VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 20.11.2008 - 12 A 267/05 - asyl.net: M14754
https://www.asyl.net/rsdb/M14754
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung einer russischen Staatsangehörigen aus Kabardino-Balkarien nach Versuch wahbitischer Kämpfer, sie zu verschleppen und als Selbstmordattentäterin auszubilden.

 

Schlagwörter: Russland, Glaubwürdigkeit, Kabardino-Balkarien, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Wahabiten, Islamisten, Zwangsrekrutierung, Selbstmordattentäter, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, interner Schutz, interne Fluchtalternative, Anerkennungsrichtlinie, Beurteilungszeitpunkt, Entscheidungszeitpunkt, Zukunftsprognose, Verfolgungssicherheit, Existenzminimum, Tschetschenen, Diskriminierung, Übergriffe, Kontrollen, Wohnungsdurchsuchungen, Versorgungslage, Freizügigkeit, Registrierung, Inguschetien, Dagestan, Karbadino-Balkarien, Stawropol, Krasnodar, Wolgaregion, Inlandspass, Zumutbarkeit, Vorverfolgung, zwingende Gründe, Klagefrist, Aufnahmeeinrichtung, Zustellung, Ablehnungsbescheid, Zustellfiktion, Belehrung, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Verschulden
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 2; AsylVfG § 74 Abs. 1; AsylVfG § 10 Abs. 2; AsylVfG § 10 Abs. 7; VwGO § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung einer russischen Staatsangehörigen aus Kabardino-Balkarien nach Versuch wahbitischer Kämpfer, sie zu verschleppen und als Selbstmordattentäterin auszubilden.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Klägerin hat einen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG. [...]

Die Klägerin ist glaubwürdig. [...] Damit steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Klägerin zu 1) nach ihrer nach islamischen Recht erfolgten Heirat mit dem Kläger zu 2) im Oktober 2004 zunächst mit ihren Ehemann bis zum Jahresende zusammengelebt hat. Um die Jahreswende herum ist ihr Bruder in Begleitung wahabitischer Kämpfer erschienen und hat die Klägerin zu 1) gegen den Willen des Klägers und gegen den eigenen Willen der Klägerin mit Gewalt mitgenommen und zu ihren Eltern gebracht. Dabei ist sowohl der Kläger zu 2) als auch die Klägerin zu 1) geschlagen worden. Der Bruder ist ein führender Wahabit gewesen und hat der Klägerin vorgeschrieben, sich als Märtyrerin und Selbstmordattentäterin ausbilden zu lassen. Die Klägerin ist daraufhin auch auf Drängen des Klägers zu 2) gemeinsam mit diesem bei der Miliz gewesen und hat Anzeige gegen den Bruder erstattet. Dies hat zu einer Vorladung geführt, welche jedoch nicht mit Konsequenzen für den Bruder verbunden war. Der Bruder hat die Klägerin zu 1) nach der Vorladung zusammengeschlagen und sie massiv bedroht. Er hat angekündigt, sie in einem Camp zur Märtyrerin ausbilden zu lassen. Die Klägerin hat sich dann bei verschiedenen Verwandten versteckt, zuletzt bei der Schwester ihres Vaters, bis ihr Bruder sie dort ungefähr Anfang Juni 2005 aufgespürt hat.

Unter Zugrundelegung dieses Sachverhalts ist die Klägerin vorverfolgt ausgereist. Die Klägerin ist durch ihren Bruder, einen Wahabitenführer und dessen Gruppierung, körperlich misshandelt und mit der Ausbildung zur Selbstmordattentäterin bedroht worden. Dieser Bedrohung war sie auch bis zum Zeitpunkt ihrer Ausreise ausgeliefert. Eine realistische Chance, die Gefahr durch Anzeige bei der Miliz abzuwenden, bestand für sie nicht. Dies hat die Klägerin einmal versucht, ohne dass es jedoch zu Konsequenzen für ihren Bruder geführt hatte und ohne dass dadurch erreicht werden konnte, dass die körperlichen Angriffe und Drohungen beendet werden konnten. Mithin hängt die Schutzgewährung davon ab, dass nach dem gewonnenen Erkenntnisstand an einer Sicherheit für erneut einsetzende Verfolgung auch nur ernsthafte Zweifel bestehen. Dies ist für den Fall einer Rückkehr nach Kabardino-Balkarien ohne Weiteres zu bejahen. Die Lage in Kabardino-Balkarien hat sich hinsichtlich der Sicherheitslage und der durch Wahabiten drohenden Gefahr nicht derart geändert, dass nunmehr von einer hinreichenden Sicherheit gesprochen werden könnte. Nach Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Moskau an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 16.08.2007 kommt es nach wie vor zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den Sicherheitsorganen und radikalen Muslimen (sogenannten Wahabiten). Sicherheitskreise würden die Anzahl radikaler Islamisten in Kabardino-Balkarien auf mittlerweile über 500 beziffern. Zudem würden die Islamisten nach Kenntnis der Behörden verstärkte Propaganda insbesondere unter jungen Menschen treiben, mit dem Ziel, sie für sich zu rekrutieren. Im Übrigen hat die Deutsche Botschaft auch den vom Kläger zu 2) geschilderten Überfall der Rebellen auf Naltschik am 13.10.2005 bestätigt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge schildert im Lagebericht "Russische Föderation - Tschetschenienkonflikt - November 2007", dass Wahabiten-Anführer in Kabardino-Balkarien, unter anderem auch (diesen Namen hat der Kläger zu 2) im Rahmen seines Vorbringens erwähnt) noch nicht gefasst worden seien. Hieraus ist ohne Weiteres der Schluss zu ziehen, dass die bewaffneten Wahabiten nach wie vor auch in Kabardino-Balkarien aktiv sind und über Einfluss verfügen. Da der Bruder der Klägerin zu den Führern der Wahabiten gehört hat (Leiter des Camps, in dem der Kläger zu 2) gefangen gehalten wurde), kann von einer hinreichenden Sicherheit im Falle einer Rückkehr für die Klägerin zu 1) nicht gesprochen werden.

