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OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 17.11.2008 - 11 A 4395/04.A - asyl.net: M14755
https://www.asyl.net/rsdb/M14755
Leitsatz:

Armenischen Volkszugehörigen aus Aserbaidschan, insbesondere arbeitsfähigen Männern, steht eine inländische Fluchtalternative in Berg-Karabach offen; das gilt auch bei Ehe mit einer aserbaidschanischen Staatsangehörigen.

 

Schlagwörter: Aserbaidschan, Armenier, Mischehe, Wiedereinreiseverweigerung, interne Fluchtalternative, Berg-Karabach, Gebietsgewalt, Erreichbarkeit, Anerkennungsrichtlinie, interner Schutz, praktische Hindernisse, Existenzminimum, Wehrdienstentziehung, Strafverfolgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 2; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 3; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4
Auszüge:

Armenischen Volkszugehörigen aus Aserbaidschan, insbesondere arbeitsfähigen Männern, steht eine inländische Fluchtalternative in Berg-Karabach offen; das gilt auch bei Ehe mit einer aserbaidschanischen Staatsangehörigen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Berufung ist zulässig, hat aber in der Sache keinen Erfolg. Die Klage ist unbegründet.

Nach der gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats haben die Kläger zunächst keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG in der Fassung des Gesetzes vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970). [...]

Es kann offen bleiben, ob die Kläger aserbaidschanische Staatsangehörige sind - für den Kläger kommt auch eine Staatsangehörigkeit Armeniens in Betracht - oder ob sie, als ursprüngliche aserbaidschanische Staatsangehörige, aufgrund einer aus politischen Gründen erfolgten Ausbürgerung staatenlos sind. Bei allen diesen in Betracht kommenden Konstellationen ist auf Aserbaidschan oder Armenien abzustellen, sei es als Staat der Staatsangehörigkeit (Aserbaidschan oder Armenien), sei es als Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthalts (Aserbaidschan) im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylVfG. Da weder in Aserbaidschan noch in Armenien Verfolgung im Sinne der genannten Regelungen droht, braucht die Frage der Staatsangehörigkeit nicht abschließend geklärt zu werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Februar 2005 - 1 C 29.03 -, BVerwGE 122, 376 (383)).

Sollte jeweils aus nicht politischen Gründen eine Staatenlosigkeit eingetreten oder von einer Verweigerung der Wiedereinreise nach Aserbaidschan als Land des ursprünglichen gewöhnlichen Aufenthalts auszugehen sein, hätte das Begehren der Kläger ohnehin keinen Erfolg, weil die Frage einer (drohenden) politischen Verfolgung auf dem Territorium Aserbaidschans dann gegenstandslos wäre (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. Januar 2008 - 10 B 88.07 -, juris, Rn. 7 m.w.N.).

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sind im Falle der Kläger in Bezug auf Aserbaidschan nicht erfüllt, weil ihnen eine inländische Fluchtalternative in Berg-Karabach offen steht. Deshalb bedarf es keiner abschließenden Klärung, ob sie bei Rückkehr nach Kern-Aserbaidschan politische Verfolgung zu befürchten hätten. [...]

Der Senat hat bisher angenommen, dass ethnischen Armeniern aus Aserbaidschan in Berg-Karabach eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht (vgl. hierzu etwa den Beschluss vom 8. März 2004 - 11 A 3273/03.A -, juris).

Unter Zugrundelegung der vorstehend genannten rechtlichen Prämissen und nach Auswertung der aktuell vorliegenden Erkenntnisse sowie der diesbezüglichen Rechtsprechung (vgl. etwa eine Fluchtalternative grundsätzlich bejahend: Hessischer VGH, Beschluss vom 15. September 2005 - 3 UE 2381/04.A -, juris, OVG Thüringen, Urteil vom 18. Oktober 2005 - 2 KO 910/03 -, juris; im Einzelfall verneinend: OVG Thüringen, Urteil vom 28. Februar 2008 - 2 KO 899/03, a.a.O.; generell verneinend: VG Ansbach, Urteil vom 30. April 2008 - AN 15 K 07.30739 -, VG Meiningen, Urteil vom 1. Juli 2008 - 2 K 20022/08 Me - und BayVGH, Beschluss vom 21. Februar 2007 - 9 B 05.30123 -, juris) hält der Senat daran insbesondere für arbeitsfähige männliche Personen fest. Zu diesem Personenkreis zählt der Kläger. Der Senat geht zudem davon aus, dass unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls auch seiner Ehefrau - ungeachtet der insoweit fehlenden armenischen Volkszugehörigkeit - in Berg-Karabach eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht. Eine Klärung der Frage, ob die Kläger vorverfolgt ausgereist sind, ist deshalb nicht erforderlich. Soweit aus einer Vorverfolgung mit Blick auf Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie ein ernsthafter Hinweis darauf folgen könnte, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist, gilt dies hier nicht (vgl. Art. 4 Abs. 4 a.E. der Qualifikationsrichtlinie). Denn es sprechen stichhaltige Gründe dagegen, dass die Kläger (erneut) von Verfolgung bedroht wären, was sich aus den nachfolgenden Ausführungen zum Bestehen einer inländischen Fluchtalternative in der Region Berg-Karabach ergibt.

