OLG Naumburg

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Zitieren als:
OLG Naumburg, Beschluss vom 15.08.2008 - 6 Wx 6/08 - asyl.net: M14444
https://www.asyl.net/rsdb/M14444
Leitsatz:

Das Landgericht hat im Beschwerdeverfahren gegen die Anordnung von Abschiebungshaft in der Regel den betroffenen Ausländer sowie seinen Ehegatten oder Lebenspartner anzuhören; durch die Vollstreckung von Strafhaft wird das Ende der Drei-Monats-Frist des § 62 Abs. 2 S. 4 AufenthG nicht hinausgezögert.

 

Schlagwörter: D (A), Abschiebungshaft, Verfahrensrecht, Anhörung, Landgericht, Beschwerde, Lebenspartner, Ehegatte, rechtliches Gehör, Verhältnismäßigkeit, Strafhaft, Überhaft
Normen: AufenthG § 62 Abs. 1; FreihEntzG § 5 Abs. 1; FreihEntzG § 5 Abs. 3; FGG § 12; GG Art. 103 Abs. 1; AufenthG § 62 Abs. 2 S. 4
Auszüge:

Das Landgericht hat im Beschwerdeverfahren gegen die Anordnung von Abschiebungshaft in der Regel den betroffenen Ausländer sowie seinen Ehegatten oder Lebenspartner anzuhören; durch die Vollstreckung von Strafhaft wird das Ende der Drei-Monats-Frist des § 62 Abs. 2 S. 4 AufenthG nicht hinausgezögert.

(Leitsatz der Redaktion)

 

1. Die nach den §§ 27 Abs. 1, 29 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4, 22 Abs. 1 FGG zulässige sofortige weitere Beschwerde des Betroffenen ist begründet.

2. Die Kammer hat es verfahrensfehlerhaft unterlassen, den Betroffenen mündlich anzuhören. Nach § 1 des Gesetzes über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen (FreihEntzG abgedruckt mit allen Änderungen in der Textsammlung Sartorius I, Verfassungs- und Verwaltungsgesetze, Nr. 617), die aufgrund Bundesrecht angeordnet werden, bestimmt sich das Verfahren nach diesem Gesetz, soweit das Bundesrecht das Verfahren nicht abweichend regelt. Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 FreihEntzG hat das Gericht die Person, der die Freiheit entzogen werden soll, mündlich zu hören. Das gerichtliche Verfahren bei Anordnung der Abschiebungshaft gem. § 62 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) ist durch dieses Gesetz nicht abweichend geregelt. Der Betroffene ist also mündlich zu hören. Die Anhörung kann nach § 5 Abs. 2 Satz 1 FreihEntzG unterbleiben, wenn sie nach ärztlichem Gutachten nicht ohne Nachteile für den Gesundheitszustand des Anzuhörenden ausführbar ist oder wenn der Anzuhörende an einer übertragbaren Krankheit leidet. Diese beiden Voraussetzungen sind in dem hier zu entscheidenden Fall nach den getroffenen Feststellungen zweifelsfrei nicht erfüllt. Deshalb bleibt es bei dem Grundsatz, dass Amtsrichter und Landrichter in gerichtlichen Verfahren bei Freiheitsentziehungen die Person, gegen die sie die Haft anordnen, persönlich anhören müssen. Der Amtsrichter hat den Betroffenen mit Hilfe eines Dolmetschers und im Beisein seines Verfahrensbevollmächtigten getreu dem Gesetz angehört. Die Kammer hat es unter Verstoß gegen die zwingende Vorschrift in § 5 Abs. 1 Satz 1 FreihEntzG unterlassen, den Betroffenen mündlich anzuhören. Sie hat nicht einmal dem Verfahrensbevollmächtigten Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben, bevor sie den Beschluss vom 29. Juli 2008 erlassen hat. Übrigens gilt für den Lebenspartner einer Person, der die Freiheit entzogen werden soll, das Gleiche wie für Ehepartner: Der Lebenspartner ist zu hören (siehe § 5 Abs. 3 Satz 2 und Satz 3 FreihEntzG). Der Betroffene hat seine Lebenspartnerin bei seiner mündlichen Anhörung durch den Amtsrichter namentlich genannt. In seinem Schreiben vom 20. Juli 2008 hat er die Lebenspartnerin gegen seine Inhaftierung ins Feld geführt. Sie ist weder schriftlich noch mündlich gehört worden.