Das Bestehen einer internen Schutzalternative kann dem Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht entgegen gehalten werden, weil das Bestehen einer internen Schutzalternative unter Würdigung der Einzelfallumstände vorliegend zu verneinen ist (dazu unten).

Grundsätzlich ist allerdings das Bestehen einer internen Schutzalternative in Betracht zu ziehen (vgl. Kammerurteil vom 29. März 2007 , Az. 12 A 181/05). Hinsichtlich russischen Staatsangehörigen, die aus Tschetschenien stammen, hat die Kammer folgendes ausgeführt: [...]

Es spricht vieles dafür, dass eine gleich Beurteilung der Lage auch für russische Staatsangehörige, die aus Kabardino-Balkarien stammen, gerechtfertigt ist.

Im vorliegenden Fall liegen jedoch Umstände vor, die jedenfalls die Annahme einer internen Schutzalternative ausschließen.

Es ist oben bereits ausgeführt worden, dass für den Zumutbarkeitsbegriff als individuelle Faktoren Sprache, Bildung, persönliche Fähigkeiten, vorangegangener Aufenthalt, örtliche und familiäre Bindungen, Geschlecht, Alter, ziviler Status, Lebenserfahrung, soziale Einrichtungen, gesundheitliche Versorgung und verfügbares Vermögen (Marx, aaO, Rdnr. 58) sowie die kumulative Wirkung sämtlicher Besonderheiten Bedeutung erlangen können.

Darüber hinaus können im Einzelfall auch Erkenntnisse über das individuelle Vorverfolgungsschicksal mit einfließen, die es ausnahmsweise trotz vorhandener Verfolgungssicherheit und Sicherung eines wirtschaftlichen Überlebensstandards seinem Flüchtling unzumutbar machen könnten, den Schutz dieses Landes in Anspruch zu nehmen. Hierfür spricht, dass die Genfer Konvention wesentlicher Bestandteil des der Richtlinie zugrundeliegenden internationalen Schutzes und des Flüchtlingsbegriffes ist. Nach Art. 1 C Nr. 5 und 6 GK ("Wegfall der Umstände"-Klausel) fällt eine Person nicht mehr unter die Bestimmungen der GK, wenn sie es nach Wegfall der Umstände, aufgrund derer sie als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt. Hierbei wird jedoch unterstellt, dass die Bestimmungen dieser Ziffer auf keinen Flüchtling Anwendung findet, der sich auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Inanspruchnahme des Schutzes seines Heimatlandes abzulehnen. Diese Bestimmung ist inhaltlich umgesetzt worden in § 73 AsylVfG.

Zwingende, auf früherer Verfolgung beruhende Gründe liegen vor, wenn Flüchtlinge oder ihre Familienangehörigen einer außergewöhnlichen menschenverachtenden Verfolgung ausgesetzt waren und deshalb von ihnen eine Rückkehr in Ihr Heimatland nicht erwartet werden kann. Nach den UNHCR-Richtlinien zum internationalen Schutz fallen hierunter insbesondere Personen, die Opfer von Gewalt waren oder Gewaltanwendungen gegen Familienmitglieder ansehen mussten. Solche Gründe sind weiter anzunehmen, wenn schwere physische und psychische Schäden vorliegen, die infolge der bereits erlittenen politischen Verfolgung entstanden sind und sich bei einer Rückkehr in die Heimat verschlechtern würden (GK-AsylVfG, Stand Juni 2006 § 73 Rdnr. 62 unter Hinweis auf Hess. VGH, Beschluss vom 28.05.2003 - 12 ZU 2805/02.A).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist vorliegend der Verweis auf eine interne Schutzalternative nicht zumutbar. Die Klägerin hat nicht nur als schwangere Frau in erheblichem Umfange und zu wiederholten Malen Eingriffe in ihre körperliche Unversehrtheit hinnehmen müssen, sondern sie ist darüber hinaus durch ihren Bruder und die wahabitische Gruppe konkret damit bedroht worden, als Selbstmordattentäterin ausgebildet zu werden. Sie musste damit rechnen, gegen ihren Willen in den Tod geschickt zu werden. Darüber hinaus ist ihr Konflikt mit ihrem Bruder und dessen wahabitischem Umfeld der Anlass für das besonders schwere Verfolgungsschicksal ihres Ehemannes, des Klägers zu 2) gewesen. Dieser ist ebenfalls mehrfach zusammengeschlagen und dann gleichsam als Ersatzmann für die Klägerin zu 1), deren Flucht ihm zur Last gelegt wurde, monatelang in einem Lager der Wahabiten gefangen gehalten worden. Dabei ist er auf schwerste Art misshandelt worden. Man hat ihm zweimal den Kiefer gebrochen und ihn in vielfältiger Hinsicht misshandelt und entwürdigt. U.a. haben wahabitische Kämpfer auf ihn uriniert und ihn wie einen Hund behandelt. Die ihm zugefügten Verletzungen - insbesondere der Bruch des Kiefers - ist zudem nicht fachgerecht versorgt worden. Ohne dass es hierauf noch entscheidend ankommt, kommt darüber hinaus für die Klägerin zu 1) hinzu, dass ihre Gesundheit angeschlagen ist. Sie musste sich in der Vergangenheit in psychiatrische Behandlung begeben und ist auch derzeit ausweislich der Atteste der Fachärztin für Allgemeinmedizin, ... und der Fachärztin für Frauenheilkunde, ... schonungsbedürftig und muss mit einer antidepressivem Therapie medikamentös behandelt werden. Insgesamt ist unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalles bei der Klägerin in Anwendung der oben aufgezeigten Maßstäbe eine Inanspruchnahme der internen Schutzalternative nicht zumutbar. [...]

