VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 16.12.2008 - A 11 K 1340/08 - asyl.net: M15272
https://www.asyl.net/rsdb/M15272
Leitsatz:

Verfolgungsgefahr wegen illegaler Ausreise aus Myanmar sowie Asylantragstellung im Ausland; Personen, die an den Demonstrationen im September 2007 teilgenommen haben oder in Verdacht geraten sind, daran teilnehmen zu wollen, befanden sich in einer latenten Gefährdungslage.

Schlagwörter: Myanmar, Drittstaatenregelung, Luftweg, Einreise, Glaubwürdigkeit, Inhaftierung, Demonstrationen, Regimegegner, Menschenrechtslage, Folter, anderweitige Sicherheit, Thailand, Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe, illegale Ausreise, Antragstellung als Asylgrund, Situation bei Rückkehr, latente Gefährdungslage, Unterstützung, Mönche
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AsylVfG § 26a; GG Art. 16a Abs. 2; AsylVfG § 28 Abs. 1
Auszüge:

Verfolgungsgefahr wegen illegaler Ausreise aus Myanmar sowie Asylantragstellung im Ausland; Personen, die an den Demonstrationen im September 2007 teilgenommen haben oder in Verdacht geraten sind, daran teilnehmen zu wollen, befanden sich in einer latenten Gefährdungslage.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Klage ist zulässig und begründet. Ziff. 1 des Bescheids des Bundesamtes vom 11.04.2008 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in eigenen Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch darauf, als Asylberechtigte anerkannt zu werden (Art. 16 a Abs. 1 GG, § 2 Abs. 1 AsylVfG, § 113 Abs. 4 Satz 1 VwGO).

Der Klägerin stehen Vorfluchtgründe zu (1.). Darüber hinaus ist sie aufgrund beachtlicher subjektiver Nachfluchtgründe (§ 28 Abs. 1 AsylVfG), ihrer illegalen Ausreise und Asylantragstellung, als Asylberechtigte anzuerkennen (2.).

1. Ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte scheitert nicht an § 26 a AsylVfG, Art. 16 a Abs. 2 GG. Denn die Klägerin ist auf dem Luftweg in Frankfurt/Main eingereist. Ihre Angaben zur Einreise vor der Bundespolizeidirektion Flughafen Frankfurt/Main vom 28.03.2008, vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung belegen, dass sie von Kairo kommend auf dem Luftweg gereist und in Frankfurt/Main gelandet ist. [...]

Das Gericht glaubt der Klägerin, dass sie, wie sie im einzelnen berichtete, an einer friedlichen Gebetsdemonstration am 16.05.2007 teilgenommen hatte und deswegen zusammen mit ihrer Cousine fünf Tage inhaftiert worden war. Des Weiteren folgt das Gericht der Klägerin darin, dass sie in der Zeit vom 17. bis 27.09.2007 an verschiedenen Demonstrationen in Yangon teilnahm und deswegen von den Behörden Myanmars verfolgt wurde. Diese Überzeugung beruht auf den weitgehend nachvollziehbaren und lebensnahen Schilderungen der Klägerin. [...]

