VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 12.12.2008 - AN 2 K 08.30489 - asyl.net: M15204
https://www.asyl.net/rsdb/M15204
Leitsatz:

Der Kläger wäre - nach langem Auslandsaufenthalt auf sich allein gestellt und weitgehend orientierungslos - einer ernsthaften Bedrohung seiner körperlichen Unversehrtheit und seines Lebens durch willkürliche Gewalt der Konfliktparteien in Somalia ausgesetzt.

Schlagwörter: Somalia, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, interne Fluchtalternative, interner Schutz, Erreichbarkeit, Versorgungslage, Sicherheitslage, Bürgerkrieg, Zivilperson, willkürliche Gewalt, familiäre Lebensgemeinschaft, Existenzgrundlage, Kismayo, Mogadischu, Auslandsaufenthalt, extreme Gefahrenlage, körperliche Unversehrtheit, Gefahr für Leib und Leben
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7, RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

[...]

Die nach der teilweisen Klagerücknahme und darauf folgenden Verfahrensabtrennung in der mündlichen Verhandlung noch verbliebene Klage mit dem Antrag, die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bundesamtsbescheides vom 13. Juni 2005 zu verpflichten, beim Kläger das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Somalias festzustellen (zum Verständnis eines derartigen Antrags unter der nunmehrigen Geltung des Richtlinienumsetzungsgesetzes vom 19.8.2007 vgl. BVerwG vom 24.6.2008, Az. 10 C 43.07), ist sowohl zulässig als auch begründet gemäß § 113 Abs. 5 VwGO. [...]

Aus folgenden Gründen ist davon auszugehen, dass der Kläger bei Abschiebung nach Somalia dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib und Leben im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist, wobei maßgeblich sind die Verhältnisse zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vom 12. Dezember 2008 (§ 77 Abs. 1 AsylVfG):

