VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 17.02.2009 - 19 CS 09.95 - asyl.net: M15236
https://www.asyl.net/rsdb/M15236
Leitsatz:

Sieht die Ausländerbehörde gem. § 5 Abs. 2 S. 2 AufenthG vom Erfordernis der Einreise mit dem erforderlichen Visum ab, tritt die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 AufenthG mit Beantragung der Aufenthaltserlaubnis ein; die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 AufenthG wird auch durch einen formlosen Antrag eines Verfahrensbevollmächtigten ausgelöst; die Zwei-Jahres-Frist des § 31 Abs. 1 AufenthG beginnt am Anfang des Tages, an dem die Aufenthaltserlaubnis erteilt wird bzw. die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 AufenthG eintritt; eine besondere Härte gem. § 31 Abs. 2 AufenthG kann sich auch aus der Integration eines Kindes in die deutsche Gesellschaft ergeben.

 

Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Ehegattennachzug, Familienzusammenführung, eigenständiges Aufenthaltsrecht, Verlängerungsantrag, Aufenthaltserlaubnis, Ehebestandszeit, Aufenthaltsdauer, Fiktionswirkung, Erlaubnisfiktion, Antragstellung, unerlaubte Einreise, Visumsverstoß, Formulare, Prozessbevollmächtigte, Fristen, Fristbeginn, Zwei-Jahres-Frist, Antragstellung, besondere Härte, Kindeswohl, Integration, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: AufenthG § 31 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; AufenthG § 81 Abs. 3; AufenthG § 5 Abs. 2 S. 2; VwVfG § 31 Abs. 1; BGB § 187 Abs. 2; BGB § 188 Abs. 2; AufenthG § 31 Abs. 2
Auszüge:

Sieht die Ausländerbehörde gem. § 5 Abs. 2 S. 2 AufenthG vom Erfordernis der Einreise mit dem erforderlichen Visum ab, tritt die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 AufenthG mit Beantragung der Aufenthaltserlaubnis ein; die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 AufenthG wird auch durch einen formlosen Antrag eines Verfahrensbevollmächtigten ausgelöst; die Zwei-Jahres-Frist des § 31 Abs. 1 AufenthG beginnt am Anfang des Tages, an dem die Aufenthaltserlaubnis erteilt wird bzw. die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 AufenthG eintritt; eine besondere Härte gem. § 31 Abs. 2 AufenthG kann sich auch aus der Integration eines Kindes in die deutsche Gesellschaft ergeben.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die zulässige Beschwerde ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat den Antragstellern vorläufigen Rechtsschutz zu Unrecht versagt. [...]

1. Die Antragstellerin zu 1 hat Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG. Die Voraussetzungen hierfür liegen vor. Die eheliche Lebensgemeinschaft der Antragstellerin zu 1 hat entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin in der Beschwerdeerwiderung vom 12. Februar 2009 seit mindestens zwei Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet bestanden. [...]

b) Gemessen an diesem Maßstab ist das Verwaltungsgericht zu Unrecht davon ausgegangen, dass sich die Antragstellerin zu 1 hinsichtlich der mit Schreiben ihres Bevollmächtigten vom 22. März 2005 beantragten Aufenthaltserlaubnis schon deshalb nicht auf die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG berufen könne, weil sie ohne Visum und damit illegal in das Bundesgebiet eingereist sei und sich deshalb bis zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis am 31. März 2005 nicht rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten habe.

Es trifft zwar zu, dass sich die Antragstellerin vor dem 22. März 2005 lediglich auf der Grundlage einer Duldung im Bundesgebiet aufgehalten hat, was nach den oben beschriebenen Anforderungen grundsätzlich nicht genügt. Das Verwaltungsgericht hat bei seinen Erwägungen jedoch das Schreiben der Antragsgegnerin an den Bevollmächtigten der Antragstellerin zu 1 vom 23. März 2005 (vgl. Bl. 371 der Behördenakten) unberücksichtigt gelassen, indem auf Folgendes hingewiesen wird:

"(N)achdem nun die Eheschlie(ß)ung zum 10.3.2005 im Bundesgebiet wiederholt bzw. anerkannt wurde, ist nun ein(e) Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gem. § 28 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG entstanden. Bezugnehmend auf die unerlaubte Einreise ist hier nun auch § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG anwendbar."

