VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 11.03.2009 - 6 K 528/08 - asyl.net: M15346
https://www.asyl.net/rsdb/M15346
Leitsatz:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei wegen Unterstützung der PKK.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Kurden, PKK, Unterstützung, Verdacht der Unterstützung, Folter, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Reformen, Strafverfahren, exilpolitische Betätigung, Vorstandsmitglieder, Islamischer Bund Kurdistan e.V., Überwachung im Aufnahmeland
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4
Auszüge:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei wegen Unterstützung der PKK.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der Widerrufsbescheid der Beklagten vom 28.05.2008 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). [...]

Hinsichtlich der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention ist zudem Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29.04.2004 zu beachten. Nach dieser Vorschrift stellt die Tatsache, dass ein Asylsuchender bereits verfolgt wurde, einen ernsthaften Hinweis darauf dar, dass die Furcht vor (erneuter) Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Asylsuchende erneut von solcher Verfolgung bedroht wird.

Danach kann dem Kläger eine Rückkehr in die Türkei nicht zugemutet werden. Ihm steht weiterhin der Status eines politischen Flüchtlings im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, wie er heute in § 60 Abs. 1 AufenthG geregelt ist, zu.

Von maßgeblicher Bedeutung ist, dass zu Gunsten des Klägers der erwähnte herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab zur Anwendung gelangt, da er vorverfolgt ausgereist ist. Ausgehend von diesem Maßstab ist eine hinreichende Sicherheit des Klägers vor erneuter politischer Verfolgung nicht feststellbar.

Dass der Kläger vorverfolgt ausgereist ist, ergibt sich aus den Ausführungen des Verwaltungsgerichts des Saarlandes in seinem Urteil vom 22.06.1998 - 4 K 140/98.A -. [...]

Es ist nicht hinreichend sicher auszuschließen, dass der Kläger im Zuge der Rückkehrerüberprüfung auffallen wird und sich hieran auch polizeiliche Vorermittlungen anschließen werden. Der bloße Umstand, dass die fluchtbegründenden Ereignisse inzwischen schon viele Jahre her sind, stellt für sich genommen keinen Grund dar, der stichhaltig im Sinne des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 20054/83/EG gegen eine erneute Verfolgung sprechen würde.

Auch die etwaige Unwahrscheinlichkeit einer strafgerichtlichen Verurteilung mit Blick auf die Reformen des Strafrechts (vgl. dazu das Gutachten von Dr. Silvia Tellenbach an das VG Osnabrück vom 26.11.2006) lässt nicht ohne weiteres den Schluss auf den Grad der Wahrscheinlichkeit zu, in ein Vorermittlungsverfahren zu geraten. Angesichts dessen, dass der Kläger schon vor seiner Ausreise wegen der vermuteten Unterstützung der PKK auffällig geworden und in das Blickfeld der türkischen Sicherheitskräfte geraten war, kann eine erneute Befassung mit seiner Person anlässlich bzw. im Anschluss an die Einreisekontrolle jedenfalls nicht mit der notwendigen hinreichenden Sicherheit ausgeschlossen werden.

Als ein die Gefahr von Drangsalierungen zusätzlich erhöhender Umstand kommt im Falle des Klägers hinzu, dass er sich in der Bundesrepublik Deutschland in nicht unbeträchtlichem Umfang exilpolitisch betätigt hat. Ausweislich der vorgelegten Unterlagen wurde er 1996 als erster Beisitzer und Kassenwart in den Vorstand des Vereins "Islamischer Bund Kurdistan e.V." in Völklingen gewählt. Bei dieser Organisation handelt es sich nach den vorliegenden Erkenntnissen um eine der PKK nahestehende Organisation für gläubige Muslime (vgl. hierzu das Gutachten der Polizei von Nordrhein-Westfalen vom 02.02.2001 an das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge). Auch unter diesem Gesichtspunkt kann nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass dem Kläger bei einer Rückkehr politische Verfolgung droht. Vielmehr steht zu erwarten, dass die türkischen Sicherheitskräfte Kenntnis von seiner früheren, durchaus hervorgehobenen exilpolitischen Betätigung erlangt haben, dass sein Namen registriert ist und er deshalb im Zuge der Rückkehrerüberprüfung auffällt mit der Folge sich hieran anschließender polizeilicher Vorermittlungen.

Die Kammer nimmt in ständiger Rechtsprechung an, dass der türkische Geheimdienst MIT auch in Deutschland oppositionelle Gruppierungen beobachtet. Neben der Auswertung von oppositionellen Zeitungen wird offenbar versucht, mit nachrichtendienstlichen Mitteln weitere Erkenntnisse zu einschlägigen Veranstaltungen zu erlangen. Dabei steht eine Identifizierung von exponierten Personen wie Organisatoren, Rednern und Veranstaltungsleitern im Vordergrund (vgl. OVG des Saarlandes, Urteil vom 03.04.08 - 2 A 312/07). Bei der erwähnten Vorstandstätigkeit handelt es sich um eine exilpolitische Betätigung, die den Kläger aus der Masse der kurdischen Asylbewerber hervorhebt.

Personen, die den türkischen Behörden als Sympathisanten bzw. Unterstützer linksorientierter oder separatistischer Organisationen bekannt geworden bzw. in einen entsprechenden ernsthaften Verdacht geraten sind, müssen im Rahmen von polizeilichen Ermittlungen in der Türkei mit der Anwendung von Folterpraktiken rechnen, die darauf abzielen, sie wegen ihrer politischen Überzeugung zu treffen und die dem türkischen Staat auch zurechenbar sind. Solche Maßnahmen drohen ungeachtet dessen, ob dem Rückkehrer tatsächlich eine strafrechtliche Verfolgung droht. Die Gefahr von Folter besteht jedenfalls im Rahmen von Vorermittlungsmaßnahmen in Polizeihaft (vgl. die Urteile vom 16.11.2006 - 6 K 73/05.A - und vom 17.07.2007 - 6 K 86/06.A -, jeweils m.w.N.; siehe auch OVG des Saarlandes, Urteile vom 28.09.2005 - 2 R 2/05 -, vom 16.12.2004 - 2 R 1/04 - und vom 03.04.2008 - 2 A 312/07 - ; sowie dessen Beschlüsse vom 29.04.2003 - 2 Q 116/03 - und vom 10.04.2003 - 2 Q 110/03 -). Hieran ist, wie das Oberverwaltungsgericht des Saarlandes in dem erwähnten Urteil vom 3. April 2008 - 2 A 312/07 - im Einzelnen ausgeführt hat, trotz der neueren politischen Entwicklung in der Türkei festzuhalten. [...]