[...]
Die als Untätigkeitsklage nach § 75 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – zulässige Klage ist nicht begründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rücknahme der Ausweisung vom 7. Mai 1998. Der dieses Begehren ablehnende Bescheid des Beklagten vom 23. März 2007 erweist sich daher als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO).
Der vom Kläger geltend gemachte Rücknahmeanspruch beurteilt sich nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsverfahrensgesetz – VwVfG –. Hiernach kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Vorliegend erweist sich die Ausweisung des Klägers vom 7. Mai 1998 zwar als rechtswidrig. Die vom Beklagten getroffene Ermessensentscheidung, die Ausweisung gleichwohl nicht zurückzunehmen, sondern lediglich deren Sperrwirkung auf den 31. August 2013 zu befristen, ist indessen aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Insbesondere kann der Kläger nicht mit Erfolg geltend machen, das dem Beklagten im Rahmen der Entscheidung über die Rücknahme dieses Verwaltungsaktes zustehende Ermessen habe sich zu seinen Gunsten auf "Null" verdichtet, so dass die Rücknahme der damaligen Ausweisung die einzig rechtmäßige Entscheidung sei.
Die als Regelausweisung verfügte Ausweisung des Klägers vom 7. Mai 1998 war wegen Verstoßes gegen europarechtliche Bestimmungen rechtswidrig. Dies ergibt sich bei Zugrundelegung der Rechtsprechung des EuGH (Urteile vom 29. April 2004 – Rs C – 482/01 und C – 493/01 –, Orfanopoulus und Oliveri, DVBl. 2004, 876) und der daran anknüpfenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 3. August 2004 – 1 C 30.02 –, BVerwGE 121, 297).
So ist zunächst davon auszugehen, dass der Kläger gemäß Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 EWG/Türkei in den Genuss der Rechtsstellung eines Berechtigten nach dieser Bestimmung gelangt ist. [...] Da diese Voraussetzungen im Falle des Klägers vorliegen, durfte er nach der vorstehend zitierten Rechtsprechung des EuGH und des Bundesverwaltungsgerichts nur auf der Grundlage des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 EWG/Türkei i.V.m. §§ 45, 46 AuslG a.F. im Wege einer behördlichen Ermessensentscheidung ausgewiesen werden. An einer solchen Ermessensentscheidung fehlte es bezüglich der Ausweisung vom 7. Mai 1998. [...]
Erweist sich die Ausweisung des Klägers vom 7. Mai 1998 nach alledem als rechtswidrig, so steht deren Rücknahme auf der Rechtsfolgenseite im pflichtgemäßen Ermessen des Beklagten. Die vom Beklagten getroffene Entscheidung, die Ausweisung dennoch nicht zurückzunehmen und gleichzeitig die Sperrwirkung dieser Ausweisung auf den 31. August 2013 zu befristen, ist frei von Ermessensfehlern. Denn der Beklagte hat mit dieser Entscheidung weder die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten, noch in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise hiervon Gebrauch gemacht (§ 114 Satz 1 VwGO).
Der Beklagte hat alle im Rahmen des § 48 Abs. 1 VwVfG abwägungsrelevanten Umstände in seine Entscheidung einbezogen. Hierzu gehört die Beantwortung der Frage, ob der Beklagte die Ausweisung auch verfügt hätte, wenn ihm seinerzeit bekannt gewesen wäre, dass hierüber nach Ermessen hätte entschieden werden müssen (vgl. VG Stuttgart, Urteil vom 23. Mai 2006 – 17 K 1214/05 –, zitiert nach juris). Diese Frage hat der Beklagte mit zutreffenden Argumenten bejaht und dies in seine Erwägungen einbezogen. Darüber hinaus hat er ebenso die Entwicklung und Lebensumstände des Klägers nach seiner Abschiebung bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im vorliegenden Verfahren in seiner Entscheidung berücksichtigt.