Nach dem letzten Lagebericht des Auswärtigen Amtes (vom 5.5.2008) ist Somalia von Bürgerkrieg und der weitgehenden Abwesenheit einer staatlichen Zentralgewalt gekennzeichnet: Reale Macht wird von Clanführern und den Chefs bewaffneter Privatmilizen ausgeübt, zudem gewinnt die islamistische Bewegung "Al-Shabab", die auch mit terroristischen Methoden agiert an Stärke. Folter wird in allen vom Bürgerkrieg betroffenen Gebieten von Polizei, Gefängnispersonal und Milizen angewendet. Willkürliche Tötungen und Gewalt gegen Frauen und Kinder sowie die systematische Gewaltanwendung gegenüber Angehörigen feindlicher Clans und Subclans finden in allen vom Bürgerkrieg betroffenen Gebieten statt. Besonders betroffen sind Süd- und Zentralsomalia, wo - nur die Entwicklung der letzten drei Jahre kurz zusammengefasst - im Lauf des Jahres 2006 zunächst die islamistische "Union islamischer Gerichtshöfe" (UIC) weitgehend die Kontrolle übernahm, dann aber Ende 2006/Anfang 2007 von einem Bündnis der (aus der Somalischen Nationalen Versöhnungskonferenz hervorgegangenen) Übergangsregierung und Äthiopiens aus allen wichtigen Städten und Gebieten in Zentral- und Südsomalia vertrieben wurde. Die Kontrolle der Übergangsinstitutionen über die Lage im Land war aber auch danach sehr prekär und erheblichen Widerständen ausgesetzt. Die Machtverhältnisse in Zentral- und Südsomalia sind auch nach einem nationalen Versöhnungskongress im Sommer 2007 unübersichtlich. Die Übergangsregierung und die äthiopischen Truppen sehen sich vor allem in Mogadischu, aber auch in anderen Teilen des Landes bewaffnetem Widerstand gegenüber. Als dessen stärkste Komponente sind islamistisch motivierte Kämpfer anzusehen, vor allem solche der Gruppe "Al-Shabab". Daneben gibt es nach wie vor unterschiedliche private Milizen, die häufig rein kriminell motiviert sind und teilweise in Opposition zur Übergangsregierung stehen. Die größte Gefahr für Rückkehrer in das Zentrum und den Süden des Landes liegt in lokalen, clanbezogenen Rivalitäten. Rückkehrer sind, u.a. in Abhängigkeit zu ihrer Clanzugehörigkeit, einer im Einzelfall schwer einzuschätzenden, möglicherweise sogar lebensbedrohlichen Gefahr ausgesetzt. Extralegale Tötungen sowie willkürliche Verhaftungen durch Milizen und Banden sind unter den chaotischen und weitgehend rechtsfreien Bedingungen im Bürgerkriegsland Somalia weit verbreitet. Die Haftbedingungen sind hart. Neben Krankheiten wie Tuberkulose und HIV/AIDS stellen Übergriffe des Bewachungspersonals eine kontinuierliche Bedrohung für die Insassen dar. Zwar bestehen in ganz Somalia grundsätzlich Ausweichmöglichkeiten, insbesondere herrscht im gesamten Norden des Landes Bewegungsfreiheit für Angehörige aller Clans. Allerdings ist es auf Grund der Zustände im Land häufig schwierig oder unmöglich, sichere Zufluchtsgebiete tatsächlich zu erreichen. Reisen durch die zentralen und südlichen Landesteile sind wegen Kampfhandlungen rivalisierender Milizen, Aktivitäten bewaffneter Banden, Clanstreitigkeiten bzw. Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Angehörigen anderer Clans häufig nicht ohne Lebensgefahr durchführbar. Generell ist die Versorgungslage für Rückkehrer nach Somalia, die nicht über größeres eigenes Vermögen verfügen, äußerst schwierig. Somalia nimmt auf dem Human Development Index von UNDP Platz 172 von 174 Staaten ein. Soziale Sicherungssysteme sind nicht vorhanden; private Hilfe wird gegebenenfalls im Clan- und Familienverband geleistet. Hilfe können im Einzelfall auch internationale Nichtregierungsorganisationen leisten. Die Lebensbedingungen für Rückkehrer, die nicht über familiäre oder vergleichbare Verbindungen verfügen, sind unter diesen Bedingungen sowie angesichts der prekären Sicherheitslage extrem schwierig. Teils infolge längerer Trockenheit, teils durch Überschwemmungen nach starkem Regen gab es in ganz Somalia auch 2007 wieder eine erhebliche Nahrungsmittelknappheit. Etwa 15 % der Bevölkerung leben permanent an (z.T. schon jenseits) der Grenze zur akuten Hungersnot. VN-Organisationen und internationale Nichtregierungsorganisationen versuchen zwar, mit Notprogrammen zu helfen. Allen langfristig angelegten Entwicklungsansätzen stehen aber nach wie vor die instabilen Rahmenbedingungen entgegen. WFP und FAO halten mindestens 1,5 Millionen Menschen in Somalia, darunter 1 Million an Binnenflüchtlingen infolge der Kämpfe, für dringend hilfsbedürftig. Die medizinische Versorgung ist im gesamten Land äußerst mangelhaft. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt 48 Jahre. Erhebliche Teile der Bevölkerung haben keinen Zugang zu trinkbarem Wasser und zu hinreichenden sanitären Einrichtungen, was die Gesundheitslage regelmäßig verschärft. Eine - z.T. nur primitive - Grundversorgung wird mancherorts, vor allem in den sichereren Landesteilen, durch internationale Hilfsorganisationen gestellt. In den südlichen Landesteilen mussten Versorgungs- und Gesundheitsmaßnahmen internationaler Hilfsmaßnahmen immer wieder wegen Kampfhandlungen unterbrochen werden. Eine freiwillige Rückkehr von Somaliern in den Norden nach Somaliland und Puntland ist grundsätzlich möglich, allerdings wurde von den jeweils herrschenden (quasi-)staatlichen Behörden in der Vergangenheit erwartet, dass die Rückkehrer finanzielle Mittel mitbringen.

Ähnliches ist dem Jahresbericht 2008 von amnesty international zum Stichwort Somalia zu entnehmen. [...]

