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VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 04.02.2009 - 19 B 08.2774 - asyl.net: M15001
https://www.asyl.net/rsdb/M15001
Leitsatz:

Auf die Sieben-Jahres-Frist für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis gem. § 26 Abs. 4 AufenthG sind auch Zeiten der Fortgeltungsfiktion gem. § 81 Abs. 4 AufenthG anzurechnen; die Erteilung der Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG setzt nicht voraus, dass die Voraussetzungen für die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis des Ausländers noch vorliegen.

Schlagwörter: D (A), Niederlassungserlaubnis, Aufenthaltsdauer, Fortgeltungsfiktion, Aufenthaltserlaubnis, Verlängerungsantrag, Rechtsweggarantie, faires Verfahren
Normen: AufenthG § 26 Abs. 4; AufenthG § 81 Abs. 4; GG Art. 19 Abs. 4; GG Art. 20 Abs. 3; GG Art. 2 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die zulässige Berufung hat im Hauptantrag Erfolg. Mit dem Einverständnis der Beteiligten konnte der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 125 Abs. 1 i.V.m. § 101 Abs. 2 VwGO). Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Unrecht nicht stattgegeben. Dem Kläger steht ein Anspruch auf Erteilung der begehrten Niederlassungserlaubnis zu. [...]

1. Der Anspruch des Klägers auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis folgt aus § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG. [...]

b) Der Kläger erfüllt des Weiteren auch die Voraussetzung des siebenjährigen Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis. Auf diese Frist ist nicht nur die Aufenthaltszeit des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen Asylverfahrens (§ 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG), sondern gemäß § 81 Abs. 4 AufenthG auch die Zeit von der Stellung des Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis bis zur Entscheidung der Behörde über den Antrag anzurechnen (so jüngst auch ..., der für Fragen des Aufenthaltsrechts verantwortlich zeichnende Referent des BMI, in: Kluth/Hund/Maaßen, Zuwanderungsrecht, 2008, § 4 RdNr. 770; siehe auch Heinhold, ZAR 2008, 161 [163 f.]; Hailbronner, AuslR, Stand: Dezember 2008, RdNr. 17 zu § 26 AufenthG; a.A. noch Renner, AuslR, 8. Aufl., 2005, RdNr. 11 u. 8 zu § 26 AufenthG und RdNr. 27 zu § 81 AufenthG). Die Fiktion des Fortbestehens des Aufenthaltstitels, über die dem Kläger eine entsprechende Bescheinigung (§ 81 Abs. 5 AufenthG) erteilt wurde, steht dem Besitz des Aufenthaltstitels, den § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG voraussetzt, gleich (so auch HKAuslR/Hofmann, § 81 RdNr. 33).

aa) Dies ergibt sich unmittelbar aus der Entstehungsgeschichte, vor allem der amtlichen Begründung zur Regelung des § 81 Abs. 4 AufenthG und deren Wortlaut. [...]

Damit hat der Gesetzgeber bewusst mit der Systematik des "alten" Ausländerrechts gebrochen und die Fiktionswirkung insgesamt auf eine neue Grundlage gestellt (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 21.06.2006 - 2 M 167/06 juris; HessVGH, Beschluss vom 28.12.2006 - 12 TG 2396/06 -, AuAS 2007, 74). Nicht der Aufenthalt wird als erlaubt fingiert, sondern der Titel in der Hand des Berechtigten selbst. Die Fiktion des Titels steht daher dem Besitz des Titels gleich. Dies ergibt sich im Übrigen auch bereits aus dem Begriff der Fiktion selbst, nach dem eine in Wahrheit nicht bestehende Tatsache als bestehend behandelt wird.