Aufgrund der heutigen politischen Situation in Myanmar droht der Klägerin auch derzeit noch politische Verfolgung. Denn Myanmar zählt nach Ansicht aller neutraler Beobachter zu den repressivsten Staaten weltweit, die Menschenrechtslage ist seit Jahren unverändert prekär. Massive Restriktionen, Drangsalierungen und Einschüchterungen oppositioneller Kräfte stehen an der Tagesordnung. "Regierungsfeindliche" Aktivitäten, auch friedliche Proteste, werden, wie die blutige Niederschlagung der Proteste im Herbst 2007 erneut gezeigt hat, systematisch verfolgt und bestraft. Auf den Bericht von Human Rights Watch: Crackdown - Repression of the 2007 Popular Protests in Burma vom Dezember 2007 (im Folgenden mit Seitenzahlen der Übersetzung zitiert) wird verwiesen. Daraus geht hervor, dass die Militärregierung gegen die wegen der Lebensmittelpreise protestierende Bevölkerung mit massiver Gewalt, Inhaftierungen, Folterungen und Misshandlungen, Verhören und Meldeauflagen vorgegangen ist. Friedliche Demonstrationen, in die betende Mönche eingebunden waren oder durch ihre Präsenz veranlasst wurden, haben die Militärs durch nicht oder kurzfristig angekündigte Schießereien auf die Teilnehmer beendet (Übersetzung S. 21 ff., 34 ff.). Sowohl Demonstrationsteilnehmer als auch daran unbeteiligte Menschen kamen durch Schüsse zu Tode (s. Übersetzung S. 37 f). Andere wurden geschlagen, verhaftet und mehrere Tage festgehalten (Übersetzung S. 54). Darüber hinaus haben die Militärs Mönche beim Gebet körperlich angegriffen, teilweise verhaftet und sogar Klöster gewaltsam aufgelöst (Übersetzung S. 55 ff.). Die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi, die Symbolfigur der Opposition, steht seit mehr als einem Jahrzehnt trotz intensiver Proteste der Weltöffentlichkeit unter Hausarrest. Grundlegende Bürgerrechte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie

das Recht auf ein faires Verfahren werden versagt, zahlreiche schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen sind dokumentiert und belegt. Myanmar stellt sich angesichts der seit Jahrzehnten anhaltenden Diktatur der Militärjunta demnach als Unrechtsstaat dar, in dem oppositionspolitisch auffällig gewordene Menschen landesweit von Verfolgung bedroht sind (vgl. u.a. amnesty international, Auskunft v. 02.09.2005 an VG Wiesbaden; s. VG Aachen, Urt. v. 30.05.2008 - 5 K 435/06.A m.w.N. [juris]; VG Karlsruhe, Urt. v. 14.08.2007 - A 11 K 586/07 m.w. N.).

Auf einen anderweitigen Schutz in Thailand oder andere Nachbarstaaten kann die Klägerin nicht verwiesen werden, weil kein Nachbarland bereit ist, myanmarischen Flüchtlingen durch Asylverfahren oder Aufnahmeprogramme Schutz zu gewähren (Auswärtiges Amt (im Folgenden: AA), Auskunft vom 12.11.2007 an das Bundesamt zu Frage 3).

2. Abgesehen davon steht der Klägerin das Asylrecht im Sinne des Art. 16 a GG auch deshalb zu, weil sie bei ihrer Rückkehr in ihr Heimatland zum jetzigen Zeitpunkt und auf absehbare Zeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit – aufgrund subjektiver Nachfluchtgründe (§ 28 Abs. 1 AsylVfG) – der Gefahr politischer Verfolgung ausgesetzt wäre. Denn nach der Erkenntnislage ist – und davon ist wohl auch das Bundesamt bei seiner Entscheidung zu § 60 Abs. 1 AufenthG ausgegangen (vgl. den Vermerk vom 09.04.2008, Bl. 67) – damit zu rechnen, dass die Klägerin aufgrund ihrer illegalen Ausreise, von der das Gericht aufgrund ihrer Angaben überzeugt ist, und Asylantragstellung bei einer Rückkehr in ihr Heimatland mit erheblichen staatlichen Repressionen zu rechnen hätte. In Myanmar werden Personen, die – wie die Klägerin – das Land mit illegal erworbenen, vermutlich gefälschten und damit ohne gültige Reisepapiere verlassen haben, wegen Gefährdung der Sicherheit und des Friedens des Landes nach dem "Immigration Act" von 1947 bzw. dem 1950 erlassenen Notstandsgesetz ("Emergency Provisions Act") bestraft. Rückkehrer werden in der Regel direkt am Flughafen von myanmarischen Sicherheitskräften empfangen und verhört. Es besteht dabei die akute Gefahr von Folter, Verurteilung in einem nicht rechtsstaatlichen Verfahren und anschließender langjähriger Inhaftierung (s. VG Aachen, Urt. v. 30.05.2008 - 5 K 435/06.A m.w.N.; vgl. AA, Auskunft vom 25.09.2002 an VG Kassel; amnesty international, Auskunft vom 02.09.2005 an VG Wiesbaden; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Gutachten vom 02.02. 2006; Burma Büro e.V., Auskunft vom 25. Mai 2004 an VG Wiesbaden; Asienstiftung, Auskünfte vom 12.11.2007 an VG Karlsruhe und vom 14.10.2004 an VG Wiesbaden; UNHCR, Auskünfte vom 02.11.2007 an VG Karlsruhe und vom 12.10.2007 an Bundesamt).

