VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 15.12.2008 - W 7 K 06.30389 - asyl.net: M15190
https://www.asyl.net/rsdb/M15190
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung eines aserbaidschanischen Staatsangehörigen, der ein Anhänger des gestürzten Präsidenten Mutalibov ist; zu den Voraussetzungen des Ausschlusses der Flüchtlingseigenschaft wegen anderweitiger Sicherheit gem. Art. 12 Abs. 1 Bst. b der Qualifikationsrichtlinie.

 

Schlagwörter: Aserbaidschan, Staatsangehörigkeit, Staatsangehörigkeitsrecht, Russland, Registrierung, Oppositionelle, Mutalibov-Anhänger, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 12 Abs. 1 Bst. b
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung eines aserbaidschanischen Staatsangehörigen, der ein Anhänger des gestürzten Präsidenten Mutalibov ist; zu den Voraussetzungen des Ausschlusses der Flüchtlingseigenschaft wegen anderweitiger Sicherheit gem. Art. 12 Abs. 1 Bst. b der Qualifikationsrichtlinie.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Klage ist im aufrechterhaltenen Umfang zulässig und begründet, da der angefochtene Bescheid in seinen Ziffern 2 bis 4 rechtswidrig ist und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist. Denn der Kläger hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 60 Abs. 1 AufenthG, § 113 Abs. 5 VwGO). Denn dem Kläger droht bei einer Rückkehr nach Aserbaidschan politische Verfolgung, weshalb ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. [...]

Der Kläger ist aserbaidschanischer Staatsangehöriger. Er wurde in Aserbaidschan geboren und hielt sich bis Mitte Mai 1992 ständig in Baku auf. Auch bei seiner Flucht Mitte Mai 1992 war er noch in Baku gemeldet. Der Kläger hat daher zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des aserbaidschanischen Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1990 am 1. Januar 1991 die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit erworben. Er hat sie auch nicht durch die Neufassung des Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 30. September 1998 wieder verloren. Nach dessen § 5 Abs. 1 sind Staatsangehörige der Republik Aserbaidschan diejenigen Personen, die die Staatsangehörigkeit der Republik Aserbaidschan im Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens dieses Gesetzes besaßen, wofür Grundlage die Meldung der Person an ihren Wohnort in der Republik Aserbaidschan am Tag des In-Kraft-Tretens dieses Gesetzes ist. Vorliegend sprechen die Umstände dafür, dass der Kläger die Staatsangehörigkeit Aserbaidschans nach dem Staatsangehörigkeitsgesetz von 1998 nicht verloren hat, obwohl er sich tatsächlich nicht mehr in Aserbaidschan aufgehalten hat. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat hierzu in seinem Urteil vom 25. Januar 2007, Nr. 9 B 05.30531, ausgeführt:

"Zunächst war von sachkundigen Stellen und Personen angenommen worden, Aserbaidschan setze die Wohnsitzregelung (d.h. ständiger gemeldeter Wohnsitz in Aserbaidschan am 01.10.1998) konsequent um. Wenig später wurde erkannt, dass Personen, die beim Verlassen Aserbaidschans die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit innehatten, bei Aufenthalt in anderen Ländern (vor allem in der damaligen Sowjetunion) nach wie vor als aserbaidschanische Staatsangehörige betrachtet wurden. Diese behördliche Vorgehensweise erklärt sich u.a. daraus, dass die konsequente Anwendung der Wohnsitzregelung in Art. 5 Nr. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes 1998 u.a. die Entlassung sämtlicher in Russland lebender aserbaidschanischer Staatsangehöriger (das allein betrifft einen Kreis von etwa 2 Millionen Staatsbürgern) aus der aserbaidschanischen Staatsangehörigkeit zur Folge gehabt hätte. Der Verlust der Staatsangehörigkeit für die (vor allem) in den Staaten der früheren Sowjetunion lebenden aserischen Volkszugehörigen widersprach der Intention des Gesetzgebers (vgl. § 8 des Staatsangehörigkeitsgesetzes 1998) und sollte ausgeschlossen werden. In der Verwaltungspraxis wolle die Wohnsitzregelung des Art. 5 Nr. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes 1998 deshalb nur gegenüber politisch unerwünschten Personen, d.h. armenischen Volkszugehörigen, praktiziert."

Der Kläger, der aserbaidschanischer Volkszugehöriger ist, war wohl auch 1998 noch in Aserbaidschan gemeldet, da sein Führerschein 1999 dort verlängert worden ist. Er hat damit die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit durch die Neufassung des Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1998 nicht verloren.

