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VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 16.09.2008 - 22 K 3857/07.A - asyl.net: M14688
https://www.asyl.net/rsdb/M14688
Leitsatz:

Keine extreme allgemeine Gefahrenlage für Angehörige ethnischer Minderheiten im Kosovo.

 

Schlagwörter: Kosovo, Widerruf, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Serben, Bosniaken, Gorani, Roma, Ashkali, Ägypter, Märzunruhen, Übergriffe, inländische Fluchtalternative, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Ermessen, subjektives Recht
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 3; AufenthG § 60 Abs. 7; AsylVfG § 73 Abs. 2a
Auszüge:

Keine extreme allgemeine Gefahrenlage für Angehörige ethnischer Minderheiten im Kosovo.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die zulässige Klage ist nicht begründet. [...]

Die Widerrufsentscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge findet in § 73 Abs. 3 AsylVfG eine hinreichende Rechtsgrundlage. [...]

Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kommt wegen der dort genannten Gefahren grundsätzlich nur bei einer individuellen Gefahrenlage in Betracht. Berufen sich Asylsuchende lediglich auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, die nicht nur ihnen persönlich, sondern ihrer Bevölkerungsgruppe im Zielland allgemein drohen, ist Abschiebungsschutz auch für den Einzelnen ausschließlich durch eine generelle Regelung gemäß § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu gewähren. [...] Nur dann, wenn dem einzelnen Ausländer Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht zusteht, er aber gleichwohl nicht abgeschoben werden darf, weil die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wegen einer extremen Gefahrenlage die Gewährung von Abschiebungsschutz unabhängig von einer Ermessensentscheidung nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gebieten, ist § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG verfassungskonform dahin einschränkend auszulegen, dass eine Entscheidung nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht ausgeschlossen ist (vgl. zur früheren Regelung in §§ 53 Abs. 6, 54 AuslG: BVerfG, Beschluss vom 21. Dezember 1994 - 2 Bvl 81 und 82/92 NVwZ 1995, 781; BVerwG, Urteile vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 199 und vom 19. November 1996 - 1 C 6.95 -, NVwZ 1997, 685; OVG NW, Beschlüsse vom 16. November 1998 - 13 A4113/98.A-, NVwZ 1999, Beilage Nr. 4, S. 34 und vom 10. November 1999 - 13 A 2575/94.A -). [...]

Eine erhebliche Gefahrenlage für Angehörige ethnischer Minderheiten wie Serben, Ashkali oder Roma kann die Kammer derzeit nicht feststellen. Eine solche Lage kann nur angenommen werden, wenn sie dem Angehörigen der ethnischen Minderheit überall in seinem Heimatland droht. Gibt es jedoch Gebiete, in denen er ungefährdet leben kann, so ist ihm der Schutz des § 60 Abs. 7 AufenthG verwehrt. Dies folgt schon aus dem Wortlaut der Vorschrift: § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG setzt voraus, dass die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, Gefahren in diesem Staate allgemein ausgesetzt ist. Daran fehlt es, wenn die Gefahren nicht auf dem gesamten Gebiet des Staates drohen, also die Gefahrenlage örtlich begrenzt ist.

So stellt sich die Lage im Kosovo jedenfalls zur Zeit dar: War sie nach dem Einmarsch der KFOR in den Kosovo zunächst davon geprägt, dass Angehörige ethnischer Minderheiten einem starken Vertreibungsdruck und häufigen gewalttätigen Übergriffen von Albanern ausgesetzt waren (vgl. etwa Gesellschaft für bedrohte Völker: Unter den Augen der KFOR, Stand März 2000, Abschnitt 3, S. 8 ff; AA, ad-hoc-Bericht vom 8. Dezember 1999) und dass die Zahl der Angehörigen der Minderheiten deshalb durch Flucht und Aussiedlung stark abnahm (vgl. Situationsbericht Oktober/November 1999 der Informationsstelle von Caritas und Diakonie in Prishtina vom 26. November 1999), so ist die Lage der Minderheiten in den einzelnen Stadtgebieten und Regionen sehr unterschiedlich (vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 10. Februar und 4. November 2004).

Für die Serben gilt folgendes: Nach Abzug der Abwanderung im Jahre 2002 verblieb im Kosovo erstmals ein positiver Saldo von etwa zurückgekehrten 1000 Serben. Es gibt nämlich durchaus Städte und Dörfer, in denen Angehörige der Minderheiten vor Übergriffen sicher sind. Die Informationsstelle der Deutschen Caritas und Diakonie weist darauf hin, dass die Angriffe auf Serben relativ selten seien, weil es keine Berührungspunkte gebe, eine Rückkehr von Serben in Enklaven sei immer möglich (vgl. Informationsstelle der Deutschen Caritas und Diakonie in Prishtina, Sonderbericht Februar 2003). [...]

Auch für die kosovarischen Bosniaken hat sich die Sicherheitslage durch das Engagement von UNMIK und KFOR wesentlich gebessert. Sie leben zum Teil in konzentrierten Gemeinden und haben keine volle Bewegungsfreiheit (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 10. Februar 2004).

Der UNHCR hält die freiwillige Rückkehr von Bosniaken und Gorani an bestimmte Orte wegen der allgemeinen Verbesserung der Bedingungen für möglich (vgl. UNHCR-Position zur fortdauernden Schutzbedürftigkeit von Personen aus dem Kosovo, Januar 2003, Nr. 8).

