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VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 16.12.2008 - 5 A 277/08 - asyl.net: M14840
https://www.asyl.net/rsdb/M14840
Leitsatz:

Für kurdische Volkszugehörige, die im Zusammenhang mit der Unterstützung der PKK in das Blickfeld der türkischen Sicherheitskräfte geraten sind, kann eine grundlegende dauerhafte Veränderung des politischen Systems in der Türkei nicht angenommen werden, so dass eine politische Verfolgung nicht generell mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Änderung der Sachlage, Unterstützung, PKK, Menschenrechtslage, Reformen, Antiterrorismusgesetz
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Für kurdische Volkszugehörige, die im Zusammenhang mit der Unterstützung der PKK in das Blickfeld der türkischen Sicherheitskräfte geraten sind, kann eine grundlegende dauerhafte Veränderung des politischen Systems in der Türkei nicht angenommen werden, so dass eine politische Verfolgung nicht generell mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann.

(Amtlicher Leitsatz)

 

[...]

Die angefochtene Widerrufsverfügung ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. [...]

Hinsichtlich der Situation von Kurden, die aufgrund eines prokurdischen Engagements in der Türkei in den Verdacht der Unterstützung einer illegalen kurdischen Organisation geraten sind und zur Menschenrechtslage nach Einleitung des Reformprozesses in der Türkei hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht grundlegend (U. v. 18.07.2006 – 11 LB 75/06 –, www.dbovg.niedersachsen.de) festgestellt, dass auch nach der Einleitung bzw. Durchführung des Reformprozesses und der Neufassung der Vorschriften des Anti-Terror-Gesetzes weiterhin im Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine politische Verfolgung angenommen werden muss. Zwar würden auch von den Menschenrechtsorganisationen die Erfolge dieser Reformpolitik, die auf Demokratisierung und Stärkung der Rechtsstaatlichkeit setze, grundsätzlich anerkannt. Allerdings gehe die Umsetzung einiger Reformen langsamer als erwartet voran. Der erforderliche Mentalitätswandel habe noch nicht alle Teile der türkischen Sicherheitskräfte, der Verwaltung und der Justiz vollständig erfasst. Dies führe dazu, dass die Menschenrechtspraxis nach wie vor hinter den - wesentlich verbesserten – rechtlichen Rahmenbedingungen zurück bleibe. Die Bekämpfung von Folter und Misshandlung sowie ihre lückenlose Strafverfolgung seien noch nicht in der Weise zum Erfolg gelangt, dass solche Fälle überhaupt nicht mehr vorkommen. Ungünstig auf die innenpolitische Entwicklung wirke sich auch das Wiederaufflammen der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den staatlichen Sicherheitskräften im Südosten der Türkei aus. Hierzu gebe es Informationen über gewaltsame Auseinandersetzungen und eine große Anzahl von Festnahmen. Die Unruhen weiteten sich auf die Städte im Westen der Türkei aus. Es gebe weiterhin Festnahmen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur PKK. Aufgrund der neu gefassten Vorschriften des Anti-Terrorgesetzes bestehe die Gefahr, dass die strafrechtliche Verfolgung von Personen, die Sympathie für die kurdische Sache äußern, künftig erleichtert würde. Darüber hinaus könnten Angeklagte in der Türkei, die eines politischen Delikts beschuldigt werden, nach Gutachtenlage auch weiterhin nicht mit einem fairen Strafverfahren rechnen.

Diesen Feststellungen hat sich das erkennende Gericht in ständiger Rechtsprechung (beginnend mit Urteil vom 24.10.2006 – 5 A 490/03 –) angeschlossen. Sowohl auf der Grundlage der aktuellen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte als auch des aktuellen Lageberichts des Auswärtigen Amtes und allgemein zugänglicher Zeitungsberichte stellt das erkennende Gericht ausdrücklich fest, dass die beschriebene Lage sich nicht verbessert, sondern verschärft hat.