Das Stellen eines Asylantrages im Ausland wird, wenn es den myanmarischen Behörden, die in Deutschland vermutlich über ein Spitzelsystem verfügen, bekannt wird, als regierungsfeindliche Aktivität betrachtet und entsprechend geahndet. Die hierüber Auskunft gebenden Stellen berufen sich bei ihrer Einschätzung der Gefährdungssituation auf den Fall des aus der Schweiz abgeschobenen Asylsuchenden Stanley Van Tha, der bei seiner Rückkehr nach Myanmar verhaftet und dort zu 19 Jahren Gefängnis verurteilt worden ist (vgl. AA, Auskunft vom 27.04.2005 an VG Gießen; amnesty international, Gutachten vom 02.09.2005 an VG Wiesbaden). Diesem Einzelfall kommt ein erhebliches Gewicht im Hinblick auf die allgemeine Situation von nach Myanmar zurückkehrenden bzw. dorthin abgeschobenen Asylsuchenden zu. Angesichts der durch ein systematisches brutales Vorgehen auch gegen vermeintlich Oppositionelle gekennzeichneten Situation in Myanmar ist davon auszugehen, dass der Fall Stanley Van Tha keinen Einzelfall darstellt, sondern als erster bekannt gewordener Fall die generelle Praxis des Militärregimes Myanmars im Umgang mit zurückkehrenden Asylsuchenden widerspiegelt (VG Aachen, Urt. v. 30.05.2008 - 5 K 435/06.A m.w. N. [juris]). Daher ist auch im Falle der Klägerin, damit zu rechnen, dass ihr bei einer Rückkehr nach Myanmar mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht.

Allerdings gehören die eine politische Verfolgung nach sich ziehende Beantragung von Asyl und eine die Gefahr einer politisch motivierten Bestrafung auslösende Republikflucht nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu den sogenannten subjektiven Nachfluchtgründen im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. Danach wird ein Ausländer in der Regel nicht als Asylberechtigter anerkannt, wenn die Gefahr politischer Verfolgung auf Umständen beruht, die er nach Verlassen seines Herkunftslandes aus eigenem Entschluss geschaffen hat, es sei denn, dieser Entschluss entspricht einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung. Satz 1 findet insbesondere keine Anwendung, wenn der Ausländer sich auf Grund seines Alters und Entwicklungsstandes im Herkunftsland noch keine feste Überzeugung bilden konnte (Satz 2) (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.08.1988 - 9 C 80.87 -,

BVerwGE 80, 131 und Urt. v. 06.12.1988 - 9 C 22.88 -, BVerwGE 81, 41 m.w.N.). Der Gesetzgeber hat in § 28 Abs. 1 S. 1 AsylVfG die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zur Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe übernommen und deutlich gemacht, dass der kausale Zusammenhang zwischen (drohender) Verfolgung und Flucht das maßgebliche Entscheidungskriterium ist für die Frage der Erheblichkeit eines subjektiven Nachfluchtgrundes (vgl. Marx, Kommentar zum Asylverfahrensgesetz, 7. Aufl., § 28 AsylVfG Rdz. 26 m.w.N.; vgl. auch Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, § 28 AsylVfG Rdz. 11, 20). Die Formulierung in Satz 2 dieser Vorschrift "in der Regel" ist wie in anderen gleichlautenden gesetzlichen Regelungen ein vom Gericht voll überprüfbarer unbestimmter Rechtsbegriff. In der Regel bedeutet, dass es Ausnahmen gibt. Satz 2 dieser Vorschrift verdeutlicht dies durch die Wortwahl "insbesondere", womit zugleich klargestellt wird, dass die Aufzählung der Beispiele nicht abschließend ist. Für die Bildung weiterer Ausnahmefälle ist auf die bisherige höchstrichterliche Rechtsprechung zur Beachtlichkeit subjektiver Nachfluchtgründe zurückzugreifen.