Dass sich die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 AufenthG lediglich auf die Frage der Berechtigung zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit oder sonstiger Fragen des arbeits- und sozialrechtlichen Bereichs beziehen würde, kann der Gesetzesbegründung nicht entnommen werden. Zum einen macht bereits die Verwendung des Wortes "insbesondere" deutlich, dass sich die Regelung nicht nur auf die Berechtigung zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit oder sonstige arbeits- oder sozialrechtlichen Fragen beschränken soll. Zum anderen lässt die Formulierung "gilt der bisherige Aufenthaltstitel mit allen sich daran anschließenden Wirkungen ... als fortbestehend" Zweifel hinsichtlich einer umfassenden Fortgeltung, die zugleich auch das Erfordernis des Besitzes eines Aufenthaltstitels im Sinne von § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG in sich schließt, nicht zu. Nichts anderes ergibt sich im Übrigen auch aus dem Wortlaut des § 81 Abs. 4 AufenthG selbst.

Der Wechsel des Gesetzgebers von der Erlaubnisfiktion des § 69 Abs. 3 AuslG 1990 zur Titelfiktion des § 81 Abs. 4 AufenthG bewirkt eine wesentliche Verbesserung der Rechtsstellung der Betroffenen und trägt damit zugleich der in § 1 Abs. 1 Satz 2 AufenthG niedergelegten Zielsetzung Rechnung, Zuwanderung unter Berücksichtigung der Aufnahme- und Integrationsfähigkeit zu ermöglichen und zu gestalten. [...]

bb) Endlich zwingt auch die ratio legis des § 81 Abs. 4 AufenthG zur Anrechnung des Fiktionszeitraums auf die Frist des § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG. Die Fortgeltungsfiktion in § 81 Abs. 4 AufenthG bezweckt, dass der Ausländer nach rechtzeitiger Stellung eines Verlängerungsantrags von den Rechtswirkungen seiner seitherigen Aufenthaltserlaubnis weiterhin Gebrauch machen können soll. Die Fiktion der Fortgeltung des Aufenthaltstitels will sicherstellen, dass Vorschriften, die an den Besitz eines Aufenthaltstitels anknüpfen, weiterhin anwendbar bleiben (vgl. HessVGH, Beschluss vom 28.12.2006 - 12 TG 2396/06 -, AuAS 2007, 74 f.). Letzteres setzt voraus, dass Regelungen des Aufenthaltsrechts, die an den Besitz eines solchen Titels anknüpfen, auch im Falle des § 81 Abs. 4 AufenthG zur Anwendung kommen. Die Ausländerbehörde hätte es ansonsten in der Hand, durch "planvolles Nichtentscheiden" über den Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder der Erteilung der Niederlassungserlaubnis (vgl. hierzu auch Heinhold, ZAR 2008, 161 [164]) den Eintritt der Anspruchsvoraussetzungen des § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG – namentlich das Erreichen der Sieben-Jahres-Frist – zu verhindern und dem Betroffenen damit den durch § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG garantierten Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Einräumung eines Daueraufenthaltsrechts zu nehmen, obwohl der Antragsteller auch während des Fiktionszeitraums an seiner Integration – vor allem der nachhaltigen Sicherung seines Lebensunterhalts – arbeitet und damit eine Anwartschaft auf aufenthaltsrechtliche Verfestigung erwirbt. In seinem Vertrauen hierauf ist der Betroffene schutzwürdig und auch schutzbedürftig. Die Fiktion des Aufenthaltstitels stellt diesen Schutz sicher, in dem sie für den Zeitraum, den die Behörde zu ihrer Entscheidung benötigt, eine Hemmung des Fristlaufs verhindert. Dabei bleibt es der Ausländerbehörde unbenommen, den Eintritt der Anspruchsvoraussetzungen durch eine rasche, die Verlängerung ablehnende Entscheidung vor Ablauf der Sieben-Jahres-Frist zu verhindern und ein Erstarken der Anwartschaft des Betroffenen zum dauerhaften Aufenthaltsrecht rechtzeitig vor Eintritt der Voraussetzungen des § 26 Abs. 4 AufenthG zu verhindern, sofern nach dem Widerruf der Anerkennung der Asylberechtigung oder dem Widerruf der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft und der Feststellung des Nichtvorliegens von Abschiebungshindernissen durch das Bundesamt die Voraussetzungen des § 25 Abs. 1 bis 3 AufenthG nicht mehr und die des § 25 Abs. 4 und 5 AufenthG nicht oder noch nicht vorliegen.