Auch die Sicherheitslage von Roma, Ashkali und Ägyptern hat sich durch die Unruhen im März 2004 nicht derart verschärft, dass auch heute noch - Jahre nach den Unruhen - von einer extremen Gefährdung ihrer Angehörigen überall im Kosovo gesprochen werden kann. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob das Ausbleiben weiterer Ausschreitungen seit März 2004 auf der Verstärkung der KFOR-Truppen, härterem Durchgreifen der UNMIK-Polizei - mehr als 200 Personen wurden laut letztem Lagebericht des AA nach den Unruhen vorläufig festgenommen - oder anderen Gründen beruht. Maßgeblich ist allein, dass die sicherheitsrelevante Lage seit Jahren als im wesentlichen ruhig - wenngleich nicht stabil - bezeichnet werden kann (so schon AA: Lagebericht vom 4. November 2004 unter Hinweis auf KFOR-Auskünfte).

Angesichts dieses Zeitraums ohne größere Übergriffe auf Minderheitsangehörige kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht von einer extremen Gefahr i.S. der genannten Rechtsprechung ausgegangen werden.

Dies zeigt, dass es derzeit hinreichend sichere Orte und ländliche Regionen im Kosovo für alle Minderheiten gibt. Allerdings heißt dies nicht, dass die Minderheiten in den sicheren Gebieten auch in den Genuss der Minderheitenrechte kämen: Nach den der Kammer zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen sind dort zwar Leben, Gesundheit und Freiheit der Angehörigen der Minderheiten nicht gefährdet. Dies gilt nicht in gleichem Umfang für die Bewegungsfreiheit außerhalb der einigermaßen geschlossenen Siedlungsgebiete der jeweiligen Minderheit, für den Zugang zum Arbeitsmarkt, erst recht nicht für den Zugang zu öffentlichen Ämtern, wenn auch Angehörige der Minderheiten im Einzelfall durchaus Richter und Polizisten sein können (vgl. etwa Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 10. Februar 2004).

§ 60 Abs. 7 AuslG schützt jedoch nicht vor Gefährdungen dieser Rechtsgüter des Ausländers. Dies gilt auch im Hinblick auf die medizinische Versorgungslage im Kosovo. Die dem Kläger als notwendig attestierte medizinische Behandlung ist im Kosovo hinreichend durchführbar. [...]

Im Bereich der Krankenversicherung besteht im Kosovo eine gesetzliche Pflichtversicherung. Gemeldete anerkannte Arbeitslose und anerkannte Sozialhilfeempfänger und deren Familienangehörige sind versichert, zahlen aber keine Versicherungsbeiträge. Sie werden de facto weitgehend kostenfrei behandelt. Invaliden, Empfänger sozialhilfeähnlicher Leistungen, chronisch Kranke, Kinder bis zum 10. Lebensjahr und Personen über 65 Jahren - wie der Kläger - sind überdies von Zuzahlungen befreit (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Kosovo, vom 29. Juni 2006).

Dies trifft auch auf Angehörige der Volksgruppe der Roma zu, das öffentliche Gesundheitswesen steht grundsätzlich allen Ethnien offen (vgl. schon Auswärtiges Amt, Lagebericht Jugoslawien vom 6. Februar 2002 sowie Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Pristina an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 22. Mai 2008). [...]

Ob das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gem. § 73 Abs. 3 AsylVfG den Widerruf unverzüglich ausgesprochen hat, ist nicht entscheidungserheblich. Die Pflicht zum unverzüglichen Widerruf ist dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht im Interesse des einzelnen Ausländers als Adressaten des Widerrufsbescheides, sondern ausschließlich im öffentlichen Interesse an der alsbaldigen Beseitigung einer ihm nicht (mehr) zustehenden Rechtsposition auferlegt. [...]

Gleiches gilt, soweit § 73 Abs. 2 a Satz 1 AsylVfG bestimmt, dass die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf nach Absatz 1 oder eine Rücknahme nach Absatz 2 vorliegen, spätestens nach Ablauf von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Entscheidung zu erfolgen hat. § 73 Abs. 2a AsylVfG (AsylVfG 1992) ist auf vor dem 1. Januar 2005 wirksam gewordene Entscheidungen über Widerruf bzw. Rücknahme einer Anerkennung als Asylberechtigter oder der Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (AuslG 1990) vorliegen, nicht anwendbar (vgl. Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 14. April 2005 - 13 A 654/05.A -; des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs München vom 25. April 2005 - 21 ZB 05.30260 - und vom 10. Mai 2005 - 23 B 05.30217 -; des VG Göttingen vom 26. April 2005 - 2 A 222/04 -, des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 17. Mai 2005 - 7 ZU 345/05.A -; des VG Aachen vom 4. Januar 2005 - 9 K 3421/04.A -; des VG Karlsruhe vom 17. Januar 2005 - A 2 K 12256/03 -, vom 10. März 2005 - A 2 K 12193/03 -, vom 12. Juli 2005 - A 11 K 10245/05 - sowie vom 4. Februar 2005 - A 3 K 11689/04 -; des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 9. Februar 2005 - 10 K 193/03.A -; des VG Braunschweig vom 17. Februar 2005 - 6 A 524/04 -).

Überdies ist diese rechtssystematisch im Zusammenhang mit Einbürgerungsverfahren zu verstehende Vorschrift (vgl. § 73 Abs. 2 a Satz 4 AsylVfG) ebenfalls allein im öffentlichen Interesse an der alsbaldigen Beseitigung einer dem Asylberechtigten nicht (mehr) zustehenden Rechtsposition erlassen worden. Auf diese Weise soll u.a. für Einbürgerungsverfahren rascher Klarheit über den asylrechtlichen Status des Betreffenden erlangt werden (vgl. zur beabsichtigten Beschleunigung die Amtliche Begründung zum Entwurf des ursprünglichen Zuwanderungsgesetzes (Stand: 3. November 2001), S. 237, www.fluechtlingsrat-nrw.de/1503). [...]