Zunächst ist Berg-Karabach bezogen auf den hier maßgeblichen Staat Aserbaidschan "Inland". Es ist nach wie vor davon auszugehen, dass Berg-Karabach kein eigenständiger Staat im Sinne des Völkerrechts ist, sondern Teil Aserbaidschans. [...] Allerdings ist noch nicht gesichert, dass diese Staatsgewalt auf Dauer Bestand haben wird. Aserbaidschan und Armenien führen noch regelmäßige Gespräche über die künftige Zuordnung von Berg-Karabach. Armenien möchte Berg-Karabach annektieren und Aserbaidschan beansprucht das Gebiet weiterhin für sich. Berg-Karabach kann sich der "Heimholung" nach Aserbaidschan nur mit Hilfe Armeniens entziehen. Aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass die eigenständige Staatsgewalt Berg-Karabachs noch nicht dauerhaft etabliert und Berg-Karabach noch kein eigener Staat ist. Die "Republik" Berg-Karabach ist deshalb weder von den Vereinten Nationen noch von einem einzelnen Staat, nicht einmal von Armenien, als Staat anerkannt. Da Berg-Karabach weder durch Sezession noch durch Annexion von Armenien aus dem Staatsverband Aserbaidschans ausgeschieden ist, kann Berg-Karabach grundsätzlich noch eine inländische Fluchtalternative für Personen aus Aserbaidschan sein (vgl. BayVGH, Beschluss vom 21. Februar 2007 - 9 B 05.30123 -, a.a.O., Rn. 17 m.w.N., OVG Thüringen, Urteil vom 28. Februar 2008, a.a.O., Rn. 133 f. und die aktuellen Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 17. Juni 2008 zu Aserbaidschan, S. 14, und vom 18. Juni 2008 zu Armenien, S. 18).

Das gleiche Resultat ergibt sich auf der Grundlage der vorgenannten Tatsachen bei einer Betrachtung, die nicht auf die völkerrechtliche Anerkennung, sondern auf den endgültigen (faktischen) Verlust der Gebietsherrschaft abstellt (vgl. dazu allgemein BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 1998 - 9 C 17.98 a.a.O., S. 88; Urteil vom 29. Mai 2008-10 C 11.07-, a.a.O., S. 1252).

Ein solcher endgültiger Verlust der Gebietsherrschaft kann hier nämlich noch nicht festgestellt werden. Dagegen sprechen die aktuellen Bemühungen Russlands, Armeniens und Aserbaidschans um eine Lösung des Berg-Karabach-Konflikts (vgl. FAZ, "Medwedjew vermittelt im Konflikt um Nagornyj Karabach", und NZZ, "Aktive russische Diplomatie im Kaukasus", jeweils vom 3. November 2008).

Berg-Karabach ist für die Kläger auch erreichbar. Erreichbarkeit bedeutet, dass für den Asylbewerber eine praktische und nicht lediglich eine theoretische Möglichkeit besteht, in das Gebiet der Fluchtalternative zu gelangen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. März 2007 - 1 B 97.06 -, Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 32, und Urteil vom 29. Mai 2008 - 10 C 11.07-, a.a.O., S. 1253).

Soweit die Qualifikationsrichtlinie in Art. 8 Abs. 3 bestimmt, dass Abs. 1 des Art. 8 auch dann angewendet werden kann, wenn praktische Hindernisse für eine Rückkehr in das Herkunftsland bestehen, kann dies nicht dahin verstanden werden, dass das Erfordernis der Erreichbarkeit in dem vorgenannten Sinne nicht mehr maßgeblich wäre. Diese Regelung ist vielmehr so zu werten, dass es um Hindernisse geht, die nicht von Dauer sind oder die vom jeweiligen Antragsteller ausgeräumt werden können. Dies betrifft etwa die Konstellation, dass ihm zugemutet wird, sich Einreisepapiere und Genehmigungen zu besorgen, um damit bestimmte Landesteile erreichen zu können (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Mai 2008, a.a.O, S. 1254).