cc) Durch die Anrechnung des Fiktionszeitraums auf die Frist des § 26 Abs. 4 AufenthG wird zugleich ein Konflikt mit der Garantie effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) und dem Anspruch auf ein faires Verfahren (Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG) vermieden:

Hätte die Behörde rechtzeitig vor Ablauf der Siebenjahresfrist ablehnend über die beantragte Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis entschieden, so wäre dem Betroffenen hiergegen der Rechtsweg offen gestanden verbunden mit der Möglichkeit, sich unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. Mai 1995 - 1 C 7.94 -, BVerwGE 98, 313 (321 f.) zugleich auch im Besitz seiner Anwartschaft auf aufenthaltsrechtliche Verfestigung zu halten. Sieht die Ausländerbehörde hingegen von einer Entscheidung über den Verlängerungsantrag vor Erreichen der Siebenjahresfrist ab, so ist dem Betroffenen ohne Anrechnung des Fiktionszeitraums ein Sich-Berufen-Dürfen auf die Rechtsfolgenverheißung des § 26 Abs. 4 AufenthG nach Eintritt der genannten Frist von vornherein verschlossen. Zwar ließe sich einwenden, der Betroffene könne Untätigkeitsklage erheben. Dabei wird jedoch übersehen, dass diese gemäß § 75 VwGO regelmäßig erst nach Ablauf von drei Monaten zulässig ist. Ohne Rückgriff auf das Rechtsinstitut der Titelfiktion nach § 81 Abs. 4 AufenthG ließe sich dieser Zeitraum nicht "überbrücken". [...]

dd) Dem stehen die Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 12. April 2006 - 19 ZB 06.185 - und 18. September 2006 - 19 CS 06.1713 - nur scheinbar entgegen (vgl. hierzu auch Heinhold, ZAR 2008, 161 [163 f.]). Daran hält der Senat trotz der Kritik des Verwaltungsgerichts fest. Beide Beschlüsse betreffen ausschließlich die Frage, ob es für das Bestehen besonderen Ausweisungsschutzes nach § 56 AufenthG auf den tatsächlichen Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ankommt oder ob auch das Vorliegen einer Fiktionsbescheinigung (§ 81 Abs. 5 AufenthG) genügt. Der Senat hat diese in den oben angeführten Entscheidungen im ersteren Sinne beantwortet und festgestellt, dass die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 AufenthG dem tatsächlichen Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nicht gleich stehe. Aus dieser allein auf den Ausweisungsschutz nach § 56 AufenthG bezogenen Feststellung kann jedoch nicht geschlossen werden, dass dies auch im Rahmen des § 26 Abs. 4 AufenthG so sein müsse (so aber VG Ansbach, Beschluss vom 22.8.2007 - AN 19 K 07.1694 - und VG Augsburg, Beschluss vom 26.4.2007 - Au 1 S 07.232). [...]

