Zur Auslegung des Art. 15 Bst. c (individuelle Bedrohung in bewaffnetem Kolflikt) in Verbindung mit Art. 2 Bst. e (Personen mit Anspruch auf subsidiären Schutz) der Qualifikationsrichtlinie (2004/83/EG).
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27 Zunächst ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht eine Klärung der Frage wünscht, welchen Schutz Art. 15 Buchst. c der Richtlinie im Verhältnis zu dem Schutz aus Art. 3 EMRK gewährt, wie er durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. u. a. Urteil NA ./. Vereinigtes Königreich vom 17. Juli 2008, noch nicht veröffentlicht in den Reports of Judgements and Decisions, §§ 115 bis 117 und die dort angeführte Rechtsprechung) ausgelegt worden ist.
28 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass zwar das durch Art. 3 EMRK garantierte Grundrecht zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehört, deren Einhaltung der Gerichtshof sichert, und dass für die Auslegung seiner Reichweite in der Gemeinschaftsrechtsordnung die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Berücksichtigung findet, dass es aber Art. 15 Buchst. b der Richtlinie ist, der im Wesentlichen Art. 3 EMRK entspricht. Art. 15 Buchst. c der Richtlinie ist hingegen eine Vorschrift, deren Inhalt sich von dem des Artikels 3 EMRK unterscheidet und die daher, unbeschadet der Wahrung der durch die EMRK gewährleisteten Grundrechte, in eigenständiger Weise auszulegen ist.
29 Die Vorlagefragen, die zusammen zu prüfen sind, beziehen sich somit auf die Auslegung von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie in Verbindung mit deren Art. 2 Buchst. e.
30 Bei Berücksichtigung dieser Vorbemerkungen und der Umstände des Ausgangsverfahrens geht die Frage des vorlegenden Gerichts dahin, ob Art. 15 Buchst. c in Verbindung mit Art. 2 Buchst. e der Richtlinie dahin auszulegen ist, dass das Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Person, die die Gewährung des subsidiären Schutzes beantragt, voraussetzt, dass diese Person beweist, dass sie aufgrund von ihrer Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist. Bei Verneinung dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, nach welchem Kriterium es sich richtet, ob eine solche Bedrohung als gegeben anzusehen ist.
31 Um diese Fragen zu beantworten, sind die drei in Art. 15 der Richtlinie definierten Arten eines "ernsthaften Schadens" vergleichend zu prüfen, die als Tatbestandsmerkmale erfüllt sein müssen, um den Anspruch einer Person auf subsidiären Schutz zu begründen, sofern gemäß Art. 2 Buchst. e der Richtlinie stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Antragsteller bei einer Rückkehr in das betreffende Land "tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden ... zu erleiden".
32 Insoweit ist zu beachten, dass die Begriffe "Verhängung ... der Todesstrafe", "Vollstreckung der Todesstrafe" sowie "Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers" in Art. 15 Buchst. a und b der Richtlinie Situationen erfassen, in denen der den subsidiären Schutz Beantragende spezifisch der Gefahr ausgesetzt ist, einen Schaden ganz bestimmter Art zu erleiden.
33 Hingegen umfasst der in Art. 15 Buchst. c der Richtlinie definierte Schaden, da er in "einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit" des Antragstellers besteht, eine Schadensgefahr allgemeinerer Art.
34 Es ist dort nämlich in einem weiteren Sinne von "eine[r] ... Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit" einer Zivilperson statt von bestimmten Gewalteinwirkungen die Rede. Außerdem ergibt sich diese Bedrohung aus einer allgemeinen Lage eines "internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts". Schließlich wird die in Frage stehende Gewalt, der die Bedrohung entspringt, als "willkürlich" gekennzeichnet, was impliziert, dass sie sich auf Personen ungeachtet ihrer persönlichen Situation erstrecken kann.
35 In diesem Zusammenhang ist das Adjektiv "individuell" dahin zu verstehen, dass es sich auf schädigende Eingriffe bezieht, die sich gegen Zivilpersonen ungeachtet ihrer Identität richten, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt nach der Beurteilung der zuständigen nationalen Behörden, die mit einem Antrag auf subsidiären Schutz befasst sind, oder der Gerichte eines Mitgliedstaats, bei denen eine Klage gegen die Ablehnung eines solchen Antrags anhängig ist, ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung im Sinne des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie ausgesetzt zu sein.
36 Dieser Auslegung, die Art. 15 Buchst. c der Richtlinie einen eigenen Anwendungsbereich zu sichern geeignet ist, steht nicht der Wortlaut des 26. Erwägungsgrundes der Richtlinie entgegen, wonach "Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind, ... für sich genommen normalerweise keine individuelle Bedrohung dar[stellen], die als ernsthafter Schaden zu beurteilen wäre".
