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OVG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 10.12.2008 - 2 LB 23/08 - asyl.net: M14922
https://www.asyl.net/rsdb/M14922
Leitsatz:

Extreme Gefahrenlage gem. § 60 Abs. 7 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung für jungen afghanischen Staatsangehörigen, der im Iran aufgewachsen ist und über keinen familiären Rückhalt in Afghanistan verfügt.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Sicherheitslage, Versorgungslage, Existenzminimum, RANA-Programm, IOM, UNHCR, Kabul, Situation bei Rückkehr, alleinstehende Personen, gemischt-ethnische Abstammung, soziale Bindungen
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Extreme Gefahrenlage gem. § 60 Abs. 7 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung für jungen afghanischen Staatsangehörigen, der im Iran aufgewachsen ist und über keinen familiären Rückhalt in Afghanistan verfügt.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Berufung des Klägers ist zulässig und begründet. Die Ablehnung der begehrten Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 AufenthG ist rechtswidrig. Der Kläger hat Anspruch auf die entsprechende Feststellung. [...]

Hinsichtlich der allgemeinen Rückkehrsituation stellt sich die Auskunftslage wie folgt dar: Die allgemeine Sicherheitslage ist weiterhin prekär und verschlechtert sich stetig. Die afghanischen Sicherheitskräfte sind mangels Kapazitäten, Ausrüstung, Ausbildung und Disziplin sowie auf Grund von Korruption und Missachtung der Menschenrechte nicht in der Lage, die Sicherheit der Zivilbevölkerung landesweit zu gewährleisten (Schweizerische Flüchtlingshilfe - SFH -, Afghanistan-Update v. 11.12.2006; amnesty international - ai Auskunft v. 17.01.2007 an HessVGH). Auch in Kabul ist die Sicherheitslage weiter fragil, auch wenn sie auf Grund der ISAF-Präsenz im regionalen Bereich als zufriedenstellend eingeschätzt wird. Der UNHCR bezeichnet sie seit Mitte 2002 als "ausreichend sicher". Allerdings gibt es Übergriffe von Polizei und Sicherheitskräften auf die Zivilbevölkerung. Angehörige der Sicherheitskräfte stellen sich gelegentlich als Täter von bewaffneten Raubüberfällen oder Diebstählen heraus (Lagebericht des Ausw. Amtes v. 07.03.2008, Auskunft v. 29.05.2007 an HessVGH). Amnesty international weist darauf hin, dass es in einigen Gegenden in Kabul vor allem nachts, aber auch tagsüber immer öfter zu Schießereien und Überfällen kommt. Die Polizei ist in diesen Fällen nicht in der Lage oder willens, Schutz zu gebieten. Bewaffnete Raubüberfälle und Diebstähle werden nicht selten von Angehörigen der Sicherheitskräfte und der Polizei begangen. Ferner wird auch eine Zunahme von Kindesentführungen festgestellt (ai, Auskunft v. 17.01.2007 an HessVGH).

Die schlechte Sicherheitslage sowie die verbreitete Korruption bremsen auch die wirtschaftliche Entwicklung. Die Arbeitslosenrate liegt bei rund 40 % (SFH, Afghanistan-Update v. 11.12.2006). Sie stellt vor allem in Kabul ein weiteres erhebliches Problem dar, wo Rückkehrer mit der übrigen Bevölkerung um die wenigen Arbeitsplätze konkurrieren (ai, Auskunft v. 17.01.2007 an HessVGH). Innerhalb der Städte gibt es Unterschiede zwischen denen, die Englisch können und anderen Arbeitssuchenden (Panhölzl, "Humanitäre Lage in Kabul" in: Informationsverbund Asyl e.V. <Hrsg.>: Zur Lage in Afghanistan, Berichte, Analysen und Stellungnahmen, 2006). Arbeitskräfte ohne oder mit geringer Ausbildung finden vor allem im informellen Sektor Arbeit, der gekennzeichnet ist durch hohen Wettbewerb, Unzuverlässigkeit, Unregelmäßigkeit, niedriges Einkommen und stärkere saisonale Schwankungen (SFH, Afghanistan-Update v. 11.12.2006; Panhölzl, a.a.O.). Neben selbständigem Erwerb - Karrenzieher oder Straßenhändler, Heimproduktion von Gütern - und Gelegenheitsjobs stellt die Tageslohnarbeit für rund 30 % aller Familien die Haupteinnahmequelle dar (SFH, Afghanistan-Update v. 11.12.2006). Da der herkömmliche Arbeitsmarkt durch das Bevölkerungswachstum überfordert ist, wird die gelegentliche Lohnarbeit bevorzugt, die oft aus Tätigkeiten in der Öffentlichkeit besteht und deshalb noch stärker Männern vorbehalten ist als andere Arbeitsformen, deren Lohnniveau mit jenem der regelmäßigen Lohnarbeit aber vergleichbar ist (Panhölzl, a.a.O.). Der Bauboom in Kabul bietet zwar einige Arbeitsplätze. Allerdings sind auch diese Hilfsarbeitertätigkeiten rar und sehr stark am Wettbewerb und saisonalen Schwankungen ausgesetzt. Wer solche Hilfsarbeiten verrichtet, kann höchstens 2 , - Dollar am Tag verdienen (Dr. Danesch, erg. Gutachten v. 24.08.2007).

