OVG Rheinland-Pfalz

Merkliste
Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 31.10.2008 - 10 A 10215/08.OVG - asyl.net: M14474
https://www.asyl.net/rsdb/M14474
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung eines Aktivisten der DHKP-C.

 

Schlagwörter: Türkei, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Aktivisten, Mitglieder, DHKP-C, TAYAD, THKP-C, Folter, Misshandlung, Sippenhaft, Verfolgungssicherheit, Grenzkontrollen, Situation bei Rückkehr, Terrorismus, Terrorismusvorbehalt
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 8
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung eines Aktivisten der DHKP-C.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Berufung ist zulässig und begründet. Das Verwaltungsgericht hätte die Klage, soweit sie Gegenstand des Berufungsverfahrens ist, nicht abweisen dürfen, da der Kläger die Feststellung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1, 4, 5 und 6 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 sowie Art. 7 bis 10 der QualRL und § 31 Abs. 2 AsylVfG wegen eines für ihn hinsichtlich der Türkei bestehenden Abschiebungsverbotes verlangen kann.

[...]

Dabei ist vorliegend zunächst davon auszugehen, dass dem Kläger der für Vorverfolgte geltende herabgesetzte Wahrscheinlichkeitsmaßstab zu Gute zu bringen ist, da er im März 2007 seine Heimat als unmittelbar von politischer Verfolgung Bedrohter verlassen hat. Dem liegt zu Grunde, dass nach der den Beteiligten bekannten Rechtsprechung des Senates Aktivisten der in der Türkei verbotenen, die Verfassung und die Grundordnung des türkischen Staates bedrohenden gewaltbereiten linksextremistischen Organisationen wie gerade auch der DHKP-C Gefahr laufen, im Falle einer Festnahme als ernst zu nehmende und mit allen Mitteln zu bekämpfende politische Gegner aus Gründen ihres missliebigen ideologischen Standortes Opfer schwerwiegender Übergriffe bis hin zu Misshandlungen und Folterungen zu werden (vgl. dazu Urteil vom 6. Dezember 2002 - 10 A 10089/02.OVG - m.w.N.). An dieser Einschätzung hat sich bis zum Zeitpunkt der Ausreise des Klägers Anfang des Jahres 2007 ungeachtet der Bestrebungen des türkischen Staates nach einer weiteren Demokratisierung und Stärkung der Rechtsstaatlichkeit nichts geändert. Wie sich insofern aus den in das Verfahren eingeführten Erkenntnissen ergibt, hatte es in Sonderheit im Jahr 2004 verschiedentlich Aktionen gegen die in der DHKP-C organisierten Linksextremisten wie auch gegen die Aktivisten des mit dieser Organisation verbundenen Vereins TAYAD gegeben, wobei diese Aktionen vielfach mit gewaltsamen Übergriffen einhergegangen waren, ohne dass sich feststellen lässt, dass der türkischen Staat derartigen Repressalien mit der gebotenen Entschlossenheit begegnet wäre (vgl. dazu NZZ vom 2. April 2004, IMK vom 14. März bis 20. April 2004 sowie vom 21. April bis 20. Mai 2004, Kaya vom 17. November 2005, FAZ vom 24. Februar 2006, taz vom 29. Dezember 2006). Insofern kann aber nicht zweifelhaft sein, dass auch der Kläger mit großer Wahrscheinlichkeit mit entsprechenden verfolgungsrelevanten Repressalien überzogen worden wäre, wenn die türkischen Sicherheitskräfte im Rahmen ihrer Anfang 2007 nach ihm eingeleiteten Suche seiner Person habhaft geworden wären, erfolgte diese doch vor dem Hintergrund der Festnahme seiner früheren Ehefrau als Gebietsleiterin der THKP-C und nach der Aufdeckung des in seiner Wohnung aufgefundenen Waffenlagers wie aber auch seiner eigenen langjährigen Aktivitäten für den Verein TAYAD. Dass die Sicherheitskräfte seinerzeit sogar von einer Mitverstrickung des Klägers in dieses Engagement seiner Ehefrau ausgegangen sein dürften, erscheint dabei auch deshalb naheliegend, weil beide schon vor ihrer Verheiratung im Jahr 2002 wegen gemeinsamer politischer Aktivitäten zusammen verhaftet worden waren. [...]

