[...]
Der Kläger hat einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter und auf die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG. [...]
Der Kläger ist vorverfolgt, da er im Zeitpunkt seiner Ausreise von politischer Verfolgung unmittelbar bedroht war (vgl. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83 (EG) des Rates vom 29. April 2004, ABl. L 304 vom 30. September 2004). Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht fest, dass sein Vater sich in Haiti als Oppositionspolitiker engagiert hat und das sowohl sein Vater als auch seine Geschwister ... und ... deswegen Opfer von Übergriffen geworden waren. Vor diesem Hintergrund erscheint es als reiner Zufall, dass der Kläger bis zum Zeitpunkt seiner Ausreise im September 2003 noch nicht selbst Opfer von Verfolgungsmaßnahmen geworden war.
Die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 13. August 2008 beweist, dass der Vater des Klägers Pastor in ..., Stadtteil ... war, wie er dies auch beim Bundesamt angegeben hatte. Sie beweist ferner, dass der Vater - wie er es beim Bundesamt angegeben hatte - bei den Senatswahlen im Jahre 2000 erfolglos als unabhängiger Kandidat im Departement ... kandidiert hat. Und schließlich beweist die Auskunft auch, dass Pastor ... - wie von ihm gegenüber dem Bundesamt dargelegt - in seiner Kirche angeschossen wurde. Es gibt - gerade auch unter Berücksichtigung der Erkenntnislage zu den damaligen Zuständen in Haiti - keinen stichhaltigen Grund für die Annahme, dass dieser Überfall einen anderen Hintergrund hatte als den vom Kläger und seinen Eltern behaupteten politischen. Politische Gewalt gegen Regierungskritiker war damals in Haiti an der Tagesordnung (vgl. die ausführliche Schilderung der Geschehnisse in Haiti im Jahre 2001 bei ai, Jahresbericht 2002, Haiti).
An diesen durch die Auskunft des Auswärtigen Amtes bewiesenen Sachverhalt anknüpfend ist es ferner glaubhaft, dass im Juni 2002 zwei Geschwister des Klägers, ... und ..., wegen des politischen Engagements des Vaters auf dem Nachhauseweg von der Schule entführt wurden. Die Einschüchterung bzw. "Bestrafung" von Kritikern durch Angriffe auf ihre Familienangehörigen ist nach der Erfahrung des Einzelrichters ein in vielen Staaten der so genannten "Dritten Welt" verbreitetes Phänomen. [...]
Für einen vorverfolgt ausgereisten Ausländer gilt nicht der Maßstab der "beachtlichen Wahrscheinlichkeit" politischer Verfolgung. Vielmehr gilt er nur dann als nicht (mehr) politisch verfolgt, wenn feststeht, dass er bei einer Rückkehr in den Heimatstaat vor erneuter Verfolgung "hinreichend sicher" ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 -1 BvR 147/80 BVerfGE 54, 341 ff.; Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86 -, BVerfGE 80, 315 ff.; BVerwG, Urteil vom 18. Februar 1997 - 9 C 9/96 -, BVerwGE 104, 97 ff.; Urteil vom 27. April 1982 - 9 C 308/81 -, BVerwGE 65, 250 ff.; Urteil vom 25. September 1984 - 9 C 17/84 -, BVerwGE 70, 169 ff.). [...]
Hier bestehen trotz des Regierungswechsels von 2004 ernsthafte Bedenken, ob der Kläger davor sicher ist, in Haiti wegen des politischen Engagements seines Vaters Opfer von Verfolgung zu werden. Das Auswärtige Amt hat hierzu in seiner Auskunft vom 13. August 2008 ausgeführt, es sei im Einzelfall nicht auszuschließen werden, dass den Familienmitgliedern eines im Ausland verstorbenen Aristide-Gegners auch heute noch Übergriffe durch Aristide-Anhänger drohen. Staatliche Sicherheitskräfte seien nur bedingt in der Lage, davor Schutz zu gewähren. Dies reicht zwar nicht aus, um eine Verfolgungsgefahr mit "beachtlicher Wahrscheinlichkeit" anzunehmen. In Zusammenschau mit den allgemeinen Erkenntnissen über Gewalt in Haiti sowie über die unzureichende Fähigkeit der Sicherheitskräfte (vgl. bspw. Auswärtiges Amt, Reisewarnung vom 9. April 2008; US Departement of State, Country Report on Human Rights Practices, 11. März 2008; Freedom House, Report: Haiti (2007); ai, Jahresbericht Haiti 2007) genügt die Auskunft des Auswärtigen Amt aber, um beim Einzelrichter "ernsthafte Bedenken" an der Sicherheit des Klägers zu wecken.