c) Die Vorschrift verlangt entgegen der Annahme des Bayer. Staatsministeriums des Innern und der Beklagten nicht, dass zum Zeitpunkt der Erteilung der Niederlassungserlaubnis die Voraussetzungen für die Erteilung bzw. Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach dem 5. Abschnitt noch vorliegen. Der Wegfall der Erteilungsvoraussetzungen zu diesem Zeitpunkt steht der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nicht entgegen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.5.2007 - 11 S 2093/06 -, EZAR-NF 24 Nr. 5, Seite 3 f.; Sächs. OVG, Beschluss vom 29.3.2007 - 3 BS 113/06 -, EZAR-NF 24 Nr. 1, Seite 3; Maaßen, in: Kluth/Hund/Maaßen, Zuwanderungsrecht, 2008, § 4 RdNr. 769; Storr, in: Storr/Wenger/Eberle/Albrecht/Harms/Kreutzer, Kommentar zum Zuwanderungsgesetz, 2. Aufl., 2008, § 26 RdNr. 7; Hailbronner, AuslR, Stand: Dezember 2008, RdNr. 23 zu § 26 AufenthG; a. A. nur OVG NW, Beschluss vom 12.1.2005 - 18 B 60/05 -, juris). § 26 Abs. 4 AufenthG ermöglicht nach Wortlaut, systematischer Stellung sowie Sinn und Zweck die Erlangung eines Daueraufenthaltsrechts unabhängig von den Erteilungs- und Verlängerungsvoraussetzungen des befristeten Aufenthaltsrechts. Die Vorschrift ermächtigt zur Erteilung einer Niederlassungserlaubnis ausdrücklich "im Übrigen" und setzt sich damit nach Wortlaut und Systematik nicht nur vom Verlängerungsverbot des § 26 Abs. 2 AufenthG und dem gesetzlichen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG, sondern auch von der Voraussetzung der Erfüllung eines der Tatbestände der §§ 22 bis 25 AufenthG vollständig durch das Erfordernis eines – auch im Verhältnis zur Fünf-Jahres-Frist nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG – deutlich längeren Besitzes eines Aufenthaltstitels nach dem fünften Abschnitt des Aufenthaltsgesetzes sowie den weiteren Integrationsanforderungen nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 bis 9 AufenthG ab. Die Regelung hat damit – ebenso wie § 35 Abs. 1 AuslG 1990 – allein die wirtschaftlich, sozial und sprachlich gelungene Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland im Auge. Der Wegfall der Voraussetzungen nach §§ 22 bis 25 AufenthG kann der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG deshalb nicht entgegengehalten werden, solange der Ausländer sich noch im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach dem fünften Abschnitt des Aufenthaltsgesetzes befindet (so mit Recht VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.5.2007 - 11 S 2093/06 -, EZAR-NF 24 Nr. 5, Seite 3 f.), wofür gemäß § 81 Abs. 4 AufenthG der Besitz einer Fiktionsbescheinigung und damit die rechtzeitige Stellung des Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis genügt (vgl. statt aller Maaßen in: Kluth/Hund/Maaßen, Zuwanderungsrecht, 2008, § 4 RdNr. 770).

Die hiervon abweichende Auffassung des Bayerischen Staatsministeriums des Innern lässt nicht nur diesen Zusammenhang unberücksichtigt; sondern auch Bedeutung und Tragweite des Begriffs der Fiktion und kann deshalb der Beurteilung nicht zugrunde gelegt werden. Der zunächst lediglich temporäre Schutz des Flüchtlings kann sich aufgrund fortschreitender Verwurzelung zu einem Daueraufenthalt weiterentwickeln. Eine bereits in der Lebenswirklichkeit faktisch vollzogene innerstaatliche Integration in die sozialen und wirtschaftlichen Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik soll auch rechtlich nachvollzogen werden können (vgl. Storr, in: Storr/Wenger/Eberle/Albrecht/Harms/Kreuzer, Kommentar zum Zuwanderungsrecht, 2. Aufl., 2008, § 26 RdNr. 7; Hailbronner, AuslR, Stand: Dezember 2008, RdNr. 23 zu § 26 AufenthG).

Dem steht, anders als die Beklagte offenbar meint, auch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 22. November 2005 - 1 C 18.04 -, BVerwGE 124, 326 (331 f.) nicht entgegen. Das Bundesverwaltungsgericht befasst sich in dieser Entscheidung ausschließlich mit der Frage der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG, ohne sich zu den Tatbestandsvoraussetzungen des § 26 Abs. 4 AufenthG, dem Wortlaut, der systematischen Stellung oder dem Sinn und Zweck dieser Vorschrift zu verhalten. Soweit ersichtlich, messen auch die eingangs erwähnten Stimmen in Rechtsprechung und Literatur der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts im Hinblick auf die Anwendungsvoraussetzungen des § 26 Abs. 4 AufenthG keine Bedeutung bei. [...]