Seit Ende 2001 ist die Zahl der Einwohner Kabuls von 900.000 auf mehr als 4 Mio. angestiegen. Vielen Stadtgebieten droht der Kollaps. Der enorme Bevölkerungszuwachs hat zu einem akuten Mangel an Wohnraum und der Bildung großer Slum-Viertel geführt (ai, Auskunft v. 17.01.2007 an HessVGH; Panhölzl, a.a.O.; Dr. Danesch, erg. Gutachten v. 24.08.2007). Trotz einer hohen Anzahl von Wohnprojekten ausländischer Hilfsorganisationen übertrifft der Bedarf an billigem Wohnraum das Angebot bei weitem (Panhölzl, a.a.O.). Wohnungen sind praktisch unerschwinglich; bereits einfache Zimmer mit Etagenbad übersteigen das Budget vieler Einwohner (ai, Auskunft v. 17.01.2007 an HessVGH). Ein einfaches Zimmer in den Außenbezirken kostet 15,- bis 20,- US-Dollar im Monat, eine primitive 1-Zimmer-Wohnung im Stadtgebiet von Kabul ohne Wasser, Heizung und Kanalisation mindestens 100,-- Dollar (Dr. Danesch, erg. Gutachten v. 24.08.2007). Etwa 70 % der Haushalte im Stadtgebiet bestehen aus informellen Siedlungen ohne rechtlichen Status. Vor allem alleinstehende Männer haben es schwer, in Kabul eine Wohnung zu finden, weil sie von Wohnungsvermietern als gefährlich erachtet werden (SFH, Afghanistan-Update v. 11.12.2006). Während die Caritas schätzt, dass etwa 1 Mio. Einwohner weder über einen ausreichenden und winterfesten Wohnraum noch über regelmäßiges Trinkwasser verfügen (ai, Auskunft v. 17.01.2007 an HessVGH), geht Dr. Danesch davon aus, dass 80 % der Kabuler Einwohner in provisorischen Siedlungen leben, deren Lebensverhältnisse und hygienische Mängel zu Krankheit und Tod führen (Dr. Danesch, erg. Gutachten v. 24.08.2007). Nach Einschätzung des Ausw. Amtes hat sich die Versorgungslage in Kabul und zunehmend auch in den anderen großen Städten zwar grundsätzlich verbessert, jedoch profitieren längst nicht alle Bevölkerungsschichten von dieser verbesserten Lage. Insbesondere die Versorgung mit Wohnraum ist unzureichend, das Angebot knapp und eine Wohnung nur zu hohen Preisen erhältlich (Lagebericht v. 07.03.2008).

Die Versorgung mit Nahrungsmitteln für die nicht wohlhabende Bevölkerung wird als unzureichend bezeichnet (ai, Auskunft v. 17.01.2007 an HessVGH); 8,9 % der Bevölkerung Kabuls sind unterernährt (Dr. Danesch, erg. Gutachten v. 24.08.2007).