In der tatsächlichen Umsetzung der Reformen bestehen erhebliche Defizite. Es kommt weiterhin zu Folter und Misshandlungen durch staatliche Kräfte, insbesondere in den ersten Tagen des Polizeigewahrsams. Im Jahre 2007 wurde im Vergleich zum Vorjahr ein erheblicher Anstieg der gemeldeten Fälle von Folter und Misshandlungen festgestellt. Vornehmlich wegen der nicht ausreichend effizienten Strafverfolgung von Foltertätern ist es nicht gelungen Folter und Misshandlungen vollständig zu unterbinden. Über den Umfang der darüber hinaus gehenden inoffiziellen Gewahrsamnahmen mit Misshandlungen und Folter durch Zivilisten und Sicherheitskräfte in Zivil liegen derzeit keine zuverlässigen Erkenntnisse vor. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen finden Misshandlungen aber oft nicht mehr in Polizeistationen sondern an anderen Orten statt. Es werden dabei Formen unsichtbar bleibender Misshandlungen, wie etwa Elektroschocks, angewandt (vgl. zum Ganzen: Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008, S. 24 ff.; VG Göttingen, U. v. 12.11.2008 - 1 A 392/06 -, www.dbovg.niedersachsen.de, m.w.N.; VG Stuttgart, U. v. 14.01.2008 - A 11 K 4866/07 -, juris).

Mit dem Wiederaufflammen der bewaffneten Auseinandersetzung zwischen der PKK und den staatlichen Sicherheitskräften ist es zu einem Anstieg von Menschenrechtsverletzungen sowie von Übergriffen der Sicherheitskräfte gekommen und auch der Ruf nach "einschneidenden Maßnahmen" zur Terrorbekämpfung ist lauter geworden (vgl. VG Gelsenkirchen, U. v. 15.08.2008 - 14 a K 2476/08.A -, juris, m.w.N.). In den letzten Jahren verübt die PKK regelmäßig Bombenanschläge, die zu einer großen Anzahl von Opfern geführt haben. Seit Dezember 2007 unternimmt das türkische Militär grenzüberschreitende Militäroperationen gegen PKK-Stellungen im Nordirak. Der türkische Generalstab hat zudem mehre Gebiete in den Provinzen Siirt, Sirnak, Mardin und Hakkari zu zeitweiligen Sicherheitszonen und militärischen Sperrgebieten erklärt, die einer strengen Kontrolle unterliegen (vgl. VG Göttingen, U. v. 12.11.2008, aaO, m.w.N.). Insbesondere nach einem Angriff von PKK-Kämpfern auf einen türkischen Grenzposten mit 38 Toten hat sich die Situation seit Anfang Oktober 2008 weiter verschärft. Von der türkischen Regierung wurde darauf die Vernichtung der PKK als wichtigstes Ziel ausgerufen, und die türkische Armee forderte freie Hand gegen die PKK (vgl. VG Ansbach, U. v. 16.10.2008 - AN 1 K 08.30318 -, juris, m.w.N.).

Für kurdische Volkszugehörige, die, wie der Kläger, im Zusammenhang mit der Unterstützung der PKK in das Blickfeld der türkischen Sicherheitskräfte geraten sind, kann eine grundlegende dauerhafte Veränderung des politischen Systems, wie sie nach dem oben Gesagten Voraussetzung für den Widerruf nach § 73 AsylVfG i.V.m. Art 1 C Ziff. 5 GFK ist, in der Türkei daher nicht angenommen werden, so dass eine politische Verfolgung nicht generell mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann (vgl. VG Göttingen, U. v. 12.11.2008, aaO; VG Lüneburg, U. v. 07.05.2008 - 2 A 55/08; VG Hannover, U. v. 30.01.2008 - 1 A 7832/05 -; VG Oldenburg, U. v. 04.10.2007 - 5 A 4386/06 -, www.dbovg.niedersachsen.de; VG Stuttgart, U. v. 14.01.2008, aaO). [...]