VG Regensburg

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Zitieren als:
VG Regensburg, Beschluss vom 10.12.2008 - RO 9 K 08.30142 - asyl.net: M14774
https://www.asyl.net/rsdb/M14774
Leitsatz:
Schlagwörter: Russland, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Anerkennungsrichtlinie, Situation bei Rückkehr, Tschetschenen, Tschetschenien
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4
Auszüge:

[...]

Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung durch eine der in § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG genannten Kräfte bedroht ist. [...]

Die erforderliche Gefahrenwahrscheinlichkeit hängt nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Rechtslage vor Inkrafttreten der Qualifikationsrichtlinie davon ab, ob der Schutz suchende Ausländer seinen Herkunftsstaat bereits auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat oder ob er unverfolgt ausgereist ist. War er noch keiner asylrechtlich beachtlichen Bedrohung ausgesetzt, kommt es bei der anzustellenden Prognose darauf an, ob ihm bei verständiger Würdigung aller Umstände seines Falles politische Verfolgung mit "beachtlicher" Wahrscheinlichkeit droht. Wurde ein Ausländer demgegenüber bereits im Herkunftsland politisch verfolgt, greift zu seinen Gunsten ein herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Er muss vor erneuter Verfolgung "hinreichend sicher" sein. Dies setzt mehr als nur überwiegende Wahrscheinlichkeit voraus, dass es im Heimatstaat zu keinen Verfolgungsmaßnahmen kommen wird. Dieser herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist auch bei solchen Ausländern anzuwenden, die persönlich unverfolgt ausgereist sind, jedoch einer Gruppe angehören, deren Mitglieder im Herkunftsstaat zumindest regional kollektiv verfolgt wurden. Das gilt auch dann, wenn diese (regionale) Gefahr als objektiver Nachfluchttatbestand erst nach der Ausreise des Schutzsuchenden auftritt. Denn für den Angehörigen einer solchen Gruppe hat sich das fragliche Land nachträglich als Verfolgerstaat erwiesen. Beschränkt sich die Gruppenverfolgung auf einen Teil des Herkunftslandes, kommt für die gruppenzugehörigen Personen in diesem Staat nur ein Gebiet als inländische Fluchtalternative in Betracht, in dem sie vor Verfolgung "hinreichend sicher" sind (vgl. zum Ganzen BayVGH, Urteil vom 16.06.2008, Az 11 B 07.30185, Urteil vom 17.04.2008, Az 11 B 08.30038, mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung des BVerfG sowie des BVerwG).

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof nimmt an, dass die vorgenannten Grundsätze zum Prognosemaßstab - zumindest im Kern - auch nach der ausdrücklichen Übernahme zahlreicher Normen der Qualifikationsrichtlinie in das deutsche Recht fortgelten. Nach Art. 4 Abs. 4 QRL stelle der Umstand, dass der Schutz suchende Ausländer bereits verfolgt worden sei oder er einen sonstigen ernsthaften Schaden (vgl. Art. 15 QRL) erlitten habe bzw. er von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht worden sei, einen ernsthaften Hinweis darauf dar, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet sei, es sei denn, es sprächen stichhaltige Gründe dagegen, dass der Ausländer erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht werde. Die in Deutschland richterrechtlich entwickelten Grundsätze über den anzuwendenden Prognosemaßstab seien damit im Wesentlichen deckungsgleich (vgl. BayVGH, Urteil vom 17.04.2008, Az 11 B 08.30038; Urteil vom 24.10.2007, Az 11 B 03.30707; ebenso VG Berlin, Urteil vom 12.03.2008, Az 38 X 33.08). Das Bundesverwaltungsgericht hat nunmehr ein Vorabentscheidungsersuchen an den Europäischen Gerichtshof gerichtet, in dem unter anderem die Frage etwaiger Auswirkungen des Art. 4 Abs. 4 QRL auf den Prognosemaßstab aufgeworfen wird (vgl. Beschluss vom 07.02.2008, Az 10 C 33/07). Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof sieht auch im Hinblick auf den vorgenannten Beschluss "keinen wesentlichen Unterschied" zwischen den in der bundesdeutschen Rechtsprechung bislang verwendeten Maßstäben und denjenigen der Qualifikationsrichtlinie (vgl. Urteil vom 16.06.2008, Az 11 B 07.30185; ebenso VG Berlin, Urteil vom 12.03.2008, Az 38 X 33.08). Demgegenüber nehmen andere Obergerichte an, dass der Maßstab der "hinreichenden Sicherheit" bei vorverfolgt ausgereisten Flüchtlingen durch die in Art. 4 Abs. 4 QRL enthaltene Rückausnahme abgelöst wird (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 31.07.2008, Az 2 L 33/06; Urteil vom 31.07.2008, Az 2 L 23/06; HessVGH, Urteil vom 21.02.2008, Az 3 UE 191/07.A; Urteil vom 24.04.2008, Az 3 UE 410/06.A: vgl. auch Huber/Göbel-Zimmermann, Ausländer- und Asylrecht, 2. Auflage, München 2008, Rn. 1686 ff.).

Vorliegend kann eine Entscheidung zwischen der in der Rechtsprechung entwickelten und der von der Qualifikationsrichtlinie vorgegebenen Terminologie dahinstehen. Offen bleiben kann ferner, ob der Kläger individuell oder als Teil einer Gruppe vorverfolgt ist. Denn er muss auch bei Anwendung des Maßstabs des Art. 4 Abs. 4 QRL nicht befürchten, Verfolgung im Sinne von § 60 AufenthG beziehungsweise Art. 9 f. QRL zu erleiden. Für Rückkehrer ohne Bezug zu dem Maschadow-Regime beziehungsweise zu den tschetschenischen Rebellen sprechen stichhaltige Gründe im Sinne von Art. 4 Abs. 4 QRL dagegen, dass diese von asylerheblichen Verfolgungsmaßnahmen bedroht sein werden (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 31.07.2008, Az 2 L 33/06; Urteil vom 31.07.2008, Az 2 L 23/06; HessVGH, Urteil vom 21.02.2008, Az 3 UE 191/07.A; Urteil vom 24.04.2008, Az 3 UE 410/06.A; Schleswig-Holsteinisches VG, Urteil vom 28.02.2008, Az 12 A 340/05; vgl. auch BayVGH, Urteil vom 16.06.2008, Az 11 B 07.30185, der in Ermangelung einer Verfolgung im zu entscheidenden Fall die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Rückkehrgefährdung ablehnte). [...]