Seit dem Frühjahr 2008 haben sich nach übereinstimmenden Massenmedienberichten (vgl. beispielhaft die zum Verfahrensgegenstand gemachten Presseberichte) die chaotischen Verhältnisse in Somalia nochmals verschlimmert. Bereits im Juni 2008 warnte die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen vor einer dramatischen Verschlechterung der Versorgungslage in den somalischen Flüchtlingslagern wegen der schlechten Sicherheitsbedingungen in der Region. Die Hilfsorganisation selbst zog auf Grund dessen ihre internationalen Mitarbeiter aus Somalia zurück (vgl. dpa vom 26.6. und 16.7.2008). Nach einem Bericht in der Frankfurter Rundschau vom 25. Juli 2008 wurden allein 13 Mitglieder von Hilfswerken in diesem Jahr in Somalia getötet. Nur noch wenige Monate trennten Somalia von einer regelrechten Hungerkatastrophe. Im Folgenden verstärkte sich die Kampftätigkeit im Süden, insbesondere gelang offenbar islamistischen Aufständischen, die einen brutalen Guerillakrieg führen, die Einnahme der strategisch wichtigen Hafenstadt Kismayo 500 Kilometer südlich von Mogadischu; die Al-Shabab-Miliz sei triumphierend durch die Stadt patrouilliert, bei den Gefechten seien mindestens 70 Menschen gestorben (SZ vom 26.8.2008). Zuletzt haben die Kämpfe auch wieder verstärkt die Hauptstadt Mogadischu erreicht, wo sich insbesondere noch äthiopische Truppen und die Übergangsregierung aufhalten, die von den Al-Shabab-Milizen bedrängt werden, denen auch die Einnahme der Hafenstadt Merka rund 100 km südlich von Mogadischu gelang. Friedensbemühungen blieben erfolglos, weil die radikalen Islamisten einen Waffenstillstandsvertrag moderater Islamisten mit der Übergangsregierung ablehnen. Vielmehr kam es auch in Nordsomalia zu einer Anschlagsserie mit mehr als 20 Toten (vgl. insgesamt dpa vom 2. und 27.9.2008, NZZ vom 23.9.2008, FAZ vom 4.10.2008, dpa vom 27.10.2008, FAZ vom 28.10. und 30.10.2008, taz vom 15.11.2008, FAZ vom 15.11.2008, dpa vom 16. und 18.11.2008). Ein Bündnis von 52 internationalen Hilfsorganisationen hat beklagt, dass mittlerweile mehr als drei Millionen Menschen, fast die Hälfte der somalischen Bevölkerung, dringend auf Lebensmittelhilfe angewiesen sei. Seit Jahresbeginn sei die Zahl der Hilfsbedürftigen um 77 % gestiegen. Angesichts hoher Unsicherheit in dem Krisenstaat, hoher Lebensmittelpreise und Dürre drohe sich die Lage noch zu verschlimmern. Allein in den vergangenen Wochen seien rund 37.000 Menschen aus Mogadischu geflohen (dpa vom 6.10.2008). In einem Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 18. November 2008 wird bilanziert, dass die Gegner der Regierung überall seien und sich nicht mit militärischer Gewalt zerschlagen ließen. Hinzu kämen interne Machtkämpfe in der Regierung, die den Gegnern in die Hände spielten. Rivalität, Korruption und Missmanagement zerstörten die auf die Übergangsregierung gesetzte Hoffnung. Die Milizen der "Union der islamischen Gerichte" eroberten ihre Macht in Somalia allmählich zurück. Die Al-Shabab sei wieder auf dem Vormarsch, eine Stadt nach der anderen sei in den vergangenen Wochen in ihre Hände gefallen. Seit 2007 seien in Somalia bei Kämpfen etwa 10.000 Menschen gestorben, mehr als 1 Million Bewohner hätten fliehen müssen. Die radikalen Islamisten versuchen, die Besatzungstruppen aus Äthiopien mit einem Guerillakrieg zu zermürben und zu vertreiben. Zuletzt sollen sie auch in Haradhere in der Küstenregion gut 300 km nördlich von Mogadischu aufgetaucht sein, wo sich seit langem Piraten festgesetzt hatten (taz vom 24.11.2008). Auch sollen die radikal-islamistischen Milizen Mogadischu nunmehr komplett umzingelt haben, und nach einer Ankündigung des äthiopischen Außenministers will sich die äthiopische Armee bis zum Jahresende vollständig aus Somalia zurückziehen, wo dann noch die "Friedenssoldaten" der Afrikanischen Union verblieben (FAZ vom 29.11.2008). Aktuell (dpa vom 8.12.2008) wirft Human Rights Watch den Konfliktparteien in Somalia Verbrechen vor. Alle dortigen Konfliktparteien hätten Kriegsverbrechen und andere Menschenrechtsverletzungen begangen. Die Kämpfer in Somalia hätten der Zivilbevölkerung mehr Schaden zugefügt als ihren Kontrahenten. In einem Bericht über die humanitäre Situation in dem Krisenstaat werden auf mehr als 100 Seiten der Übergangsregierung in Somalia, ihren äthiopischen Verbündeten und islamischen Rebellen vor allem wahllose Angriffe, Tötungen, Vergewaltigungen und die Verwendung von Zivilisten als menschliche Schutzschilder vorgeworfen.