Die Klage des Klägers zu 2) konnte hingegen keinen Erfolg haben. Sie ist unzulässig. Der Kläger hat die Klagefrist des § 74 Abs. 1 AsylVfG nicht eingehalten. [...]

Der Kläger kann nicht geltend machen, den Bescheid seinerzeit in der Aufnahmeeinrichtung nicht erhalten zu haben. Der Bescheid vom 07.12.2005 ist am 09.12.2005 an die Aufnahmeeinrichtung ... zwecks Zustellung übersandt worden.

Ausweislich des Zustellungsvermerks (Blatt 54 der Beiakte "B") ist am 12. Dezember 2005, am 13. Dezember 2005 und am 14. Dezember 2005 ein persönlicher Zustellversuch unternommen worden. Der Kläger ist jedoch nicht angetroffen worden. Damit muss der Kläger die Zustellungsfiktion des § 10 Abs. 2 AsylVfG gegen sich gelten lassen. Gemäß § 10 Abs. 1 AsylVfG hat der Ausländer während der Dauer des Asylverfahrens vorzusorgen, dass ihm Mitteilungen des Bundesamtes, der zuständigen Ausländerbehörde und der angerufenen Gerichte stets erreichen können; insbesondere hat er jeden Wechsel seiner Anschrift den genannten Stellen unverzüglich anzuzeigen. Gemäß § 10 Abs. 2 AsylVfG muss der Ausländer Zustellungen und formlose Mitteilungen unter der letzten Anschrift, die der jeweiligen Stelle aufgrund seines Asylantrages oder seiner Mitteilung bekannt ist, gegen sich gelten lassen, wenn er für das Verfahren weder einen Bevollmächtigten bestellt noch einen Empfangsberechtigten benannt hat oder diesem nicht zugestellt werden kann. In einer Aufnahmeeinrichtung hat diese Zustellungen und formlose Mitteilungen an die Ausländer, die nach Maßgabe des Abs. 2 Zustellungen und formlose Mitteilungen unter der Anschrift der Aufnahmeeinrichtung gegen sich gelten lassen müssen, vorzunehmen. Postausgabe- und Postverteilungszeiten sind für jeden Werktag durch Aushang bekannt zu machen. Der Ausländer hat sicherzustellen, das ihm Posteingänge während der Postausgabe- und Postverteilungszeiten in der Aufnahmeeinrichtung ausgehändigt werden können. Zustellungen und formlose Mitteilungen sind mit der Aushändigung an den Ausländer bewirkt; im Übrigen gelten sie am dritten Tag nach Übergabe an die Aufnahmeeinrichtung als bewirkt (§ 10 Abs. 4 AsylVfG). Nach diesen Grundsätzen gilt der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes am dritten Tage nach Übergabe des Bescheides an die Aufnahmeeinrichtung als bewirkt. Anders wäre es nur, wenn der Kläger nicht gemäß § 10 Abs. 7 AsylVfG ordnungsgemäß belehrt worden wäre. Ein solcher Fall liegt nicht vor. [...] Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die von der Aufnahmeeinrichtung bei der Postverteilung zu beachtenden Vorschriften nicht eingehalten worden sind, sind nicht ersichtlich. [...] Bei dieser Sachlage kommt eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 60 Abs. 1 VwGO nicht in Betracht. Nach dieser Vorschrift ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Angesichts der ihm erteilten Belehrung hätte der Kläger jedoch darauf achten müssen, Bescheide, die in der Aufnahmeeinrichtung zum Zwecke der Zustellung an ihn übersandt wurden, jederzeit erhalten zu können. [...]