Als hiernach vorverfolgt Ausgereistem wäre dem Kläger die Rückkehr in die Türkei nur zuzumuten, wenn für ihn die Gefahr einer ihm erneut drohenden politischen Verfolgung mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden könnte. Eine solche Feststellung läst sich indes nicht treffen. Insofern ist vielmehr zu besorgen, dass der Kläger als nicht durch entsprechende Dokumente ausgewiesener, erfolglos gebliebener Asylbewerber bereits im Rahmen der Grenzkontrollen auffallen und einer näheren Überprüfung mit persönlicher Befragung sowie ergänzenden Rückfragen bei den zuständigen Sicherheitsbehörden überzogen werden wird. Im Rahmen dieser Überprüfung wird dann nicht nur seine Anfang 2007 erfolgte illegale Ausreise aus der Türkei aufgedeckt werden, sondern ebenso auch die Umstände, die seinerzeit zu dieser Ausreise geführt hatten. Selbst wenn der Kläger gemäß der eingeholten Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 1. September 2008 weder im Zusammenhang mit dem gegen seine Ehefrau geführten Ermittlungsverfahren noch wegen seiner eigenen früheren Aktivitäten unmittelbar gesucht wird, so werden sich die Sicherheitskräfte diese Gelegenheit dennoch nicht entgehen lassen, den Kläger wegen dieser Umstände genauer zu befragen und zu bedrängen, um so weitere Einzelheiten zu dem politischen Engagement seiner Ehefrau und dem in seiner Wohnung vorgefundenen Waffenlager bis hin zu einer diesbezüglichen etwaigen eigenen Verstrickung des Klägers in Erfahrung zu bringen. Diese Befragung dürfte dabei umso eindringlicher und damit auch um so eher mit schwerwiegenden Übergriffen verbunden sein, als der Kläger schon als Schüler ein entsprechendes gegen den türkischen Staat gerichtetes Engagement an den Tag gelegt hatte und sich von diesem weder durch seine wiederholten Verhaftungen und teilweise erheblichen Misshandlungen noch im Rahmen seiner Wehrdienstableistung hatte abbringen lassen. Statt dessen hatte er seine Aktivitäten ab dem Jahr 2002 an der Seite seiner späteren Ehefrau bzw. nach der Eheschließung zunächst sogar noch verstärkt, wobei es nunmehr sogar zu einem ersten Strafverfahren gegen ihn sowie in der Folgezeit auf Drängen der Polizei außerdem zum wiederholten Verlust seines Arbeitsplatzes gekommen war. Auch wenn der Kläger zuletzt nur noch als Mitläufer aktiv gewesen sein mag, so blieb er doch in seinem bisherigen politischen Umfeld weiterhin tätig, wie auch sich zudem seine Ehefrau nunmehr in gerade eben diesem Umfeld sogar noch radikalisierte. Von daher spricht viel dafür, dass die Sicherheitskräfte in ihm zumindest einen wichtigen Zeugen in dem gegen seine Ehefrau anhängigen Ermittlungsverfahren sehen werden bzw. ihm sogar eine Mittäterschaft bzw. Beihilfe in Bezug auf die Aktivitäten der Ehefrau für die DHKP-C und hier insbesondere im Hinblick auf das in seiner Wohnung angelegte Waffenlager anlasten werden, zumal sich dieses Verfahren immer noch in der Beweisaufnahme befindet. Dieser Sicht der Dinge steht auch nicht etwa der Umstand entgegen, dass der Stellungnahme des Auswärtigen Amtes zufolge sich in der Ermittlungsakte seiner Ehefrau nicht einmal sein Namen findet, erscheint dies doch insofern eher befremdlich, als das Waffenlager immerhin nicht nur in der letzten gemeinsamen Ehewohnung des Klägers und seiner Ehefrau aufgefunden worden war, sondern der Kläger nach wie vor deren Mieter geblieben und auch für deren Kosten weiterhin aufgekommen war.

Von daher aber lässt sich keinesfalls ausschließen, dass die Sicherheitskräfte im Rahmen ihres weiteren Vorgehens den Kläger gegebenenfalls auch mit einer verfolgungsrelevanten Behandlung überziehen werden, weil sie in ihm nicht nur einen besonders wichtigen Informanten, sondern zugleich auch ernstzunehmenden politischen Gegner des türkischen Staates sehen (vgl. dazu auch Urteil des Senates vom 10. März 2006 - 10 A 10665/05.OVG - sowie seinen Beschluss vom 19. Februar 2008 - 10 A 11086/07.OVG -). Nur am Rande sei erwähnt, dass dieser Betrachtungsweise auch nicht etwa entgegensteht, dass in den letzten Jahren in der Türkei kaum noch Fälle von Sippenhaft festgestellt worden sind (vgl. dazu Urteil des Senates vom 1. Dezember 2006 - 10 A 10887/06.OVG -). Tatsächlich geht es mit den vorliegend zu besorgenden Repressalien aus der Sicht der Sicherheitskräfte nicht so sehr darum, den Kläger wegen der politischen Aktivitäten seiner Ehefrau zu schikanieren oder ihn als einfachen Zeugen unter Druck zu setzen, sondern darum, ihn angesichts seiner eigenen Verstrickungen in die linksextremistische Szene, seiner gemeinsamen politischen Aktivitäten mit seiner früheren Ehefrau sowie seiner Mitwisserschaft wenn nicht gar Mittäterschaft hinsichtlich deren Engagements für die DHKP-C bis hin zur Anlegung eines Waffenlagers in der Ehewohnung zu drangsalieren.

[...]

Endlich steht der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu Gunsten des Klägers auch nicht der Ausschlusstatbestand des § 60 Abs. 8 AufenthG entgegen. Insofern unterfällt der Kläger zunächst nicht dessen Satz 1, 1. Alt., wonach § 60 Abs. 1 AufenthG keine Anwendung findet, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik anzusehen ist. Wie sich aus den bisherigen Ausführungen ergibt, hatte sich der Kläger zwar aufgrund seines Engagements zuletzt dem zum Einflussbereich der DHKP-C gehörenden Verein TAYAD angeschlossen; er hatte hiernach aber anders als seine Ehefrau, die sich innerhalb dieser Organisation zunehmend radikalisierte, in ihr Führungsaufgaben übernahm und schließlich sogar den bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat befürwortete, für sich eine solche Radikalisierung abgelehnt, woraufhin zuletzt sogar die Ehe zerbrach und der Kläger zu seiner Familie nach Istanbul zurückkehrte. Angesichts dessen kann des Weiteren auch nicht etwa davon die Rede sein, dass der Kläger mit seiner damaligen Annäherung an die DHPK-C die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 2 i. V. m. § 3 Abs. 2 AsylVfG erfüllt. [...]