Der Verfolgungsgrund des illegalen Grenzübertritts, der zeitgleich mit der Ausreise aus dem Heimatstaat hervorgerufen wird und damit zwischen den vor dem Verlassen des Heimatstaates entstandenen und den danach entstehenden Verfolgungsgründen liegt, wird bei der gebotenen wertenden Betrachtungsweise vom Tatbestand des Art. 16 a Abs. 1 GG (ehemals Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG) nur dann erfasst, wenn sich der Asylsuchende vor seiner illegalen Ausreise aus politischen Gründen in einer Gefährdungslage befunden hat, die zumindest latent im Sinne einer zwar noch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden, nach den gesamten Umständen jedoch auf absehbare Zeit auch nicht auszuschließenden politischen Verfolgung bestanden haben muss, etwa weil der Ausländer in seinem Heimatstaat durch regimekritische Äußerungen oder sein sonstiges Verhalten, zum Beispiel der Weigerung, der herrschenden Partei beizutreten, das Misstrauen staatlicher Stellen hervorgerufen hat. Wer angesichts einer solchen unsicheren Situation seinem Heimatstaat den Rücken kehrt, erbringt – in ähnlicher Weise wie durch Fortführung einer politischen Betätigung im Zufluchtsland – aus der Sicht des Verfolgerstaats sozusagen den endgültigen Beweis für eine bereits aufgrund seines bisherigen Verhaltens vermutete, auf abweichender politischer Gesinnung beruhende politische Gegnerschaft (BVerwG, Urt. v. 06.12.1988, a.a.O., m.w.N.).

Eine solche latente Gefährdungslage ist im Falle der Klägerin zu bejahen und zwar ungeachtet der Einschätzung ihrer Vorfluchtgründe. Die Klägerin war bei einer Demonstration im September 2007 in Yangon dabei und unterstützte betende Mönche, die sich gegen die Militärregierung richteten. Allein die Teilnahme an einer Demonstration oder einer ähnlich zu qualifizierenden Menschenansammlung im Herbst 2007 war ausreichend, um in den Verdacht zu geraten, eine von der herrschenden Staatsdoktrin der Militärregierung Myanmars abweichende Überzeugung zu besitzen. Das funktionierende Spitzelsystem in Myanmar und die systematische Bewachung friedlicher Demonstrationen im Herbst 2007 seitens der Behörden Myanmars ermöglichten, dass den Behörden die Teilnahme der Klägerin an Demonstrationen im Herbst 2007 bekannt sein konnte. Ob die Klägerin bereits in den Fokus der Militärbehörden geraten ist, ist für die Annahme einer latenten Gefahr nicht erforderlich. Entscheidend ist, dass aufgrund der aufgezeigten Umstände in ihrem Fall eine Situation bestand, die vor dem Hintergrund der besonderen politischen Situation Ende September 2007 in Myanmar mit Leichtigkeit bereits im Heimatland vor ihrer endgültigen Ausreise in eine Verfolgung hätte umschlagen können (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.01.1989 - 9 C 56/88 -, a.a.O.). In dieser Annahme sieht sich das Gericht aufgrund der im Bericht von Human Watch Rights vom Dezember 2007 enthaltenen Beschreibung der Situation in Myanmar am 29.09.2007 bestätigt. Nachdem die in den Tagen zuvor abgehaltenen Demonstrationen gewaltsam niedergeschlagen und aufgelöst sowie Klöster gestürmt und Mönche inhaftiert worden sind, reichte im Herbst 2007 schon der Umstand, dass drei Personen auf der Straße zusammen auftraten aus, um den verdächtigt zu werden, Regimegegner zu sein. [...]