Der Erklärungsinhalt dieses Schreibens kann bei sinnorientierter Auslegung aus objektiver Empfängersicht nur dahin verstanden werden, dass die Antragsgegnerin der Antragstellerin zu 1 die unerlaubte Einreise ohne das erforderliche Visum nicht mehr entgegenhält. Der in dem Schreiben zitierte § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG sieht nämlich ausdrücklich vor, dass vom Visumszwang abgesehen werden kann, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erfüllt sind oder es aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumsverfahren nachzuholen. Diesen Tatbestand hat die Antragsgegnerin im Fall der Antragstellerin zu 1 offensichtlich als erfüllt angesehen. Damit steht zugleich fest, dass deren Aufenthalt ab dem 23. März 2005 nicht mehr als unrechtmäßig betrachtet werden darf. Mithin liegen ab diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen für den Eintritt der Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG vor, so dass der Zeitraum vom 23. März 2005 bis zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis am 31. März 2005 auf die Dauer des rechtmäßigen Bestandes der ehelichen Lebensgemeinschaft im Sinne von § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG anzurechnen ist.

Die Rechtslage kann insoweit nicht anders beurteilt werden, als wenn die Antragstellerin zu 1 am 23. März 2005 mit einem gültigen Visum in das Bundesgebiet eingereist wäre und aufgrund ihres bereits zuvor am 22. März 2005 gestellten Antrages am 31. März 2005 eine Aufenthaltserlaubnis erhalten hätte. Für eine solche Fallgestaltung hat die Rechtsprechung die Anrechnung ausdrücklich anerkannt (vgl. VGH BW, Urteil vom 27.9.2000 - 13 S 89/00 -, InfAuslR 2001, 161 [162]; HK-AuslR/Müller, 2008, RdNr. 14 zu § 31 AufenthG). Unter Berücksichtigung der Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG hat die eheliche Lebensgemeinschaft der Antragstellerin zu 1 bis zu ihrem mutmaßlichem Ende am 30. März 2007 bzw. 1. April 2007 mithin sogar mehr als zwei Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet bestanden, so dass die Anspruchsvoraussetzungen für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht der Antragstellerin zu 1 erfüllt sind.

c) Lediglich ergänzend sei darauf hingewiesen, dass die Sorge des Verwaltungsgerichts, der mit Schreiben des Bevollmächtigten der Antragstellerin zu 1 vom 22. März 2005 gestellte Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis habe die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG möglicherweise auch deshalb nicht auslösen können, weil hierfür nicht das amtliche Formblatt verwandt worden sei, unbegründet ist. Die Antragstellung an sich ist hier aufgrund inhaltlich klaren Schriftsatzes vom 22. März 2005 unstreitig. Die Antragstellerin zu 1 darf sich dabei auch durch einen Bevollmächtigten ihres Vertrauens vertreten lassen (vgl. HK-AuslR/Hofmann, 2008, RdNr. 6 zu § 81 AufenthG), wobei nicht vorausgesetzt werden kann, dass der Bevollmächtigte das insoweit gebräuchliche amtliche Formblatt in seiner Kanzlei vorrätig hält. Dementsprechend hat der Gesetzgeber der Ausländerbehörde in § 82 Abs. 1 Satz 2 AufenthG die Möglichkeit eingeräumt, dem Antragsteller eine angemessene Frist zu setzen, seiner aus § 81 Abs. 1 Satz 1 AufenthG folgenden Mitwirkungspflicht zu genügen. Das Formblatt selbst kann deshalb auch noch nach Antragstellung ausgefüllt und der Ausländerbehörde vorgelegt werden. Im Übrigen will der Gesetzgeber mit der in § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG angeordneten Fiktionswirkung gerade sicherstellen, dass eine unvollständige oder nicht auf dem hierfür vorgesehenen Formblatt erfolgte Antragstellung dem betroffenen Ausländer nicht zum Nachteil gereicht.

2. Ungeachtet dessen begegnet auch die Berechnung der in § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG vorgesehenen Zwei-Jahres-Frist durch das Verwaltungsgericht Bedenken, selbst wenn man von dessen Prämisse, der rechtmäßige Aufenthalt habe erst unmittelbar mit der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis am 31. März 2005 begonnen, ausgeht.

