin in offener Bewährung durch falsche Angaben gegenüber der Ausländerbehörde erneut eine Straftat nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG begangen hat. Zwar kann eine in offener Bewährung begangene Straftat ohne Zweifel dann einen Ausnahmesachverhalt begründen, wenn aufgrund der Schwere der Straftat mit ausreichender Sicherheit ein Widerruf der Bewährung zu erwarten ist. Ist jedoch eine Bestrafung nicht mit ausreichender Sicherheit zu erwarten oder ist zweifelhaft, ob die Strafe zu einem Bewährungswiderruf führen wird, widerspricht eine Aufenthaltsbeendigung vor einer strafgerichtlichen Entscheidung dem mit § 35 Abs. 3 Satz 3 AufenthG verfolgten Ziel, dem Ausländer die Chance einer Bewährung in Deutschland einzuräumen.

Im vorliegenden Fall ist jedoch zweifelhaft, ob die von der Antragstellerin begangenen Taten im Falle einer Anzeige durch die Ausländerbehörde zu einem Bewährungswiderruf führen würden. Zum einen hat der Bevollmächtigte der Antragstellerin geltend gemacht, dass der subjektive Tatbestand des § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG nicht erfüllt sei. Die Antragstellerin habe die falschen Angaben nicht zur Täuschung der Ausländerbehörde gemacht, sondern um in den Augen ihres Begleiters nicht schlecht dazustehen. Auch wenn die Antragsgegnerin nachvollziehbare Vorbehalte gegen die Richtigkeit dieser Darstellung hat, ist nicht auszuschließen, dass wegen der Tat letztlich keine strafgerichtliche Verurteilung erfolgt. Zum anderen erscheint zweifelhaft, ob die Strafgerichte im Falle einer strafrechtlichen Ahndung der Taten den Vorgang zum Anlass nehmen, die der Antragstellerin gewährte Bewährung zu widerrufen. Da die falschen Angaben der Antragstellerin letztlich folgenlos geblieben sind, handelt es sich nicht um einen besonders schweren Fall der Aufenthaltserschleichung nach § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG. Des Weiteren handelt es sich auch nicht um ein erneutes Vermögensdelikt. Daher scheint es auch nicht ausgeschlossen, dass bei einer strafrechtlichen Überprüfung lediglich eine erneute Geldstrafe verhängt wird.

3. Es spricht daher vieles dafür, dass die Antragstellerin eine befristete Aufenthaltserlaubnis nach § 35 Abs. 3 Satz 3 AufenthG erlangen kann und dass die gegen die Ablehnung ihres Antrags eingereichte Anfechtungsklage Erfolg haben kann. Dabei kommt es nach den obigen Ausführungen auf die von der Beschwerdeschrift vorgetragenen besonders engen familiären Bindungen der Antragstellerin zu ihren Eltern voraussichtlich nicht entscheidend an. Die familiären und privaten Bindungen der Antragstellerin sind zwar wegen Art. 8 EMRK grundsätzlich bei der Ermessensentscheidung einzustellen. Im konkreten Fall ist aber festzustellen, dass es der Antragstellerin nicht gelungen ist, ein Zusammenleben mit dem Vater, dessen Pflegebedürftigkeit und die Erbringung von Pflegeleistungen im Eilverfahren glaubhaft zu machen. Angesichts der von der Antragsgegnerin durchgeführten Ermittlungen bestehen insoweit erhebliche Zweifel an der Richtigkeit dieser Darstellung. Dessen ungeachtet ist jedoch aufgrund der Regelfallvermutung des § 35 Abs. 3 Satz 3 AufenthG bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen Interessenabwägung nach § 80 Abs. 5 VwGO die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen. [...]