Die Voraussetzung der Erreichbarkeit ist danach hier erfüllt. Ausreichend ist die Möglichkeit der Einreise über Armenien mit einem Einreisevisum und einer speziellen Aufenthaltsgenehmigung für Berg-Karabach, die - einschließlich eines Passersatzes - für armenische Volkszugehörige faktisch bei der armenischen Botschaft in Berlin bei vorhandenem Einreisewillen erlangbar ist (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 26. Oktober 2007 an das VG Stade sowie auch OVG Thüringen, Urteil vom 28. Februar 2008, a.a.O., Rn. 136 ff.).

Anhaltspunkte dafür, dass diese Möglichkeit für den Kläger als Sohn eines armenischen Volkszugehörigen und für seine Ehefrau, die Klägerin, nicht eröffnet oder unzumutbar sein könnte, sind weder substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Es ist auch die weitere Voraussetzung erfüllt, dass für die Kläger im Bereich der inländischen Fluchtalternative - auch nach dem herabgestuften Prognosemaßstab bei unterstellter Vorverfolgung und nach dem Maßstab des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie - grundsätzlich keine begründete Furcht vor Verfolgung besteht. [...]

Eine Ausweichmöglichkeit nach Berg-Karabach scheidet nicht wegen einer etwaigen Gefährdung des wirtschaftlichen Existenzminimums aus. Es ist davon auszugehen, dass die Bereiche der inländischen Fluchtalternative den Klägern das rechtlich ausreichende wirtschaftliche Existenzminimum bieten.

Im Grundsatz bietet ein verfolgungssicherer Ort dem Ausländer das wirtschaftliche Existenzminimum regelmäßig dann, wenn er durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und seiner Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu seinem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen kann. Zu den danach zumutbaren Arbeiten gehören auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern, und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise in der Landwirtschaft oder auf dem Bausektor, ausgeübt werden können (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Februar 2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007, 590 f.).

Nach Auswertung der vorliegenden Erkenntnisse, insbesondere des aktuellen Lageberichtes des Auswärtigen Amtes (Armenien) vom 18. Juni 2008, der Auskünfte des Auswärtigen Amtes vom 6. April 2005 an den Hessischen VGH und vom 15. Januar 2008 an das VG Düsseldorf und der Gutachten des Transkaukasus-Instituts vom 18. Oktober 2005 sowie der Dr. Tessa Savvidis vom 14. Dezember 2005 geht der Senat davon aus, dass jedenfalls auf einem geringen Niveau eine Existenzmöglichkeit für die Kläger angenommen werden kann.

Die wirtschaftliche Lage in Berg-Karabach ist als besser einzuschätzen als in Armenien. Der Lebensstandard entspricht in etwa dem in den unabhängigen Republiken der ehemaligen UdSSR. Es herrscht ein Mangel an Arbeitskräften. Für arbeitsfähige Personen sind die Aussichten, das wirtschaftliche Existenzminimum zu erreichen, deshalb als gut zu beurteilen. Neuankömmlingen wird durch die "Regierung" Berg-Karabachs unentgeltlich Wohnraum zur Verfügung gestellt und sie werden bei der Arbeitssuche unterstützt (vgl. etwa Auswärtiges Amt, Lagebericht Armenien vom 18. Juni 2008 sowie Auskunft vom 15. Januar 2008 an das VG Düsseldorf).

Aufgrund dieser Feststellungen vermag sich der Senat nicht der in der erstinstanzlichen Rechtsprechung teilweise vertretenen Auffassung anzuschließen, die ein wirtschaftliches Existenzminimum in Berg-Karabach für armenisch-stämmige Aserbaidschaner generell als nicht gegeben ansieht (vgl. etwa VG Ansbach, Urteil vom 30. April 2008 - AN 15 K 07.30739 -).

Herrscht nach den vorstehend zitierten Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes in Berg-Karabach Arbeitskräftemangel, ist mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die grundsätzlich arbeitsfähigen Kläger nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten eine Beschäftigung erlangen und ihr Existenzminimum sicherstellen können. Selbst wenn man davon ausginge, dass nur der Kläger eine Arbeitsstelle finden könnte, reichte dies aus, um auch das Existenzminimum der Klägerin sicherzustellen (vgl. dazu Auswärtiges Amt, Auskunft vom 15. Januar 2008 an das VG Düsseldorf).

Ebensowenig besteht eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass für den Kläger aufgrund Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung, Heranziehung zum Militärdienst oder durch Kämpfe bzw. Minen an der Waffenstillstandslinie die tatsächliche Gefahr bestünde, ernsthafte Schäden im Sinne des Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie zu erleiden. [...]