Zu Recht geht der Beklagte von der Prämisse aus, dass die Ausweisung des Klägers vom 7. Mai 1998 auch als Ermessensausweisung auf der Grundlage des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 EWG/Türkei i.V.m. §§ 45, 46 Nr. 2 AuslG a. F. rechtmäßig hätte verfügt werden dürfen. Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt ist insoweit die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des Tatsachengerichts. Dies war in Bezug auf die Ausweisung vom 7. Mai 1998 der 14. Februar 2000, das Datum der mündlichen Verhandlung im gegen die damalige Ausweisung gerichteten Verwaltungsrechtsstreit – 3 K 1004/99.KO –.
Nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 EWG/Türkei gilt der erste Abschnitt des Beschlusses, in dem sich unter anderem auch Art. 7 ARB befindet, vorbehaltlich der Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind. Grundsätzlich ist insoweit der gemeinschaftsrechtliche Standard für die Ausweisung von Gemeinschaftsangehörigen bzw. für die Feststellung des Verlusts der Freizügigkeitsrechte von Unionsbürgern nach § 6 Freizügigkeitsgesetz EU – FreizügG/EU – i.V.m. Art. 39 Abs. 3 EG auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige zu übertragen (Kloesel/Christ/Häußer, Deutsches Aufenthalts- und Ausländerrecht, Kommentar, Loseblattsammlung, Bd. 3, Nr. 381, Art. 14 ARB 1/80 EWG/Türkei, Rdn. 4 m.w.N.). Demzufolge ist die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen nur aus spezialpräventiven Gründen zulässig. Sie setzt voraus, dass eine tatsächliche und hinreichende Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und, dass gerade der Ausländer durch sein persönliches Verhalten Anlass zur Ausweisung gibt. Die Anforderungen an dieWahrscheinlichkeit neuer Verfehlungen dürfen danach nicht allzu gering bemessen werden (Kloesel/Christ/Häußer, a.a.O. Rdn. 6 bis 8 m.w.N.). Allerdings ist wegen des maßgeblichen Beurteilungszeitpunktes 14. Februar 2000 auf die damalige Ausweisung noch nicht der gesteigerte Prüfungsmaßstab der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 anzuwenden, wie er inzwischen seinen Niederschlag in § 6 Abs. 5 FreizügG/EU gefunden hat. Diese Richtlinie hat nämlich am 14. Februar 2000 noch nicht existiert.
Den so zu umreißenden Prüfungsmaßstab hat der Beklagte erkennbar seiner Entscheidung zugrunde gelegt. [...]
Der Kläger erfüllte zunächst am 14. Februar 2000 die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 46 Nr. 2 AuslG a.F., denn er hatte sich wiederholt strafbar gemacht und damit weder einen vereinzelten, noch einen geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen. [...]
Der Beklagte hat in diesem Zusammenhang zu Recht hervorgehoben, dass es sich bei den vom Kläger begangenen Straftaten – und dabei insbesondere betreffend die Drogendelikte – um schwerwiegende Straftaten gehandelt hat. [...]
Der Beklagte hat auch insoweit alle abwägungsrelevanten Umstände in seine Entscheidung einbezogen. Hierzu gehörten neben Art und Umständen der Tat und der zu besorgenden Wiederholungsgefahr alle in § 45 Abs. 1 und 2 AuslG a.F. nicht abschließend genannten Gesichtspunkte unter Beachtung der oben bereits näher beschriebenen Wertungsprärogative des Art. 14 Satz 1 ARB 1/80 EWG/Türkei. Diese Vorgaben hat der Beklagte beachtet. [...]
Auch die sonstigen persönlichen und wirtschaftlichen Bindungen des Klägers in Deutschland hat der Beklagte in Bezug auf den Beurteilungszeitpunkt 14. Februar 2000 zutreffend gewürdigt.
Dies gilt zunächst für die familiären Bindungen des Klägers im Bundesgebiet, die dem Schutzbereich des Art. 6 GG unterfallen. [...]
Auch die Aufenthaltsdauer und die daraus resultierenden schutzwürdigen Belange des Klägers auf Achtung des Privatlebens gemäß Art. 8 EMRK hat der Beklagte in Bezug auf den Beurteilungszeitpunkt 14. Februar 2000 zutreffend gewichtet und abgewogen.
Zwar griff die seinerzeitige Ausweisung des Klägers in den Schutzbereich dieser Bestimmung ein. Dieser Eingriff war aber nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt. [...]