Der für die Anwendung des herabgesetzten Wahrscheinlichkeitsmaßstabs erforderliche innere Zusammenhang zwischen der Vorverfolgung und den bei Rückkehr drohenden Verfolgungsmaßnahmen (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. September 1984 - 9 C 17/84 -, BVerwGE 70, 169 ff.; Urteil vom 27. April 1982 - 9 C 308/81 -, BVerwGE 65, 250 ff.; Urteil vom 18. Februar 1997 - 9 C 9/96 BVerwGE 104, 97 ff.) ist hier ebenfalls noch gegeben. Dieser Zusammenhang ist nur aufgehoben, wenn die geltend gemachte Furcht vor Verfolgung keinerlei Verknüpfung mehr zu der früher erlittenen Verfolgung aufweist. Der herabgestufte Prognosemaßstab kann dagegen nicht mit der Erwägung ausgeschlossen werden, dass zukünftige Verfolgungsmaßnahmen unter anderen Umständen und an anderen Orten erfolgen oder dass sie nach der Art, wie die vom gleichen Angriffswillen bestimmten Verfolger hierbei vorgehen, ein anderes Erscheinungsbild tragen (BVerwG, Urteil vom 18. Februar 1997 - 9 C 9/96 -, BVerwGE 104, 97 ff.). Hier würden die möglichen Racheakte von Anhängern des Ex-Präsidenten Aristide an denselben Umstand anknüpfen wie die Vorverfolgung, nämlich an das politische Engagement des Vaters gegen Aristide.
Dass die Verfolger nach dem Regierungswechsel von 2004 nicht mehr staatliche Akteure sind, sondern privat handeln, steht der Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht entgegen. § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c) AufenthG erfasst ausdrücklich auch Fälle nichtstaatlicher Verfolgung, wenn der Staat - wie hier - zum Schutz nicht in der Lage ist. Eine innerstaatliche Fluchtalternative steht dem Kläger ebenfalls nicht offen. Das Auswärtige Amt schildert in seiner Auskunft vom 13. August 2008 zwar, dass in der Provinz die Sicherheitslage besser sei als in den großen Städten. Es stellt aber nicht fest, dass dort abweichend von seiner vorangegangenen Aussage ein effektiver Schutz durch den Staat gegeben sei. In der Reisewarnung vom 9. April 2008 weist es dagegen ausdrücklich darauf hin, dass auch außerhalb der Hauptstadt und in vormals sicheren Gebieten mit gewaltsamen Übergriffen gerechnet werden müsse; die Polizei sei kein zuverlässiger Beschützer.
Ob die Voraussetzungen des § 27 AsylVfG vorliegen kann hier offen bleiben, da diese Vorschrift schon ihrem eindeutigen Wortlaut nach nur die Anerkennung als Asylberechtigter ausschließt, nicht aber - wie vom Prozessvertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung angedeutet - auch die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG. Rechtsprechung oder Literatur, die seine Auffassung stützen, hat der Vertreter der Beklagten nicht benannt; auch der Einzelrichter vermochte solches nicht aufzufinden. Im Übrigen ist festzustellen, dass der Kläger Haiti am 5. September 2003 verlassen und am 17. September 2003 in Deutschland Asyl beantragt hat. Er hat die seinem Asylbegehren zugrunde liegende Flucht aus Haiti also nicht nach § 27 Abs. 1, 3 AsylVfG durch einen mehr als dreimonatigen Aufenthalt in der Dominikanischen Republik unterbrochen (zur "Fluchtbeendigung" als ungeschriebene Voraussetzungen einer Anwendung des § 27 AsylVfG vgl. Marx, AsylVfG, 6. Aufl., § 27 Rn. 27 f.). Auf den längeren Aufenthalt in der Dominikanischen Republik vor dieser Flucht dürfte es nicht ankommen. Ein längerer Aufenthalt in einem Drittstaat vor der letzten Flucht aus dem Heimatland mag eine frühere Flucht beendet haben. Er kann aber selbstverständlich nicht die Flucht beenden, um die es nun geht, denn er hat ja vor deren Beginn stattgefunden. [...]