VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 12.09.2008 - A 10 K 4461/07 - asyl.net: M14652
https://www.asyl.net/rsdb/M14652
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, PKK, Verdacht der Unterstützung, Menschenrechtslage, Änderung der Sachlage, Reformen, Glaubwürdigkeit, Rücknahme, Umdeutung
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. [...]

Auf der Grundlage der für die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter maßgeblichen Angaben, wegen der PKK-Unterstützung ins Blickfeld der Sicherheitskräfte geraten zu sein, kann auf absehbare Zeit nicht mit hinreichender Sicherheit davon ausgegangen werden, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse im Heimatstaat des Klägers so einschneidend und dauerhaft geändert haben, dass dieser ohne Verfolgungsfurcht heimkehren könnte.

Zwar haben sich, wie in dem angefochtenen Widerrufsbescheid im Einzelnen ausgeführt, die Verhältnisse in der Türkei insbesondere im Hinblick auf die Menschenrechtslage erheblich verbessert. Dennoch sind insbesondere im Hinblick auf die Einhaltung von Menschenrechten nach wie vor erhebliche Defizite in der tatsächlichen Umsetzung der Reformen zu verzeichnen. Trotz der von der türkischen Regierung proklamierten "Null-Toleranz-Politik" gegenüber Folter und menschenrechtswidrigen Maßnahmen in Polizeihaft kommt es nach wie vor zu Folter und Misshandlungen durch staatliche Kräfte, insbesondere in den ersten Tagen des Polizeigewahrsams, ohne dass es dem türkischen Staat bisher gelungen ist, dies wirksam zu unterbinden (vgl. Kaya, 25.10.2004 an OVG Münster, 10.09.2005 an VG Magdeburg und 08.08.2005 an VG Sigmaringen; Oberdiek, 02.08.2005 an VG Sigmaringen; Aydin, 25.06.2005 an VG Sigmaringen; ai, 20.09.2005 an VG Sigmaringen; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Zur aktuellen Situation, Mai 2006 und Oktober 2007). Auch das Auswärtige Amt weist im Lagebericht vom 25.10.2007 darauf hin, dass es noch nicht gelungen sei, Folter und Misshandlungen vollständig zu unterbinden. Der EU-Fortschrittsbericht der Kommission vom 09.11.2006 attestiert der Türkei zwar Fortschritte auch im Bereich der Justiz und der Menschenrechte. Die Türkei müsse aber in einigen Bereichen die Menschenrechtslage wesentlich verbessern. Noch immer werde - insbesondere außerhalb regulärer Haft - in der Türkei gefoltert. Die Einhaltung der Menschen- und Minderheitenrechte werde besonders in den Kurdengebieten nach wie vor europäischen Maßstäben nicht gerecht.

Weiter ist zwar seit Jahren kein Fall mehr bekannt geworden, in dem ein in die Türkei zurückgekehrter abgelehnter Asylbewerber in Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt wurde (vgl. AA, Lagebericht vom 25.10.2007). Gleichwohl ist nicht auszuschließen, dass Personen, auf die ein entsprechender Verdacht gefallen ist, nach wie vor im Innern der Türkei einer Folter in Form von physischen und psychischen Zwängen unterzogen werden (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, 23.02.2006; Taylan, 29.05.2006 an VG Wiesbaden; Kaya, 10.09.2005 an VG Magdeburg; ai, 15.11.2007 an VG Sigmaringen). Insoweit hat sich die Sachlage gegenüber den Verhältnissen zur Zeit des Ergehens des Bescheides vom 17.12.1997 nicht wesentlich geändert.

Übergriffe menschenrechtswidriger Prägung, und zwar unabhängig von der Frage, ob die der Vorverfolgung zugrundeliegenden Ereignisse noch zu einer strafrechtlichen Verfolgung führen können bzw. ob insoweit Verjährung eingetreten ist, sind nach wie vor nicht ausgeschlossen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die PKK ihre Ziele nunmehr wieder mit Waffengewalt verfolgt und massive Reaktionen des türkischen Militärs und der Sicherheitsbehörden erfolgen (vgl. AA, Lagebericht vom 25.10.2007). Angesichts dieser Lage drängt sich die Befürchtung auf, dass dem Ziel der Ergreifung und Verfolgung von Mitgliedern und Unterstützern der PKK auch unter Einsatz menschenrechtswidriger Mittel nachgegangen wird. Es deshalb kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Lage in der Türkei so wesentlich geändert hat, dass der Kläger ohne Verfolgungsfurcht heimkehren könnte.

Soweit die Beklagte im Schriftsatz vom 13.09.2007 an das Verwaltungsgericht darauf abgestellt hat, in einem ausländerrechtlichen Verfahren des Sohnes des Klägers (11 K 4306/04) habe die 11. Kammer des VG Stuttgart in einem Beschluss vom 29.06.2007 die Überzeugung geäußert, dass die Angaben des Klägers in seinem Asylverfahren nicht der Wahrheit entsprechen können, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Denn es ist für das erkennende Gericht nicht im Einzelnen nachvollziehbar, worauf die Überzeugungsbildung der 11. Kammer beruht. Die Beklagte hat hierzu nichts vorgetragen. Für das erkennende Gericht besteht auch keine Veranlassung, weitere Umstände zu ermitteln, die die Glaubhaftigkeit der Angaben des Klägers in seinem Asylverfahren in Frage stellen könnten. Derartige Umstände könnten nur Gegenstand eines Rücknahmeverfahrens nach § 73 Abs. 2 AsylVfG, nicht aber Gegenstand des vorliegenden Widerrufsverfahrens sein. Eine Umdeutung des Widerrufsbescheides in einen Rücknahmebescheid nach § 73 Abs. 2 AsylVfG kommt hier nicht in Betracht; da sich dessen Begründung auf völlig andere Erwägungen zu stützen hätte als die getroffene Widerrufsentscheidung (vgl. zur Umdeutung des Widerrufs eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG in eine Rücknahme nach § 73 Abs. 3 AufenthG: VG Stuttgart, U.v. 04.11.2003 - A 5 K 11945/03 -). Der Kläger ist zu den tatsächlichen Voraussetzungen, auf die eine Rücknahme gestützt werden müsste, nicht angehört worden. Sofern bei der Beklagten nachträgliche Zweifel an der Glaubhaftigkeit der die Anerkennung bewirkenden Angaben des Klägers entstanden sind, hat sie die Erkenntnisse, auf die sie ihre Zweifel zurückführt, darzulegen und den Kläger dazu anzuhören. Diese Voraussetzung kann im Rahmen einer Umdeutung nicht nachgeholt werden. [...]