SG Münster

Merkliste
Zitieren als:
SG Münster, Urteil vom 20.10.2008 - S 2 SB 244/07 - asyl.net: M14807
https://www.asyl.net/rsdb/M14807
Leitsatz:

Ausländer mit Duldung haben gem. § 3 Abs. 3 S. 2 SGB I ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland, wenn auf absehbare Zeit nicht mit einem Wegfall des Abschiebungshindernisses zu rechnen ist (hier: aussichtslose Bemühungen um Heimreisedokumente).

 

Schlagwörter: D (A), Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen, Grad der Behinderung, gewöhnlicher Aufenthalt, Duldung, Zukunftsprognose, Passlosigkeit, Passbeschaffung, Passersatzbeschaffung, China, Chinesen
Normen: SGB IX § 2 Abs. 2; SGB I § 30 Abs. 3 S. 2
Auszüge:

Ausländer mit Duldung haben gem. § 3 Abs. 3 S. 2 SGB I ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland, wenn auf absehbare Zeit nicht mit einem Wegfall des Abschiebungshindernisses zu rechnen ist (hier: aussichtslose Bemühungen um Heimreisedokumente).

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die statthafte, form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig und begründet. Die mit der Klage angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig. Der Beklagte ist verpflichtet, den für die Klägerin maßgeblichen GdB ab Antragstellung mit 50 festzustellen. [...]

Der Beklagte ist auch verpflichtet, den GdB in dieser Höhe durch Bescheid festzustellen. Nach § 2 Abs. 2 SGB IX ist hierfür Voraussetzung, dass die Klägerin ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzes hat. Dies ist der Fall. Nach § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 01.09.1999, Az.: 9 SB 1.99 R) kann der Begriff des gewöhnlichen Aufenthaltes nur hinreichend unter Berücksichtigung des Zwecks des jeweils maßgeblichen Gesetzes bestimmt werden. Insbesondere die Frage, wann ein Ausländer seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, kann deshalb für den Bereich verschiedener Sozialgesetze unterschiedlich beantwortet werden. Ein Ausländer hält sich regelmäßig nicht gewöhnlich im Bundesgebiet auf, wenn sein Aufenthalt hier nur gestattet oder geduldet ist. Ein nicht nur vorübergehendes Verweilen liegt bei geduldeten Ausländern jedoch dann vor, wenn andere Umstände ergeben, dass sie sich gleichwohl auf unbestimmte Zeit in Deutschland aufhalten werden (BSG, a.a.O).

Die Klägerin hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet. Sie hat zunächst im Bundesgebiet den Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen, da ihr Ehemann und das in Deutschland geborene Kind hier leben. Nach Auffassung der Kammer ist davon auszugehen, dass die Klägerin sich trotz ihres aufenthaltsrechtlichen Status gleichwohl auf unbestimmte Zeit in Deutschland aufhalten wird. Für die Beurteilung dieser Frage kann nicht ausschließlich darauf abgestellt werden, aufgrund welcher Bestimmung des Aufenthaltsgesetzes der Aufenthalt im Bundesgebiet geduldet wird. Voraussetzung für die der Klägerin nach § 60a Abs. 2 Aufenthaltsgesetz erteilte Duldung ist, dass die Abschiebung der Klägerin aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Die Abschiebung der Klägerin ist augenblicklich wegen fehlender Heimreisedokumente, die vom Heimatstaat der Klägerin erstellt werden müssen, unmöglich. Eine ähnliche Fallgestaltung regelt auch § 25 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dieser Bestimmung kommt ebenfalls nur für solche Ausländer in Betracht, die vollziehbar ausreisepflichtig sind, wenn ihre Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Sowohl die Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz als auch die Duldung nach § 60a Abs. 2 Aufenthaltsgesetz betrifft den Personenkreis der Ausländer, der ausreisepflichtig ist. Angesichts dieses Umstands kann nicht für die Beurteilung des gewöhnlichen Aufenthalts allein auf den jeweiligen Aufenthaltstitel abgestellt werden, da dieser allein nichts darüber aussagt, ob der betreffende Ausländer sich im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs auf unbestimmte Zeit in Deutschland aufhalten wird. Vielmehr ist diese Voraussetzung anhand der Gründe, die die Abschiebung unmöglich machen, zu beurteilen. Im Rahmen einer Prognoseentscheidung ist dabei zu klären, ob die einer Abschiebung entgegenstehenden Gründe noch auf unbestimmte Zeit bestehen werden Die Abschiebung der Klägerin wird durch die fehlenden Heimreisedokumente augenblicklich ausgeschlossen. Die Bemühungen der Ausländerbehörde um diese Dokumente laufen seit fast 2 Jahren. Auf das an die chinesischen Behörden im November gerichtete Ersuchen um Ausstellung von Heimreisedokumente haben diese bisher nicht reagiert. Mit einer Reaktion in absehbarer Zeit ist nach Auffassung der Kammer auch nicht zu rechnen. Dies rechtfertigt die Annahme, dass die Klägerin sich trotz der erteilten Duldung noch auf unbestimmte Zeit im Bundesgebiet aufhalten wird und damit hier ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. [...]