OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 31.03.2009 - 10 LA 411/08 - asyl.net: M15392
https://www.asyl.net/rsdb/M15392
Leitsatz:

Ein Ausnahmefall, der die Versagung einer Aufenthaltserlaubnis nach der Altfallregelung des § 104 a Abs. 1 S. 1 AufenthG rechtfertigt, kann angenommen werden, wenn mit hinreichender Sicherheit vorhergesagt werden kann, dass der Ausländer eine überwiegend eigene Sicherung seines Lebensunterhalts auf Dauer nicht erreichen wird und auch die Voraussetzungen eines Härtefalls gem. § 104 a Abs. 6 AufenthG nicht vorliegen werden.

 

Schlagwörter: D (A), Altfallregelung, Aufenthaltserlaubnis, Lebensunterhalt, atypischer Ausnahmefall, Härtefall, Ermessen, Analphabeten, Zukunftsprognose
Normen: VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1; AufenthG § 104a Abs. 1 S. 1; AufenthG § 104a Abs. 6
Auszüge:

Ein Ausnahmefall, der die Versagung einer Aufenthaltserlaubnis nach der Altfallregelung des § 104 a Abs. 1 S. 1 AufenthG rechtfertigt, kann angenommen werden, wenn mit hinreichender Sicherheit vorhergesagt werden kann, dass der Ausländer eine überwiegend eigene Sicherung seines Lebensunterhalts auf Dauer nicht erreichen wird und auch die Voraussetzungen eines Härtefalls gem. § 104 a Abs. 6 AufenthG nicht vorliegen werden.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Der Antrag der Klägerinnen auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg, weil der von ihnen sinngemäß geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) nicht vorliegt bzw. von den Klägerinnen nicht in einer den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO genügenden Weise dargelegt worden ist. [...]

Das Verwaltungsgericht ist im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass die Klägerinnen die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht beanspruchen können.

Dabei kann offen bleiben, ob die Klägerinnen die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG erfüllen, auch im Hinblick auf die Frage, ob aufgrund der vorsätzlichen Straftaten des Ehemanns bzw. des Vaters der Klägerinnen eine Aufenthaltserlaubnis nach dieser Bestimmung zu versagen wäre (§ 104a Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Bei Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 104a Abs. 1 AufenthG "soll" die Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Dies bedeutet, dass im Regelfall ein Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis besteht und eine Versagung nur in atypischen Ausnahmefällen in Betracht kommt. Ein Ausnahmefall, der die Versagung einer Aufenthaltserlaubnis nach dieser Vorschrift rechtfertigt, kann u.a. dann angenommen werden, wenn schon im Zeitpunkt der erstmaligen Erteilung mit hinreichender Sicherheit prognostiziert werden kann, dass der Ausländer eine überwiegend eigenständige Sicherung seines Lebensunterhalts auf Dauer nicht erreichen wird und im Verlängerungsfall auch die Voraussetzungen eines Härtefalls im Sinne des § 104a Abs. 6 AufenthG nicht vorliegen werden (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 16. April 2008 - 11 S 100/08 -, AuAs 2008, 255; Beschlüsse des Senats vom 4. Juni 2008 - 10 ME 215/08 - und vom 23. Juni 2008 - 10 LA 185/08 -, n.v.). Nach § 104a Abs. 5 Satz 2 AufenthG soll die Aufenthaltserlaubnis verlängert werden, wenn der Lebensunterhalt bis zum 31. Dezember 2009 überwiegend eigenständig durch Erwerbstätigkeit gesichert war oder wenn der Ausländer mindestens seit dem 1. April 2009 seinen Lebensunterhalt nicht nur vorübergehend eigenständig gesichert hat. Ferner müssten für die Zukunft Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Lebensunterhalt – mit Blick auf den Zeitraum der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis – überwiegend gesichert sein wird (§ 104a Abs. 5 Satz 3 AufenthG).

Entgegen dem Vorbringen der Klägerinnen ist mit hinreichender Sicherheit davon auszugehen, dass es der Klägerin zu 1. bis zum 31. Dezember 2009 nicht gelingen wird, ihren Lebensunterhalt einschließlich Krankenversicherungsschutz (§ 2 Abs. 3 AufenthG) vollständig oder überwiegend durch eigene Erwerbstätigkeit zu sichern; die Klägerinnen haben auch einen Härtefall im Sinne des § 104a Abs. 6 AufenthG nicht dargelegt.

