OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 20.01.2009 - 10 ME 442/08 - asyl.net: M14837
https://www.asyl.net/rsdb/M14837
Leitsatz:

Tatsächlicher Schulbesuch gem. § 104 a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG muss für den gesamten Zeitraum zwischen Beginn und Ende des schulpflichtigen Alters nachgewiesen werden; tatsächlicher Schulbesuch kann nur angenommen werden, wenn das Kind während eines Schuljahres allenfalls an wenigen Tagen unentschuldigt dem Unterricht ferngeblieben ist.

 

Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Altfallregelung, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Schulbesuch, Erlasslage, Selbstbindung der Verwaltung, Täuschung, Falschangaben, Volkszugehörigkeit, Roma, Kosovo, Abschiebungsstopp, Abschiebungshindernis, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse
Normen: VwGO § 123 Abs. 1; AufenthG § 104a Abs. 1 S. 1 Nr. 3; AufenthG § 104a Abs. 1 S. 1 Nr. 4; AufenthG § 60a Abs. 2
Auszüge:

Tatsächlicher Schulbesuch gem. § 104 a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG muss für den gesamten Zeitraum zwischen Beginn und Ende des schulpflichtigen Alters nachgewiesen werden; tatsächlicher Schulbesuch kann nur angenommen werden, wenn das Kind während eines Schuljahres allenfalls an wenigen Tagen unentschuldigt dem Unterricht ferngeblieben ist.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die nach § 146 Abs. 1 VwGO statthafte Beschwerde der Antragstellerinnen hat keinen Erfolg.

Die von den Antragstellerinnen innerhalb der Begründungsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO dargelegten Gründe, auf deren Überprüfung sich die Entscheidung des Senats zu beschränken hat (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigen es nicht, unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, sie bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu dulden. [...]

Zu Recht hat das Verwaltungsgericht zunächst den erforderlichen Nachweis über den tatsächlichen Schulbesuch der Antragstellerin zu 2. als nicht erbracht angesehen. Diesem bildungsbezogenen Integrationskriterium wird nicht schon dann genügt, wenn allein der aktuelle Schulbesuch nachgewiesen wird. Vielmehr ist die nachhaltige Erfüllung der Schulpflicht Voraussetzung für eine Erfolg versprechende sprachliche und soziale Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse. Dementsprechend muss der Schulbesuch für den gesamten Zeitraum zwischen Beginn und Ende des schulpflichtigen Alters durch Zeugnisvorlage oder Bescheinigungen der Schulen nachgewiesen werden. Ein tatsächlicher Schulbesuch kann zudem nur dann angenommen werden, wenn das schulpflichtige Kind während eines Schuljahres allenfalls an einzelnen, wenigen Tagen unentschuldigt dem Schulunterricht ferngeblieben ist (vgl. Senatsbeschluss vom 2. Januar 2008 - 10 PA 261/07 -, n.v.). Nach Maßgabe dessen ist die Antragstellerin zu 2. ihrer Schulpflicht in den vergangenen Schuljahren nicht regelmäßig nachgekommen. Abgesehen vom ersten Schuljahr in den Jahren 2003/2004 hat die Antragstellerin zu 2. in jedem der nachfolgenden Schuljahre erhebliche unentschuldigte Fehlzeiten vorzuweisen. So hat sie im Schuljahr 2004/2005 an 13 Tagen, im Schuljahr 2005/2006 an 24 Tagen, im Schuljahr 2006/2007 an 17 Tagen im Schuljahr 2007/2008 an 18 Tagen den Schulunterricht unentschuldigt versäumt. Trotz der Aufforderung in dem Schulzeugnis vom 30. Januar 2008 haben sich die unentschuldigten Fehlzeiten mit 12 Fehltagen im 2. Halbjahr des Schuljahres 2007/2008 nicht verringert. Zudem deuten die beschriebenen Fehlzeiten darauf hin, dass sie sich auf das Arbeits- und Sozialverhalten der Antragstellerin zu 2. bereits nachteilig ausgewirkt haben. So wird in den letzten beiden Zeugnissen festgehalten, dass das Arbeits- und Sozialverhalten nicht mehr den Erwartungen entspricht. [...]

Im Hinblick auf diese Erteilungsvoraussetzung machen die Antragstellerinnen weiter geltend, das Verwaltungsgericht habe sich über die Vorläufigen Niedersächsischen Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz hinweggesetzt, obwohl damit eine Selbstbindung der Verwaltung eingetreten sei. Nach diesen Verwaltungsvorschriften könne von einer fehlenden Erfüllung der Schulpflicht auf Grund von Fehlzeiten erst dann ausgegangen werden, wenn das schulpflichtige Kind mehr als ein Drittel der Schultage unentschuldigt gefehlt habe. Auch dieses Vorbringen rechtfertigt eine andere Entscheidung nicht.