Das RANA-Programm der Europäischen Union für freiwillige Rückkehrer ist Ende April 2007 ausgelaufen (Auskunft des Ausw. Amtes v. 29.05.2007 an HessVGH). Neben IOM sind Vertreter von UNHCR und dem Ministerium für Flüchtlinge und Wiedereingliederung am Flughafen Kabul vertreten. Letztere geben Informationen über Leistungen afghanischer Stellen und organisieren die Aufnahme in das Jangalak-Zentrum, welches freiwilligen Rückkehrern und Abgeschobenen in den ersten zwei Wochen gleichermaßen offen steht. Beide Gruppen können zudem auf die Fortbildungsveranstaltungen und Stellenangebote der NRO "Arbeitsgemeinschaft Entwicklung und Fachkräfte" zurückgreifen (Auskunft des Ausw. Amtes v. 31.01.2007 an VG Kassel). Vom UNHCR erhalten Rückkehrer zur Deckung unmittelbarer Bedürfnisse einmalig 12,- Dollar pro Person, plus 4 , - bis 37,- Dollar pro Person für Transportkosten (Panhölzl, a.a.O.; Dr. Danesch, ergänzendes Gutachten vom 24.08.2007). Die Hilfsorganisationen sind angesichts der enorm großen Zahl von Rückkehrern und der prekären Sicherheitslage im Land nicht in der Lage, Rückkehrer mit Nahrung oder Wohnraum zu versorgen (Dr. Danesch, ergänzendes Gutachten vom 24.08.2007; ai, Auskunft v. 17.01.2007 an HessVGH).

Statt sozialer Sicherungssysteme sind weiterhin Familien und Gemeinschaftsstrukturen des Herkunftsortes für die Absicherung der Rückkehrer zuständig, da der Zugang zur Grundversorgung stark von funktionierenden Sozialnetzen abhängig ist (Lagebericht des Ausw. Amtes v. 07.03.2008; Panhölzl, a.a.O.). Rückkehrer, die außerhalb des Familienverbandes oder nach einer längeren Abwesenheit im westlich geprägten Ausland zurückkehren, stoßen deshalb auf größere Schwierigkeiten als Rückkehrer, die in größeren Familienverbänden geflüchtet sind oder in einen solchen zurückkehren (Lagebericht des Ausw. Amtes v. 07.03.2008; Auskunft v. 29.05.2007 an HessVGH). Eine Rückkehr in andere Gebiete als die der ursprünglichen Heimat kann Afghanen vor unüberwindbare Schwierigkeiten stellen - sowohl wirtschaftlich als auch die Sicherheitslage betreffend (Panhölzl, a.a.O.). Andererseits bringen Afghanen, die im westlichen Ausland Zuflucht gesucht haben, nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes in der Mehrzahl einen besseren finanziellen Rückhalt, eine qualifiziertere Ausbildung und umfangreichere Fremdsprachenkenntnisse mit, was ihnen bei der Reintegration einen deutlichen Vorteil verschaffe (Lagebericht des Ausw. Amtes v. 07.03.2008; Auskunft v. 29.05.2007 an HessVGH). Die Probleme, mit denen sich die Rückkehrer konfrontiert sehen, sollen sich nach Einschätzung des UNHCR nicht von denen anderer Afghanen unterscheiden, aber viel prononcierter sein. Insbesondere die Verwirklichung grundlegender sozialer und wirtschaftlicher Rechte wie Zugang zu Arbeit, Wasser, Gesundheit, Versorgung etc. ist mit Problemen behaftet. Die Regierung ist bemüht, den ankommenden Rückkehrern mit der Zuweisung von Land bzw. der Unterbringung in festen Häusern eine Startmöglichkeit zu bieten. Da es allerdings oftmals an einer Langzeitstrategie fehlt, müssen die in den Wintermonaten untergebrachten Rückkehrer zum Sommer wieder in Zeltlager zurückkehren, die nicht als echte Flüchtlingslager angesehen werden können, sondern vielmehr informelle Siedlungen darstellen (Lagebericht des Ausw. Amtes v. 07.03.2008). Wichtigste Einnahmequelle für 45 % der Rückkehrer in Städten ist die Arbeit als Tagelöhner, während 12 % als "kleine" Selbständige tätig sind und 11 % über keine regelmäßige Einkommensquelle verfügen (Panhölzl, a.a.O.). Als Haupthindernis für eine langfristige Integration wird der Mangel an wirtschaftlichen und sozialen Rechten gesehen. Zusätzlich werden Rückkehrer häufiger Opfer von Menschenrechtsverletzungen, von Diebstahl, Raubüberfällen oder Entführungen (SFH, Afghanistan-Update v. 11.12.2006; ai, Auskunft v. 17.01.2007 an HessVGH).