3. Von einer erneuten mündlichen Anhörung durch das Beschwerdegericht kann im Freiheitsentziehungsverfahren nur abgesehen werden, wenn die Kammer ausnahmsweise ohne weiteres davon ausgehen kann, dass die mündliche Anhörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nichts zur Sachaufklärung beitragen kann. Davon kann in der vorliegenden Abschiebungshaftsache keine Rede sein. Auf keinen Fall darf es jedoch – wie es hier geschehen ist – zur Regel werden, einen Ausländer, der abgeschoben werden soll und den das Amtsgericht mündlich angehört hat, im Beschwerdeverfahren nicht nochmals persönlich mündlich anzuhören. Die Anhörung ist deshalb nötig, weil es nicht nur dem Amtsgericht, sondern auch dem Beschwerdegericht obliegt, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären (§ 12 FGG), dem Betroffenen das rechtliche Gehör zu gewähren (Art. 103 Abs. 1 GG) und sich einen persönlichen Eindruck von dessen Glaubwürdigkeit zu verschaffen (vgl. BayOblG, Beschluss vom 19. März 1992 – 3 ZBR 29/92 – NVwZ 1992, 814 f.; Beschluss vom 2. August 2001 – 3 ZBR 237/01 -, InfAuslR 2002, 314 f.; vgl. auch OLG Hamburg, Beschluss vom 3. Mai 2002 – 2 Wx 40/02 – und OLG Oldenburg, Beschluss vom 20. März 2002 – 5 W 40/02 – NdsRpfl 2002, 264; OLG Naumburg, Beschluss vom 24. Februar 2000 – 10 Wx 4/00 – FGPrax 2000, 211 f.; Beschluss des erkennenden Senats vom 27. Juli 2005 - 6 Wx 5/05; Senatsbeschluss vom 27. September 2005 – 6 Wx 7/05; Senatsbeschluss vom 30. Januar 2006 – 6 Wx 2/06; Senatsbeschluss vom 7. April 2006 – 6 Wx 6/06; Senatsbeschluss vom 10. Oktober 2006 – 6 Wx 14/06 – vorgehend 3 T 648/06 Landgericht Magdeburg; Senatsbeschluss vom 17. Juli 2007 – 6 Wx 6/07).

5. Falls der Betroffene inzwischen in einem Strafverfahren rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden sein sollte, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist, wird Folgendes zu erwägen sein:

Grundsätzlich kann Abschiebungshaft als so genannte Überhaft auch im Falle der Verbüßung der Strafhaft angeordnet werden (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 6. März 2000 – 20 W 525/99 – zitiert nach juris; OLG München, Beschluss vom 24. Mai 2005 – 34 Wx 52/05 – Rn 9 f zitiert nach juris). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Prognose, ob die Abschiebung innerhalb der nächsten drei Monate möglich erscheint, ist jedoch auch im Fall der Überhaft der Erlass der Haftanordnung, nicht der mutmaßliche Beginn des Vollzugs der Abschiebungshaft (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 24. Mai 2002 – 16 Wx 91/02 - zitiert nach juris; vgl. auch OLG München, aaO). Wenn die Abschiebungshaft für eine bestimmte Dauer angeordnet worden ist – wie hier für die Dauer von drei Monaten – ohne dass das Ende der Haft nach dem Kalender bestimmt ist, dann wird durch die Vollstreckung der Freiheitsstrafe, von der dem Gericht bei der Haftanordnung nichts bekannt war, das ursprünglich angeordnete Ende der Haftanordnung nicht ohne erneute gerichtliche Prüfung hinausgeschoben (vgl. Senatsbeschluss vom 11. Februar 2008 – 6 Wx 2/08 – unter Hinweis auf BayObLG – BReg 3 Z 181/91 – und OLG Düsseldorf – 3 Wx 202/07). Falls inzwischen Strafhaft gegen den Betroffenen vollstreckt werden sollte, was dem Amtsgericht Halberstadt bei Anordnung der Abschiebungshaft ja nicht bekannt war, würde das ursprünglich vorgesehene Ende der Abschiebungshaft (10. Oktober 2008) durch die Strafhaft nicht hinausgeschoben werden.