Zunächst bindet die genannte Verwaltungsvorschrift hinsichtlich der Auslegung der gesetzlichen Voraussetzungen das Gericht nicht. Zudem ist nicht davon auszugehen, dass diese Verwaltungsvorschrift eine abschließende Bestimmung trifft, unter denen ein tatsächlicher Schulbesuch als nicht nachgewiesen gilt. Die Vorschrift erfasst lediglich den Fall besonders zahlreicher Fehltage innerhalb eines Schulhalbjahres. Nach dem beschriebenen Zweck des § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG kann jedoch nicht darauf abgestellt werden, ob die Schulpflicht in einem bestimmten Schuljahr erfüllt worden ist. Vielmehr muss das schulpflichtige Kind sowohl in den vergangenen Schuljahren als auch in dem laufenden Schuljahr seiner Schulpflicht genügt haben. Unter welchen Voraussetzungen kontinuierliche Fehlzeiten in der Schule über mehrere Schuljahre ebenfalls der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG entgegenstehen können, wird in den Verwaltungsvorschriften hingegen nicht näher beschrieben.

Weiter ist das Verwaltungsgericht im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass die Antragstellerin zu 1. die Ausländerbehörde über aufenthaltsrechtlich relevante Umstände getäuscht hat. [...]

Eine Täuschung im Sinne des § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 1. Alt. AufenthG kann insbesondere darin gesehen werden, wenn der Ausländer vorsätzlich falsche Angaben über seine Identität einschließlich seiner Volkszugehörigkeit oder über das Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft gemacht hat. [...] Die Antragstellerin zu 1. und ihr damaliger Ehemann haben jeweils gegenüber der damals zuständigen Ausländerbehörde der Stadt G. am 22. Januar 1992 erklärt, sie und ihre Kinder seien albanische Volkszugehörige. Erst im April 2001 haben die Antragstellerinnen gegenüber dem Antragsgegner angegeben, sie seien tatsächlich Angehörige der Volksgruppe der Roma. Unter dem 24. April 2001 haben die Antragstellerin zu 1. und ihr geschiedener Ehemann ausdrücklich eingeräumt, sie hätten über ihre Volkszugehörigkeit getäuscht, weil sie ansonsten ihre sofortige Rückführung in ihr Heimatland befürchtet hätten. Dass der Antragsgegner diesen gesetzlichen Versagungsgrund in dem angefochtenen Bescheid vom 2. Mai 2008 nicht angeführt hat, ist rechtlich ohne Belang; er steht der mit der Klage begehrten Verpflichtung des Antragsgegners auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG entgegen. [...]

Entgegen dem Beschwerdevorbringen ist die Abschiebung der Antragstellerinnen auch nicht wegen ihrer behaupteten Zugehörigkeit zur Gruppe der Roma aus dem Kosovo unmöglich im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Insoweit machen die Antragstellerinnen geltend, der Antragsgegner habe sich über die geltende Erlasslage zum Abschiebestopp für Angehörige der Gruppe der Roma hinweggesetzt. Auch der 8. Senat des erkennenden Gerichts gehe in seiner Entscheidung vom 24. Oktober 2005 (8 LA 123/05) davon aus, dass auf Grund der besonderen Probleme, die die UNMIK mit der Integration von Angehörigen der Roma in das mehrheitlich albanisch besiedelte Kosovo habe, gegenwärtig eine Duldung auszusprechen sei. Dies entspreche der Erlasslage. Unabhängig von der Frage, ob ihnen eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104a AufenthG zu erteilen sei, hätte das Verwaltungsgericht erkennen müssen, dass wegen der Zugehörigkeit zur Gruppe der Roma zumindest eine Duldung hätte erteilt werden müssen. Dieser Einwand geht fehl.

Zutreffend ist zwar, dass ohne eine zustimmende Erklärung des Ministeriums für innere Angelegenheiten der Republik Kosovo (MoIA) eine zwangsweise Rückführung von Angehörigen der Volksgruppe der Roma in den Kosovo nicht möglich ist und dass auf Grund der derzeit in Niedersachsen geltenden Erlasslage (vgl. Erlass des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres, Sport und Integration vom 24. Oktober 2008) vom Versuch einer Abschiebung dieser Personen abgesehen wird, wenn eine zustimmende Erklärung der MoIA zur Rückführung nicht vorliegt. Soweit nach früheren Erlassen Minderheitenangehörigen aus dem Kosovo Duldungen zu erteilen gewesen sind, ist hierdurch allerdings allein der Tatsache Rechnung getragen worden, dass die Abschiebung in solchen Fällen tatsächlich unmöglich gewesen ist, weil die Betroffenen weder in den Kosovo - mangels der erforderlichen Zustimmung - noch nach Serbien und Montenegro abgeschoben werden konnten. Jedoch kann weiterhin nicht davon ausgegangen werden, dass die Abschiebung von Minderheitsangehörigen aus dem Kosovo wegen der dortigen schwierigen humanitären Verhältnisse und damit gegebenenfalls wegen des Vorliegens eines zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses ausgesetzt worden ist (Nds. OVG, Urteil vom 17. April 2007 - 10 LC 262/05 -, juris; Beschluss vom 26. April 2007 - 10 LA 149/06 -, n.v.; Beschluss vom 24. Oktober 2005 - 8 LA 123/05 -, ZAR 2006, 31). Im Übrigen vermag das der Rückführungspraxis in den Kosovo zugrunde liegende Verwaltungsabkommen (Readmission Policy) Schutzansprüche von Angehörigen ethnischer Minderheiten aus dem Kosovo gegenüber deutschen Behörden nicht zu begründen (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 14. Juli 2008 - 8 ME 39/08 -, AuAS 2008, 231). [...]