Vor diesem Hintergrund ist zu konstatieren, dass beim Kläger gegenwärtig die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG erfüllt sind.

Unzweifelhaft sind die anhaltenden, zuletzt sogar verstärkten Kämpfe in Somalia in Ansehung der Konfliktparteien, der Intensität und der Dauerhaftigkeit (vgl. im Einzelnen oben) als innerstaatlicher Konflikt i.S.d. Vorschrift zu qualifizieren, wobei sich ein solcher Konflikt nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken muss (vgl. BVerwG vom 24.6.2008 Az. 10 C 43.07); weithin werden die Auseinandersetzungen in Somalia auch als "Bürgerkrieg" bezeichnet (vgl. z.B. den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 5.5.2008).

Im Rahmen dieses Bürgerkriegs liefe der der Zivilbevölkerung angehörende Kläger in seiner Person mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei Abschiebung nach Somalia Gefahr, durch Akte willkürlicher Gewaltanwendung von Seiten der Konfliktparteien wenigstens erhebliche körperliche Schädigungen davon zu tragen oder gar sein Leben zu verlieren, ohne dass er eine zumutbare Zufluchtsmöglichkeit innerhalb Somalias hätte (vgl. zu den Maßstäben neben dem bereits zitierten Urteil des BVerwG vom 24.6.2008 insbesondere auch den Schlussantrag des Generalanwalts im Vorlageverfahren des niederländischen Raad van State beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (Vorlage vom 17.10.2007 Az. C-465/07)):

Der Kläger ist bis zu seiner Flucht 1994 Zentral- und Südsomalia aufgewachsen, das weiterhin heiß umkämpft ist; er stammt nach seinen bislang nicht in Zweifel gezogenen Angaben im Asylverfahren aus Kismayo und ist auch - bei zwischenzeitlichem Schulbesuch in Mogadischu bis September 1990, vgl. Blatt 11 der Bundesamtsakte F 1865680-273 - von dort, dem Wohnsitz seiner Eltern, ins Ausland geflohen. Würde er nunmehr - mittellos, mit dem gesundheitlichen Handicap eines fehlenden Auges und nach 14 Jahren Abwesenheit in Europa - nach Somalia abgeschoben, würde er in Anbetracht dieser Umstände ohne Anknüpfung an sein früheres familiäres Beziehungsgeflecht bei den im Land herrschenden Existenzbedingungen keine Überlebenschancen haben (vgl. dazu die Darstellung im Einzelnen oben sowie auch zur ungebrochenen Bedeutung der Clanzugehörigkeit den Artikel "Ich und mein Clan", FAZ vom 27.9.2008). Dies gilt auch insbesondere hinsichtlich der friedlicheren Nordgebiete Somalias, wo der Kläger unter seinen geschilderten Rückkehrumständen mangels Unterstützung, mangels soziokulturellen Beziehungsgeflechts mit einer für ihn extremen Gefahrenlage für seine Existenzsicherung konfrontiert würde. Der Kläger hätte lediglich die Möglichkeit, einen Weg in sein früheres Umfeld zu suchen. Dabei geriete er, ein Neuankömmling nach 14 Jahren Abwesenheit ohne jegliche Kenntnis der oft kurzfristig wechselnden - lokalen - Machtverhältnisse unweigerlich in die blutigen Auseinandersetzungen der Milizen, Truppen und Clans. [...]

Ob es sich insoweit sogar um eine extreme Gefahr i.S.d. verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zu § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a.F. bzw. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG n.F. handelt, kann schließlich dahinstehen, da nach überzeugender Darlegung des Bundesverwaltungsgerichts in der Entscheidung vom 24. Juni 2008, a.a.O., die Regelung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG richtlinienkonform dahin auszulegen ist, dass sie nicht die Fälle erfasst, in denen die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes nach Art. 15 lit c der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 erfüllt sind. [...]