Gemäß Art. 31 Abs. 1 BayVwVfG finden für die Berechnung von Fristen die §§ 187 bis 193 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) entsprechende Anwendung. Hinsichtlich des Fristbeginns unterscheidet § 187 BGB zwischen solchen Fristen, für deren Anfang ein Ereignis oder ein in den Lauf eines Tages fallender Zeitpunkt entscheidend ist (§ 187 Abs. 1 BGB) und solchen, für deren Anfang der Beginn eines Tages maßgebend ist (§ 187 Abs. 2 Satz 1 BGB). Im Fall des § 187 Abs. 1 BGB wird der Tag, in welchen das Ereignis fällt, bei der Berechnung der Frist nicht mitgerechnet, im Fall des § 187 Abs. 2 Satz 1 BGB verhält es sich gerade entgegengesetzt.

Folgt man dem Verwaltungsgericht, das offenbar von einem Fall des § 187 Abs. 1 BGB ausgehen möchte, so würde der Tag der Erteilung des Aufenthaltstitels – hier der 31. März 2005 – nicht in die Berechnung einbezogen, obwohl sich die Betroffene – etwa bei einer Erteilung der Aufenthaltsgenehmigung unmittelbar nach Behördenöffnung – den überwiegenden Teil dieses Tages bereits rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Die besseren Gründe sprechen deshalb für die Annahme eines Falls des § 187 Abs. 2 Satz 1 BGB. Danach wird bereits der erste Tag des berechtigten Aufenthalts in vollem Umfang mitgerechnet. Gemäß § 188 Abs. 2 2. Alternative BGB hat diese Einordnung zur Folge, dass die Frist des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG mit dem Ablauf desjenigen Tages endet, welcher dem Tage vorhergeht, der durch seine Benennung oder seine Zahl dem Anfangstag der Frist entspricht. Die Mindestbestandszeit des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG hat deshalb vorliegend nicht am 31. März 2007 – wie das Verwaltungsgericht meint –, sondern bereits am 30. März 2007 geendet. An diesem Tage hat die eheliche Lebensgemeinschaft der Antragstellerin zu 1 jedoch noch bestanden.

Nach dem vom Verwaltungsgericht für zutreffend erachteten Angaben der Antragstellerin zu 1 vom 12. Februar 2008 und ihres Ehemanns vom 5. April 2007 hat die eheliche Lebensgemeinschaft erst mit Ablauf des 30. März 2007 zu bestehen aufgehört. Damit sind die Voraussetzungen eines eigenständigen Aufenthaltsrechts der Antragstellerin zu 1 auch dann erfüllt, wenn man mit dem Verwaltungsgericht davon ausginge, dass der rechtmäßige Aufenthalt der Antragstellerin zu 1 erst mit der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis am 31. März 2005 begonnen hätte. [...]

4. Zu Unrecht hat das Verwaltungsgericht weiter angenommen, dass keine Anhaltspunkte für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht der Antragstellerin zu 1 nach § 31 Abs. 2 AufenthG ersichtlich seien. Das Verwaltungsgericht verkennt insoweit, dass § 31 Abs. 2 Satz 2 2. Halbsatz AufenthG als schutzwürdige Belange ausdrücklich auch das Wohl eines mit dem Ehegatten in familiärer Gemeinschaft lebenden Kindes nennt. Dieses wird nicht nur bei Misshandlungen und Demütigungen beeinträchtigt, sondern auch dann, wenn eine weit gehende Integration des Kindes in die deutsche Gesellschaft sowie dessen schulische Entwicklung eine Aufenthaltsbeendigung als unzumutbar erscheinen lassen (vgl. Laubach, NVwZ 2000, 1388 [1389]; Marx, in: GK-Aufenthaltsgesetz, Stand: Juni 2008, § 31 RdNr. 195).

Der Bevollmächtigte der Antragsteller hatte insoweit bereits im Ausgangsverfahren geltend gemacht, dass der in der Bundesrepublik Deutschland geborene Antragsteller zu 2 fließend Deutsch spricht, gegenwärtig die 4. Grundschulklasse besucht und in seiner Entwicklung nachhaltig gestört würde, wenn er die Bundesrepublik gemeinsam mit der Antragstellerin zu 1 verlassen müsste, zumal er weder die serbische Sprache beherrsche noch kyrillisch schreiben könne. Angesichts dessen hat hinreichender Anlass für eine eingehende Prüfung der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 AufenthG bestanden. [...]