VG Münster

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Zitieren als:
VG Münster, Beschluss vom 22.10.2008 - 8 L 481/08 - asyl.net: M14560
https://www.asyl.net/rsdb/M14560
Leitsatz:

Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Feststellung des Nichtbestehens des Rechts auf Einreise und Aufenthalt gem. § 7 Abs. 1 FreizügG/EU haben aufschiebende Wirkung.

 

Schlagwörter: D (A), Unionsbürger, Freizügigkeit, Nichtbestehensfeststellung, Recht auf Einreise und Aufenthalt, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; VwGO § 80 Abs. 1; FreizügG/EU § 7 Abs. 1; VwGO § 80 Abs. 2 Nr. 3; FreizügG/EU § 11 Abs. 2; AufenthG § 84 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 31 Abs. 2
Auszüge:

Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Feststellung des Nichtbestehens des Rechts auf Einreise und Aufenthalt gem. § 7 Abs. 1 FreizügG/EU haben aufschiebende Wirkung.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Der Antrag des Antragstellers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat Erfolg. [...]

Der Klage des Antragstellers kommt gem. § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufschiebende Wirkung zu. Sie richtet sich gegen die Vollziehung eines belastenden Verwaltungsakts, nämlich der (verbindlichen) Feststellung gem. § 7 Abs. 1 FreizügG/EU, dass ein Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht. Die aufschiebende Wirkung ist nicht nach § 80 Abs. 2 VwGO entfallen. Die Nummern 1 und 2 sowie Satz 2 der Vorschrift sind offensichtlich nicht einschlägig. Der Antragsgegner hat die sofortige Vollziehung auch nicht gem. § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO angeordnet.

Eine gesetzliche Anordnung des Wegfalls der aufschiebenden Wirkung nach Nr. 3 der Vorschrift ist ebenfalls nicht gegeben. § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO erfordert eine konkrete Regelung im Gesetz über den Wegfall der aufschiebenden Wirkung ("in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen").

Das FreizügG/EU trifft eine solche Regelung nicht. Ein Wegfall der aufschiebenden Wirkung ergibt sich nicht aus § 11 Abs. 2 FreizügG/EU i. V. m. § 84 Abs. 1 AufenthG. Nach § 11 Abs. 2 FreizügG/EU findet, soweit das Freizügigkeitsgesetz/EU keine besonderen Regelungen trifft, das Aufenthaltsgesetz Anwendung, wenn die Ausländerbehörde – wie hier – das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts festgestellt hat. § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG kommt aber nicht zur Anwendung, weil diese Vorschrift auf die Versagung eines Aufenthaltstitels und das damit einhergehende Erlöschen einer Duldungs- oder Aufenthaltstitelfiktion nach § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG zugeschnitten ist. Eine Feststellung im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ist damit nicht vergleichbar, da sie systematisch etwas anderes als die Ablehnung eines Aufenthaltstitels darstellt und eine – für das Aufenthaltsgesetz spezifische – Fiktionswirkung nicht auslösen kann (vgl. Harms in: Storr/Wenger/Eberle/Albrecht/Harms, Kommentar zum Zuwanderungsrecht, Aufenthaltsgesetz und Freizügigkeitsgesetz/EU, 2. Aufl., Stuttgart 2008, § 7 FreizügG/EU, Rdnr. 5). Eine entsprechende Anwendung des § 84 Abs. 1 Satz 1 AufenthG auf die Feststellung nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ist nicht möglich, weil § 11 Abs. 2 AufenthG gerade keine entsprechende, sondern eine direkte Anwendung des Aufenthaltsgesetzes vorsieht und für eine Analogie auch kein Bedürfnis besteht, wie sich aus den nachstehenden Erwägungen ergibt.

Ein Entfallen der aufschiebenden Wirkung ergibt sich nicht aus dem gesetzessystematischen Zusammenhang. Abgesehen davon, dass das Gesetz den Wegfall der aufschiebenden Wirkung ausdrücklich und eindeutig vorsehen müsste (vgl. BayVGH, Beschl. v. 29. Juli 1976 – Nr. 99 IX/76 –, NJW 1977, 166; Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 15. Aufl., München 2007, § 80 VwGO, Rdnr. 65), lässt er sich insbesondere nicht aus § 7 Abs. 1 FreizügG/EU ableiten.Wird ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt, darf zwar nach § 7 Abs. 1 Satz 5 FreizügG/EU die Abschiebung nicht erfolgen, bevor über den Antrag entschieden wurde. Dass in Satz 5 der Vorschrift ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO erwähnt ist, setzt aber nicht das Entfallen der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO voraus. Satz 5 macht auch Sinn, wenn er sich allein auf den Fall bezieht, dass die Behörde die Feststellung über das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts mit einer Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO verknüpft hat (vgl. auch Hoppe in: HTK-AuslR, § 7 FreizügG/EU, zu Abs. 1 06/2008, Nr. 1.3 und 4.1; noch weitergehend Geyer in: Hofmann/Hoffmann, Ausländerrecht, Handkommentar, Baden-Baden 2008, § 7 FreizügG/EU, Rdnr. 7).

