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OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 18.11.2008 - 4 ME 323/08 - asyl.net: M14447
https://www.asyl.net/rsdb/M14447
Leitsatz:

Eine freiwillige Unterschutzstellung im Sinne des § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG setzt eine freie und bewusste Willensbildung und Willensbetätigung voraus, die fehlt, wenn der Ausländer zum Zeitpunkt der insofern in Betracht kommenden Handlung unzurechnungsfähig ist.

 

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Konventionsflüchtlinge, Verlängerung, Erlöschen, Flüchtlingsanerkennung, Unterschutzstellung, Zurechnungsfähigkeit, Hirnschaden
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; AufenthG § 25 Abs. 2; AsylVfG § 72 Abs. 1 Nr. 1
Auszüge:

Eine freiwillige Unterschutzstellung im Sinne des § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG setzt eine freie und bewusste Willensbildung und Willensbetätigung voraus, die fehlt, wenn der Ausländer zum Zeitpunkt der insofern in Betracht kommenden Handlung unzurechnungsfähig ist.

(Amtlicher Leitsatz)

 

[...]

Die nach § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG und § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO i.V.m. § 64 Abs. 4 Nds. SOG ausgeschlossene aufschiebende Wirkung der Klage ist nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO anzuordnen, da der genannte Bescheid der Antragsgegnerin, mit dem diese den Antrag des Antragstellers auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis abgelehnt und seine Abschiebung in den Iran angedroht hat, nach dem vorliegenden Sachstand und der im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung der Sachlage offensichtlich rechtswidrig ist und daher das Interesse des Antragstellers an einer Aussetzung der Vollziehung dieses Bescheides das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt.

Der Antragsteller hat nach der gegenwärtigen Sachlage einen Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis nach § 8 Abs. 1 i.V.m. § 25 Abs. 2 AufenthG, da die aufgrund eines Urteils des Verwaltungsgerichts Hannover vom 9. Mai 1994 (10 A 943/92) vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge durch Bescheid vom 17. Oktober 1994 getroffene Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (= § 60 Abs. 1 AufenthG) entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht gemäß § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG erloschen ist. Nach letzterer Vorschrift tritt diese Folge ein, wenn der Ausländer sich freiwillig durch Annahme oder Erneuerung eines Nationalpasses oder durch sonstige Handlungen erneut dem Schutz des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, unterstellt. Der Tatbestand des § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG setzt damit voraus, dass der Ausländer einen "Vorteil" seines Heimatstaates freiwillig annimmt, diese Handlung objektiv als Unterschutzstellung zu werten ist und aus dem Verhalten des Ausländers auf eine veränderte Einstellung zu seinem Heimatstaat geschlossen werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 2.12.1991 - 9 C 126.90 -, BVerwGE 89, 231, zu § 15 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG a. F.; GK-AsylVfG, Stand: Juni 2008, § 72 Rn. 18). Von einer freiwilligen Unterschutzstellung im Sinne dieser Vorschrift kann daher keine Rede sein, wenn der Ausländer zum Zeitpunkt der insofern in Betracht kommenden Handlung unzurechnungsfähig ist, da es in diesem Falle an einer freien und bewussten Willensbildung und Willensbetätigung fehlt (VG Arnsberg, Urteil vom 15.9.2006 - 12 K 1181/06.A -). Hier hat der Antragsteller zwar einen am 29. November 1999 ausgestellten iranischen Reisepass erhalten und in den Jahren 2000 bis 2006 in Begleitung seiner Ehefrau sieben Reisen in den Iran unternommen, doch ist er nach dem vorliegenden Sachverhalt im Zeitpunkt der Beantragung des Passes am 9. November 1999 und auch in der Folgezeit unzurechnungsfähig gewesen. Dies ergibt sich aus Folgendem:

Nach den von dem Antragsteller vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen vom 9. Oktober 2006, 27. März 2008, 8. April 2008, 28. April 2008 und 18. Oktober 2008 sind die bei dem Antragsteller festgestellten, seine Unzurechnungsfähigkeit begründenden psychischen Störungen und Ausfallerscheinungen auf einen Hirnschaden, den der Kläger als Folge einer Langzeitbeatmung nach einem laparoskopischen Eingriff mit erheblichen Komplikationen im Mai 1999 erlitten hat, zurückzuführen.

[...]