Von der Rückkehr folgender Personengruppen wird abgeraten: Unbegleitete Frauen, ältere Menschen und Minderjährige, alleinerziehende Mütter ohne Ernährer, Gewaltopfer und traumatisierte Personen sowie Personen mit körperlichen/mentalen/chronischen, schwerwiegenden oder ansteckenden Krankheiten (UNHCR: Humanitäre Erwägungen im Zusammenhang mit der Rückkehr nach Afghanistan, Mai 2006; SFH, Afghanistan-Update v. 11.12.2006).

Die Auskunftslage belegt weiterhin, dass eine Rückkehr nach Afghanistan grundsätzlich problematisch ist und in jedem Einzelfall sorgfältig geprüft werden muss. Sie mag für die oberste Landesbehörde auch ausreichend Anlass bieten, gemäß § 60 a Abs. 1 AufenthG aus humanitären Gründen einen Abschiebestopp anzuordnen (so schon OVG NRW, Beschl. v. 21.03.2007 - 20 A 5164/04.A - in juris).

In Kenntnis dieser Situation hat der Senat gleichwohl in früheren Entscheidungen (z.B. Urt. v. 21.11.2007 - 2 LB 38/07 -) - wie auch andere Obergerichte (OVG Brandenburg, Urt. v. 05.05.2006 - 12 B 11.05 - in juris; Sachs. OVG, Urt. v. 23.08.2006 - A 1 B 58/06 - AuAS 2007, 5; OVG Münster, Beschl. v. 21.03.2007 - 20 A 5164/04.A - in juris; a. A. OVG RP, Urteil v. 06.05.2008 - 6 A 10949/08.OVG - AuAS 2008, 188) - die Auffassung vertreten, dass ein gesunder, junger, alleinstehender und männlicher Afghane im Falle seiner Rückkehr in sein Heimatland unter Berücksichtigung des hier einschlägigen Maßstabs keiner erheblichen konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausgesetzt sein wird. Das vorliegende Verfahren gibt angesichts der besonderen Umstände dieses Einzelfalles keinen Anlass, die aktuelle Entwicklung in Afghanistan grundlegend neu zu bewerten und von dieser Rechtsprechung abzuweichen.

Beim Kläger liegen nämlich Umstände vor, die auf eine extreme Gefahrenlage schließen lassen, bei der nach der o.g. Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch bei Fehlen eines solchen Abschiebestopps im Einzelfall von einer Abschiebung abzusehen ist. Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts ist eine in dieser Weise relevante Gefahrenlage auch beim Kläger gegeben, da er neben den Frauen, Minderjährigen, alten und kranken Menschen zu den sonstigen unfreiwilligen Rückkehrern zu zählen ist, die aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalles angesichts der katastrophalen Versorgungsverhältnisse im Großraum Kabul nicht in der Lage sein werden, sich das für ein Überleben unabdingbar Notwendige zu beschaffen.

Der Kläger ist im Iran bei seiner iranischen Mutter im dortigen Kulturkreis aufgewachsen. Bis zu seiner Einreise in Deutschland wurde sein gesamtes Leben von den dortigen Verhältnissen geprägt. Im Falle seiner Einreise nach Afghanistan wird er sich nicht in die dortigen Gegebenheiten einfügen können und im Falle seines Aufenthalts in Afghanistan dort als Ausländer angesehen werden. Er wird wegen seiner Sprache und seiner Unkenntnis der heimischen Traditionen auffallen und dann wegen seines Herkommens aus Deutschland mit einem Europäer gleichgesetzt werden. Er wird dann einer vergleichbaren Gefährdung ausgesetzt sein.

Hinzu tritt, dass der Kläger im Falle seines Aufenthalts in Afghanistan auf keinerlei Rückhalt in familiären Strukturen zurückgreifen könnte. Die Familie aus mütterlicher Linie hält sich im Iran auf, die aus väterlicher Linie ist dem Kläger - wie aus dem Erbstreit und den damit verbundenen Auseinandersetzungen hierzu ersichtlich - feindlich gesonnen. [...]