§ 7 Abs. 1 Satz 5 FreizügG/EU soll Art. 31 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, umsetzen. Wird neben dem Rechtsbehelf gegen die die Ausreisepflicht begründende Entscheidung auch ein Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt, um die Vollstreckung dieser Entscheidung auszusetzen, so darf nach Art. 31 Abs. 2 der Richtlinie die Abschiebung aus dem Hoheitsgebiet nicht erfolgen, es sei denn, dass ein in der Vorschrift bezeichneter Ausnahmefall vorliegt. Die Richtlinie und damit auch § 7 Abs. 1 Satz 5 FreizügG/EU setzen aber die (nationalen) Regelungen zum vorläufigen Rechtsschutz voraus. Damit gelten im Rahmen des § 7 Abs. 1 Satz 5 FreizügG/EU der Regelfall der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsmittels gem. § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO und die im nationalen System der Verwaltungsgerichtsordnung vorgesehenen Ausnahmefälle des § 80 Abs. 2 VwGO; weder die Richtlinie noch § 7 Abs. 1 Satz 5 FreizügG/EU begründen darüber hinaus einen zusätzlichen Ausnahmefall.

Diese Auslegung passt in das System des durch das Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007 geänderten § 7 FreizügG/EU. Die Änderung soll bezwecken, dass die Ausreisepflicht für Unionsbürger nicht erst – wie vor der Änderung – mit der Unanfechtbarkeit der Feststellungsentscheidung entsteht, sondern bereits mit der Feststellungsentscheidung selbst (vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 211).

Damit wird aber nur die Ausreisepflicht vorverlagert, nicht jedoch deren Vollziehbarkeit. Für die Vollziehbarkeit einer Entscheidung nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU hat sich durch das Richtlinienumsetzungsgesetz nichts geändert. Die Ausreisepflicht kann – mangels ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung – weiterhin nach allgemeinen verwaltungsvollstreckungsrechtlichen Grundsätzen erst vollstreckt werden, wenn der sie begründende Verwaltungsakt – hier also die Nichtbestehensfeststellung – entweder bestandskräftig oder sofort vollziehbar kraft behördlicher Anordnung (§ 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) ist. Dass der Gesetzgeber selbst davon ausgeht, dass die Entscheidung nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU außer in den Fällen der behördlichen Anordnung der sofortigen Vollziehung aufschiebende Wirkung hat, ergibt sich aus der Gesetzesbegründung zu § 7 Abs. 1 Satz 5 FreizügG/EU. Dort führt er an, mit der Änderung (durch das Richtlinienumsetzungsgesetz) werde das Entstehen der Ausreisepflicht zeitlich vorverlagert. Die Ausreisepflicht könne dann sofort durchgesetzt werden, es sei denn, es würden Rechtsmittel eingelegt (BT-Drs. 16/5065, S. 211).

Damit trennt der Gesetzgeber deutlich zwischen Entstehen der Ausreisepflicht und deren Vollziehbarkeit. Allein das Entstehen der Ausreisepflicht wird vorverlagert, nicht aber die Vollziehbarkeit. Dass bei Einlegung eines Rechtsmittels – hier der Klage des Antragstellers – die Ausreisepflicht nicht sofort durchgesetzt werden kann, macht nur Sinn, wenn dem Rechtsmittel im Regelfall aufschiebende Wirkung zukommt.

Das mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz in bezug auf § 7 Abs. 1 FreizügG/EU verfolgte gesetzgeberische Ziel, die durch die frühere Anknüpfung an die Unanfechtbarkeit bedingte zeitliche Verzögerung für eine Aufenthaltsbeendigung zu beseitigen, wird durch das dargelegte Verständnis der Vorschrift weiterhin erreicht. Erst die Änderung des § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ermöglicht es der Ausländerbehörde, durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung gem. § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht herzustellen; zuvor war ihr dies verwehrt, weil schon die Ausreisepflicht (und erst recht deren Vollziehbarkeit) zwingend an die Unanfechtbarkeit der Feststellung anknüpfte.

Dem steht nicht entgegen, dass gem. § 7 Abs. 1 Satz 3 FreizügG/EU bereits im Bescheid die Abschiebung angedroht werden soll. Die Abschiebungsandrohung setzt nach § 58 Abs. 2 AufenthG – anders als unter Geltung des Ausländergesetzes – nicht die Vollziehbarkeit des Grundverwaltungsakts voraus. Erst für die Vollstreckungsmaßnahme der Abschiebung muss die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht vorliegen. § 58 Abs. 2 AufenthG sieht nämlich eine Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht nur in dem Fall vor, dass eine nach § 50 Abs. 2 AufenthG gesetzte Ausreisefrist abgelaufen ist. Aus dem systematischen Kontext beider Vorschriften ist im Hinblick auf die Aussage des § 58 Abs. 2 AufenthG die Folge zu ziehen, dass eine Abschiebungsandrohung mit Fristsetzung schon dann erlassen werden kann, wenn der Ausländer (nur) ausreisepflichtig ist. Es erscheint nicht sinnvoll, wenn die Frist für eine freiwillige Ausreise erst in dem Zeitraum zu laufen beginnt, in dem die Ausreisepflicht bereits vollziehbar ist und mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden könnte (vgl. VGH BW, Urt. v. 29. April 2003 – 11 S 1188/02 –; Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, 59. Aktualisierung, Heidelberg August 2008, § 59 AufenthG, Rdnr. 13 ff. m.w.N.; ausführlich Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, 29. Aktualisierung, München August 2008, § 59 AufenthG, Rdnr. 25 ff.; Armbruster in: HTK-AuslR, § 59 AufenthG, Überblick 05/2008, Nr. 3; anders noch zu § 50 AuslG: BVerwG, Urt. v. 22. Dezember 1997 – 1 C 14.96 –, NVwZRR 1998, 681).

Insofern hat der Gesetzgeber in § 7 Abs. 1 Satz 3 FreizügG/EU die Konzeption der §§ 58 Abs. 2, 59 AufenthG entsprechend fortgeschrieben. [...]