Der Kläger hat auch nicht die russische Staatsangehörigkeit erworben. Denn nach Art. 13 des Staatsangehörigkeitsgesetzes der Russischen Föderation werden als Bürger alle Staatsbürger der ehemaligen UDSSR anerkannt, die am Tag des In-Kraft-Tretens dieses Gesetzes ständig auf dem Territorium der Russischen Föderation leben, sofern sie nicht innerhalb eines Jahres nach diesem Tag ihren Wunsch äußern, nicht Staatsbürger der Russischen Föderation zu werden. Tag des In-Kraft-Tretens dieses Staatsangehörigkeitsgesetzes ist der 6. Februar 1992. Zu diesem Zeitpunkt hielt sich der Kläger noch in Aserbaidschan auf.

Der Kläger ist vorverfolgt aus Aserbaidschan ausgereist. Der Kläger hat glaubhaft gemacht, dass er bereits damals Anhänger des gestürzten und in Russland im Exil lebenden ehemaligen Präsidenten Aserbaidschans Mutalibov war und noch immer ist. Dies ergibt sich aus den glaubwürdigen Einlassungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung und aus den Schreiben des Herrn Mutalibov vom 17. Dezember 2006, an dessen Authentizität keine Zweifel bestehen. Der Kläger wurde bei seiner Rückkehr nach Aserbaidschan unter Druck gesetzt, sein Haus wurde durchsucht, er wurde zusammengeschlagen und misshandelt. Dies hat der Kläger ebenfalls glaubwürdig in der mündlichen Verhandlung vorgetragen und durch Vorlage des Durchsuchungsprotokolls und einer ärztlichen Bescheinigung glaubhaft gemacht.

Da der Kläger vorverfolgt aus Aserbaidschan ausgereist ist, kann nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass er bei einer Rückkehr vor Verfolgung sicher ist. Denn wie das Auswärtige Amt in seiner Zusammenfassung zum Lagebericht vom 17. Juni 2008 ausführt, hat die ohnehin unpopuläre Opposition nur wenig Chancen, Einfluss auf das politische Leben im Lande zu nehmen. Ihre Aktivisten und Sympathisanten setzen sich dem Risiko aus, aufgrund ihres politischen Engagements Nachteile, die auch gewaltsame Übergriffe nicht ausschließen und bis zu Verhaftungen auf zweifelhafter Grundlage oder den Verlust der eigenen wirtschaftlichen Existenz gehen können, zu erleiden. Eine insbesondere in politisch bedeutenden Prozessen von der Exekutive weisungsabhängige Justiz biete nur unzureichenden Schutz vor der Willkür der Sicherheitsorgane.

Der Kläger hat daher Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Dies wird auch nicht durch Art. 12 Abs. 1 Buchstabe b) RL 2004/83/EG (QualRL) ausgeschlossen. Danach ist ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen, wenn er von den zuständigen Behörden des Landes, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Landes verknüpft sind, bzw. gleichwertige Rechte und Pflichten hat. Wie oben ausgeführt hat der Kläger nicht die russische Staatsangehörigkeit erlangt. Er blieb vielmehr aserbaidschanischer Staatsangehöriger und war in Russland im Besitz von Registrierungen. Wie sich aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 17. Juni 2008 ergibt, betrachtet Aserbaidschan die zahlreichen Aserbaidschaner, die sich dauerhaft in Russland niedergelassen haben, weiterhin als aserbaidschanische Staatsangehörige, denen durch die aserbaidschanischen Konsulate in Russland Pässe ausgestellt werden und die konsularischen Schutz in Anspruch nehmen können. Zwar ist für den Ausschlussgrund des Art. 12 Abs. 1 Buchstabe b) QualRL die Zuerkennung der Staatsangehörigkeit nicht erforderlich, die Formulierung "gleichwertige Rechte und Pflichten" verlangt jedoch, dass der Status der Person, die Schutz sucht, dem Status der Staatsangehörigen des Aufnahmelandes weitgehend angeglichen ist. Die in Betracht kommenden Personen besitzen die Rechte und Pflichten, die Staatsangehörigen zustehen, auch wenn sie nicht notwendigerweise eingebürgert worden sein müssen. Es reicht aus, dass sie lediglich als de facto Staatsangehörige des Aufnahmelandes behandelt werden (vgl. UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, Rd.Nr. 145). Ein nicht dauerhaftes Aufenthaltsrecht im Aufnahmeland rechtfertigt somit die Anwendung der Ausschlussklausel nicht. Ein solches hat der Kläger in der Russischen Föderation aber nicht erhalten. [...]