Die Klägerin zu 1. ist 46 Jahre alt. Sie verfügt nur über sehr eingeschränkte Kenntnisse der deutschen Sprache. Nach der von ihr vorgelegten Bescheinigung der Volkshochschule E. vom 18. Dezember 2008 ist sie Analphabetin; lediglich mündlich gestellte, einfache Fragen hat sie erfolgreich beantworten können. Sie kann weder eine schulische noch eine berufliche Ausbildung vorweisen. Des Weiteren ist sie bisher keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen. Auch eine Erwerbstätigkeit als Teilzeitbeschäftigte hat sie bisher nicht aufgenommen. Ebenso lassen sich ernsthafte Bemühungen um einen Arbeitsplatz nicht feststellen. [...]

Die Klägerin zu 1. wird sich auch auf einen Härtefall nach § 104a Abs. 6 AufenthG nicht berufen können. Nach Satz 2 Nr. 4 dieser Bestimmung ist auch bei erwerbsunfähigen Personen erforderlich, dass der Lebensunterhalt einschließlich einer erforderlichen Betreuung und Pflege in sonstiger Weise ohne Leistungen der öffentlichen Hand dauerhaft gesichert ist, es sei denn, die Leistungen beruhen auf Beitragszahlungen. Dabei ist nicht von Belang, dass den Betroffenen ein Verschulden nicht trifft. Die Klägerinnen haben nicht dargelegt, dass zukünftig der Lebensunterhalt der Klägerin zu 1. ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel gesichert sein wird.

Da hiernach ein Ausnahmefall vorliegt, liegt es im Ermessen des Beklagten, eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. In diesen Fällen ist das behördliche Ermessen aber dahin intendiert, den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abzulehnen, so dass es im Regelfall keiner besonderen behördlichen Erwägungen bedarf. Ist eine Ermessensvorschrift dahin auszulegen, dass sie für den Regelfall von einer Ermessensausübung in einem bestimmten Sinne ausgeht, so müssen besondere Gründe vorliegen, um eine gegenteilige Entscheidung zu rechtfertigen. Liegt ein vom Regelfall abweichender Sachverhalt nicht vor, versteht sich das Ergebnis der Abwägung von selbst; in diesem Fall bedarf es auch keiner das Selbstverständliche darstellenden Begründung (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Juni 1997 - BVerwG 3 C 22.96 -, BVerwGE 105, 55 [57] m.w.N.; Nds. OVG, Beschluss vom 4. Mai 2004 - 7 LA 110/04 - und Beschluss vom 25. Januar 2006 - 8 LA 85/05 -, DWW 2006, 210). Das ist hier zu bejahen.

Nach der Zielsetzung der Altfallregelung soll eine dauerhafte Zuwanderung in die Sozialsysteme vermieden werden. Deshalb kommt bei Ausländern, bei denen bereits zum Zeitpunkt der ersten Antragstellung auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dieser Bestimmung die Sicherung des Lebensunterhalts ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel nicht gewährleistet ist, der das Ermessen bindenden Formulierung "soll erteilt werden" eine besondere Bedeutung zu. Ist bereits zu diesem Zeitpunkt der Lebensunterhalt nicht ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel gesichert und liegen keine begründeten Anhaltspunkte dafür vor, dass zukünftig die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel entfällt, ist damit ein hinreichender Grund gegeben, von dem beschriebenen Regelfall abzuweichen. Denn es ist mit den Zielen der Altfallregelung nicht vereinbar, Ausländern eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn bereits bei der Erteilung feststeht, dass eine Verlängerung nicht erfolgen kann (vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 203). Die Klägerinnen haben keine Gesichtspunkte dargelegt, die eine abweichende Entscheidung rechtfertigen könnten. Wie bereits aufgezeigt, ist angesichts der gesetzgeberischen Zielsetzung der Altfallregelung auch ein fehlendes Verschulden der Betroffenen nicht zu berücksichtigen. [...]