37 Auch wenn dieser Erwägungsgrund impliziert, dass die objektive Feststellung einer Gefahr, die mit der allgemeinen Lage eines Landes im Zusammenhang steht, allein grundsätzlich nicht genügt, um den Tatbestand des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie hinsichtlich einer bestimmten Person als erfüllt anzusehen, bleibt doch durch die Verwendung des Wortes "normalerweise" der Fall einer außergewöhnlichen Situation vorbehalten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die fragliche Person dieser Gefahr individuell ausgesetzt wäre.
38 Der Ausnahmecharakter einer solchen Situation wird auch durch den subsidiären Charakter des in Frage stehenden Schutzes und durch die Systematik des Art. 15 der Richtlinie bestätigt, da die in Art. 15 Buchst. a und b definierten Schäden einen klaren Individualisierungsgrad voraussetzen. Auch wenn kollektive Gesichtspunkte für die Anwendung des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie eine bedeutende Rolle in dem Sinne spielen, dass die fragliche Person zusammen mit anderen Personen zu einem Kreis von potenziellen Opfern willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gehört, ändert dies nichts daran, dass diese Vorschrift systematisch im Verhältnis zu den beiden anderen Tatbeständen des Art. 15 der Richtlinie und deshalb in enger Beziehung zu dieser Individualisierung auszulegen ist.
39 Dies ist dahin zu präzisieren, dass der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit der Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz hat, umso geringer sein wird, je mehr er möglicherweise zu belegen vermag, dass er aufgrund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist.
40 Es ist hinzuzufügen, dass bei der individuellen Prüfung eines Antrags auf subsidiären Schutz gemäß Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie insbesondere zu berücksichtigen sein können
- das geografische Ausmaß der Lage willkürlicher Gewalt sowie der tatsächliche Zielort des Antragstellers bei einer Rückkehr in das betroffene Land, wie es sich aus Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie ergibt, und
- gegebenenfalls das Vorliegen eines ernsthaften Hinweises auf eine tatsächliche Gefahr im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie, angesichts dessen der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit der Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz hat, geringer sein kann.
41 Schließlich ist zum Ausgangsverfahren zu bemerken, dass es, wenn Art. 15 Buchst. c der Richtlinie erst nach den Ereignissen, mit denen das vorlegende Gericht im Ausgangsrechtsstreit befasst ist, ausdrücklich in die innerstaatliche Rechtsordnung umgesetzt wurde, Sache des vorlegenden Gerichts ist, sich um eine Auslegung des nationalen Rechts, insbesondere des Art. 29 Abs. 1 Buchst. b und d Vw 2000, zu bemühen, die mit der Richtlinie in Einklang steht.
42 Nach ständiger Rechtsprechung muss nämlich ein nationales Gericht, das bei der Anwendung des nationalen Rechts ? gleich, ob es sich um vor oder nach der Richtlinie erlassene Vorschriften handelt ? dieses Recht auszulegen hat, seine Auslegung so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichten, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen und auf diese Weise Art. 249 Abs. 3 EG nachzukommen (vgl. u. a. Urteile vom 13. November 1990, Marleasing, C-106/89, Slg. 1990, I-4135, Randnr. 8, und vom 24. Juni 2008, Commune de Mesquer, C-188/07, Slg. 2008, I-0000, Randnr. 84).
43 Nach alledem ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass Art. 15 Buchst. c in Verbindung mit Art. 2 Buchst. e der Richtlinie wie folgt auszulegen ist:
- Das Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Person, die die Gewährung des subsidiären Schutzes beantragt, setzt nicht voraus, dass diese Person beweist, dass sie aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist.
- Das Vorliegen einer solchen Bedrohung kann ausnahmsweise als gegeben angesehen werden, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt nach der Beurteilung der zuständigen nationalen Behörden, die mit einem Antrag auf subsidiären Schutz befasst sind, oder der Gerichte eines Mitgliedstaats, bei denen eine Klage gegen die Ablehnung eines solchen Antrags anhängig ist, ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls in die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein.
44 Schließlich ist hinzuzufügen, dass die sich aus den vorstehenden Randnummern ergebende Auslegung von Art. 15 Buchst. c in Verbindung mit Art. 2 Buchst. e der Richtlinie in vollem Umfang mit der EMRK einschließlich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK (vgl. u. a. Urteil NA./Vereinigtes Königreich, §§ 115 bis 117 sowie die dort angeführte Rechtsprechung) vereinbar ist. [...]
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Art. 15 Buchst. c in Verbindung mit Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist wie folgt auszulegen:
- Das Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Person, die die Gewährung des subsidiären Schutzes beantragt, setzt nicht voraus, dass diese Person beweist, dass sie aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist.
- Das Vorliegen einer solchen Bedrohung kann ausnahmsweise als gegeben angesehen werden, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt nach der Beurteilung der zuständigen nationalen Behörden, die mit einem Antrag auf subsidiären Schutz befasst sind, oder der Gerichte eines Mitgliedstaats, bei denen eine Klage gegen die Ablehnung eines solchen Antrags anhängig ist, ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls in die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein.